Handlungsorientierung (Fremdsprachenunterricht)
Handlungsorientierter Fremdsprachenunterricht ermöglicht es den Schülern, im Rahmen „authentischer“, d. h. unmittelbar-realer oder als lebensecht akzeptierbarer Situationen inhaltlich engagiert sowie ziel- und partnerorientiert zu kommunizieren, um auf diese Weise fremdsprachliche Handlungskompetenz(en) zu entwickeln. Im handlungsorientierten Fremdsprachenunterricht bekommen die Schüler also Gelegenheit, die neue, fremde Sprache - wie beim muttersprachlichen Spracherwerb - als Mittel zum sprachlichen Handeln zu erfahren und zu lernen (vgl. G. Bach & J.-P. Timm 2003; J.-P. Timm 1998, Kap. 1).
Handlungsorientierung
Handlungsorientierung kann unter einem Zielaspekt und einem Methodenaspekt definiert werden. Unter dem Zielaspekt besagt der Begriff, dass die Schüler fremdsprachliche Handlungskompetenz(en) zunächst für die schulische, darüber hinaus aber auch für die außer- und nachschulische Lebenswelt entwickeln sollen. Methodisch wird dieses Ziel über ein aufgaben- und prozessorientiertes learning by doing angegangen, bei dem die Schüler im Rahmen „authentischer“ Situationen bzw. Aufgabenstellungen inhaltlich engagiert sowie ziel- und partnerorientiert mündlich oder schriftlich handeln.
Hierzu ist es notwendig, den Unterricht für lebensnahe Kommunikations- und Lernprozesse zu öffnen – was eine in diese Richtung zielende Unterrichtsplanung natürlich nicht ausschließt. Im Gegenteil: Offenheit und Handlungsorientierung sind in der Schulsituation ja nicht von vornherein gegeben, sie müssen vielmehr geplant und konsequent angestrebt werden (s. u.).
Konkret erwächst sprachliches Handeln vor allem aus nicht oder möglichst wenig vorstrukturierten Lernsituationen und -materialien, die zur inhaltlichen und sprachlichen Auseinandersetzung anregen (z. B. Fotos, Graphiken, Songs, Gedichte, Kurzgeschichten, Nachrichten, Berichte, Dokumentationen, Broschüren, Briefe, Texte aus dem Internet, Lektüren) und die dabei Freiräume zum Umgang mit vertrauten und neuen sprachlichen Formen bieten (z. B. Partner- und Gruppenarbeit, Spiele, Stillarbeit, Frei- bzw. Wochenplanarbeit, Projektunterricht, "Lernen durch Lehren").
Das Konzept der Handlungsorientierung ist eng mit den Konzepten Öffnung des Unterrichts, Ganzheitlichkeit, Lernerorientierung, Inhaltsorientierung sowie Lern- bzw. Prozessorientierung verknüpft.
Öffnung des Unterrichts
Öffnung des Fremdsprachenunterrichts kann auf zwei Ebenen stattfinden:
(a) Inhaltliche und institutionelle Öffnung: Der Unterricht ermöglicht es den Schülern zumindest ansatzweise, auch ihre Schul- und Klassensituation als offene, nicht in allem institutionell festgelegte Lebenswelt zu sehen und durch das Medium der fremden Sprache neu zu erfahren. Darüber hinaus gibt ihnen die prinzipielle Offenheit von (bedeutsamen) Textinhalten Gelegenheit zu individuellen Erfahrungen und entsprechenden Äußerungen, die vom Lehrer her nicht planbar sind. Und schließlich greift der Unterricht so oft es geht über die Grenze des eigenen Faches (Projektarbeit, fächerübergreifender Unterricht, bilingualer Sachfachunterricht) sowie über die Grenzen des Klassenzimmers und der Schule hinaus (außerschulisches Handeln).
(b) Curriculare und methodische Öffnung: Der Unterricht fördert Schülerinitiativen und Eigenverantwortlichkeit für die Wahl zielorientierter Aktivitäten und die Arbeits- und Zeiteinteilung (bis hin zur Aufstellung von Wochenplänen) sowie Zugriffsmöglichkeit auf authentische Materialien und andere, auch technologische, Ressourcen (vgl. auch "Lernen durch Lehren"). Auf diese Weise ermöglicht er Prozesse der Selbsterkundung und Selbsterfahrung auf der Grundlage einer breiten Palette sprachlicher Erfahrungen und fördert so die schülerseitige „Selbstorganisation“ der Lernprozesse (W. Bleyhl).
