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Die Chronik der Sperlingsgasse

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Die Chronik der Sperlingsgasse (1856) ist ein Roman von Wilhelm Raabe.

Die Chronik ist der erste Roman Raabes, abgeschlossen 1856, erschienen 1857 und begonnen an jenem 15. November 1854, zu dem auch (ohne Jahresangabe) das Werk selbst beginnt.

Inhalt

Als Verfassser und Erzähler der Chronik tritt der alte Johannes Wacholder auf, der eine über den Winter in den Frühling hineinreichende Zeitspanne nutzt, seine eigene Geschichte wie die der Menschen jener Straße – der Berliner Sperlingsgasse (in die die gemeinte Spreegasse 1931 dann auch tatsächlich umbenannt worden ist) –, in der auch er zur Miete in einem Haus wohnt, niederzuschreiben:

»Ich bin alt und müde. Es ist die Zeit, wo die Erinnerung an die Stelle der Hoffnung tritt.« (12)

Im Ergebnis entsteht so eine durchaus heterogene, teils verschachtelte, teils achronologisch geordnete Chronik, in der ohne Gleichförmigkeit, aber aus innerer Notwendigkeit sich auf der Folie der fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts aus einer Düsternis alltäglichen Leidens und Elendes hinaus sich ein schließlich auch von Glück und Idylle mitbestimmtes Gassengemälde entwickelt, das den Verfasser im Alter wo nicht zu rechtfertigen, so doch zu wärmen vermag. Dass diese ›Notwendigkeit‹ aber über das Erinnern des Alten als letzter Lebensquell hinausreicht, erweist dann die im Zentrum der Chronik sich befindende Liebesgeschichte.

Es ist Liebe, die der Verfasser wie auch dessen alter Kinderfreund Franz Ralff zu Marie hegten und die Wacholder auch (melancholisch gefärbt) aufrecht erhält, als Freund Franz längst obsiegt hatte, Franz und Marie längst ein Paar geworden waren und der Verbindung eine Tochter namens Elise geboren wurde. Nach dem dann frühen Tod der Marie, dem der Vater schnell folgte, wurde der Freund als »Onkel« Wacholder Vormund und Erzieher der verwaisten Tochter Elise. Vor seinem Tod aber beendete Franz Ralff, von Beruf Maler, noch das Portrait seiner Frau und weihte zudem den Freund um des Kindes willen auch in jene Familientragödie ein, die einst seiner Mutter Luise wiederfuhr und ihm selbst als Forderung aufgegeben blieb: Die Mutter war als junges Mädchen in Abwesenheit des schützenden Bruders von einem Grafen Seeburg geschändet worden. Hieraus war Franz als Frucht hervorgegangen, den der Mutterbruder Andreas nach der Mutter Gramestod dann aufzog – derweil der schändliche Graf verschwunden blieb. (39ff.).

Die Geschichte wiederholt sich nun, als »Onkel« Wacholder und Mündel Elise an Mariens Grab eine Frau kennenlernen (67), die sich nicht nur als Nachbarin in der Sperlingsgasse, sondern auch als verarmte Tochter des Grafen Seeburg zu erkennen gibt (100ff.). Aus einer zweiten Ehe hat jene Helene Berg einen Sohn Namens Gustav, der zum Ende der Chronik (161ff.) nun Elisens Mann werden soll – womit die Forderung der letzten Worte von Franzens Oheim Andreas – »... such ihn« – ohne ein Forschen Erfüllung und Auflösung finden.

Die für Franz Ralff nicht einmal im Tode nach dem »begrab dein volles Herz und suche – zu vergessen !« (73) erfüllbare Forderung wird in der dem Vergessen gegenläufigen Erinnerung aufgelöst und über die Treue zum »Vaterland« in einen geschichtlichen Zusammenhang gebracht (vgl. 142f.). Das auf Wanderung und Herrschaftswechsel unter den Völkern angelegte und entwickelte Bild (158) kulminiert jedoch schließlich nicht im großen Geschichtsentwurf, sondern im Einzelschicksal der Familie des Schuhmachers Burger, dem »... eine ganze Passionsgeschichte vom Gesichte abzulesen war« (159) und den nun Hunger und Elend in die Emigration trieben und »Vaterland« so einen ganz anderen Geschmack bekommen lässt: Eines Landes, das zu ›Mutterland‹, zu Heimat wird als aus der Ferne empfundene Sehnsucht, die denen aufkommt, die Not und mangelnde Fürsorge der Obrigkeit aus gerade bene diesem Land vertrieben hatte.

Zum Ende der Chronik, die noch einiges an Elend und Not, Krieg und Tod bietet, scheint »Was tot war, wird lebendig; was Fluch war, wird Segen« als präsentische Faktizität gerade einmal für Gustav und Elise zu gelten, »die Sünde der Väter wird nicht heimgesucht an den Kindern ...« (100) aber als Hoffnung und auch als Franz Ralffsches Nichtverpflichtetsein bleibt an alle gerichtet.

zitiert nach: Wilhelm Raabe, Werke in zwei Bänden, hg. v. Karl Hoppe, Band 1: Erzählungen, Zürich o.J.