Damit stellt sich natürlich die Frage, wieviel Offenheit und wieviel lehrseitige Steuerung die Lernenden benötigen. Die Kriterien hierfür sind im Lichte der oben skizzierten Faktoren für jede Lerngruppe und jedes Lernziel sorgfältig gegeneinander abzuwägen und zu gewichten: Schulisches Fremdsprachenlernen benötigt soviel Offenheit wie unter den Gegebenheiten der Schulsituation möglich und so viel Steuerung (im Sinne von Lernhilfe) wie angesichts des nicht-natürlichen Sprach- und Lernkontextes nötig. In diesem Kontext erhalten dann auch die „traditionellen“ Aspekte des Unterrichts wie die Arbeit mit dem Lehrwerk, die gezielte Entwicklung sprachlicher Fertigkeiten sowie lexikalischer und grammatischer Kentnisse, systematisches Üben, die Korrektur von Fehlern sowie die Feststellung von Lernfortschritten neue Funktionen und Gewichtungen, was erhebliche Auswirkungen auf die methodischen Entscheidungen hat.
Ganzheitlichkeit
Bei einem solchen Unterricht wirken kognitive und affektive Aspekte zusammen: Intellekt, Gefühl und Sinne ansprechende Erfahrungen, ein Wechsel von Anstrengung und Entspannung sowie befriedigende sprachliche und nicht-sprachliche Interaktionen mit hoher Fehlertoleranz seitens der Lehrenden (R. Löffler). Diese Momente sind insbesondere im Unterricht mit lernschwachen Gruppen von Bedeutung.
Lernerorientierung
Unter dem Prinzip der Lernerorientierung wird zum einen verstärkt gefragt, was Schülerinnen und Schüler zu welchen Zwecken lernen wollen bzw. sollen, zum andern, welche Voraussetzungen sie entsprechend ihren Anlagen, ihrem Alter sowie ihren spezifischen Lebens- und Lernerfahrungen für bestimmte Lernprozesse mitbringen und welches ihre bevorzugten Lernweisen sind.
Inhaltsorientierung
Unter dem Prinzip der Inhaltsorientierung berücksichtigen Themenbereiche und Textinhalte verstärkt die persönlichen Erfahrungen und Interessen der Jugendlichen und fordern sie zur emotionalen und kognitiven Auseinandersetzung heraus. Darüber hinaus orientieren sie sich in den höheren Klassen in immer stärkerem Maße an außer- und nachschulischen Bedarfsfeldern im privaten und beruflichen Bereich. Über diese eher „funktionalen“ Aspekte hinaus werden, vor allem in der Mittel- und Oberstufe, Texte auch unter dem Gesichtspunkt der individuellen „Sinnbildung“ und damit der Persönlichkeitsbildung ausgewählt und besprochen. Aber auch hier sind die Schüler nur dann zur Auseinandersetzung bereit, wenn sie diese Inhalte an persönliche Erfahrungen und damit letztlich auch an ihren Wertehorizont anbinden können.
Lernorientierung und Prozessorientierung
Fremdsprachendidaktiker sowie Vertreter der Sprachlehrforschung sind sich einig, dass der Zusammenhang von Lernen und Lehren viel weniger direkt ist als bis noch vor einigen Jahren angenommen. Angesichts der Gegebenheiten der Institution Schule wird Lehren zwar immer noch als notwendig angesehen. Man akzeptiert jedoch, dass es nicht mehr oder weniger automatisch zu entsprechendem Lernen führt, selbst wenn die Schüler gut mitarbeiten. So sieht die Fachdidaktik heute in den Schülern keine teachees mehr, keine Objekte des Lehrens, denen Lerninhalte „vermittelt“ werden. Sie werden vielmehr als eigenaktive learners anerkannt, die das dargebotene sprachliche Material sowie die Informationen des Lehrers für sich verarbeiten. Sie verstehen Äußerungen oder Texte auf der Grundlage ihrer individuellen Lerndispositionen (intellektuelle und affektive Faktoren) und Lernmodi sowie ihrer sozio-kulturell geprägten Wissensstrukturen: ihres sprachlichen Vorwissens und ihrer vorangegangenen Lebens- und Lernerfahrungen („Weltwissen“); in diesen Bestand integrieren sie neue Informationen sowie entsprechende sprachliche Formen und Strukturen und „konstruieren“ so ihr Wissen (vgl. Konstruktivistische Didaktik). Dieses „Konstruieren“ hat also nichts mit der alltagssprachlichen Bedeutung des Begriffs im Sinne einer bewusst zielgerichteten Aktivität zu tun.
Diese Hinwendung von einem naiven „Instruktivismus“ zu einer „konstruktivistischen“ Position verändert auch die Funktion der Unterrichtenden: sie werden verstärkt als classroom managers und learning facilitators gesehen, die den Schülern Hilfen für ihre Wissenskonstruktion anbieten. Unterricht ist also keinesfalls überflüssig geworden. Allerdings wird seine Funktion jetzt anders gesehen. Auch wenn die Initiative zur Auseinandersetzung der Schüler mit sprachlichem Material nach wie vor größtenteils von den Lehrern ausgeht und diese mannigfache Hilfestellungen anbieten: entscheidend für den Lernprozess sind die rezeptiven und produktiven bzw. interaktiven Tätigkeiten der Schüler selbst. Dabei sind gerade die rezeptiven Aktivitäten des Hör- und Leseverstehens in den letzten Jahren erheblich aufgewertet worden.
Die wesentlichen Grundlagen dieses lern- und prozessorientierten Ansatzes lassen sich folgendermaßen charakterisieren:
· Rich learning environment: Auf der Grundlage eines vielfältigen, inhaltlich motivierenden Angebots an Texten und sonstigen Materialien aus den verschiedensten Bereichen und zu den verschiedensten Themen erhalten die Schüler Gelegenheit zu den verschiedensten rezeptiven, produktiven und interaktiven Tätigkeiten.
· Comprehensible input: Lehreräußerungen und Lernmaterialien (Texte) liegen inhaltlich und sprachlich in der Reichweite der Schüler. Wie bei der Sprache von Eltern mit kleinen Kindern, erleichtern deutliche Aussprache, ausgeprägte Intonation, Pausen, lexikalische oder strukturelle Vereinfachungen, Paraphrasen, gelegentliche Rückfragen, Hinweise auf den Kontext, Erklärungen und andere Verständnishilfen das inhaltliche und sprachstrukturelle Verstehen von Äußerungen und Texten.
· Comprehended input: Nur was vom Lernenden tatsächlich verstanden wird, kann zum Lernen beitragen. Dabei wirken situativ gebundenes Verstehen und lexikalisch-grammatisch gebundenes Verstehen zusammen. Dieses Prinzip des „doppelten Verstehens“ ist das Grundprinzip sprachlichen Lernens (W. Butzkamm).
· Meaningful interaction: Gesprächs- und Textangebote sprechen die Schüler thematisch so an und sind für sie so bedeutsam, dass sie zum Verstehen-Wollen herausgefordert werden. Darüber hinaus werden die Schüler durch solche Inhalte zu eigenen sprachlichen Äußerungen und anderen (Inter-)Aktivitäten motiviert. Inhaltliche Unklarheiten, die auf sprachlichen Verstehensproblemen beruhen, werden im Lerngespräch ausgeräumt (negotiation of meaning).
· Comprehensible output: Der Lernprozess der Schüler wird gefördert, wenn sie sich dabei um eine angemessene sprachliche Form ihrer Äußerungen bemühen, wofür sie genügend Zeit sowie notfalls behutsame Hilfestellung bekommen (M. Swain). Darüber hinaus erhalten Schüler desto mehr Rückmeldungen in Form von Fehlerkorrekturen und zusätzlichem sprachlichem Input, je mehr sie selbst sprechen.
· Training of learning strategies: Der Unterricht schafft Voraussetzungen und gibt explizite Hilfen für die Entfaltung jeweils eigener Lernwege. Dazu initiiert und fördert er individuelle Strategien des Sprachgebrauchs und des Sprachlernens sowie auf bestimmte Lern(er)typen abgestimmte Lerntechniken, die die Aufnahme und das Behalten neuen Lernstoffes erleichtern (R. Oxford; J. M. O’Malley & A. U. Chamot).
Literatur
Bach, Gerhard & Timm, Johannes-Peter (Hg.): Englischunterricht. Grundlagen und Methoden einer handlungsorientierten Unterrichtspraxis (3., vollst. überarb. u. verbess. Aufl.). Tübingen, Basel: A. Francke 2003.
Legutke, M. & Thomas, H.: Process and Experience in the Language Classroom. London, New York: Longman 1991.
Timm, Johannes-Peter (Hg.): Englisch lernen und lehren. Didaktik des Englischunterrichts. Berlin: Cornelsen 1998.