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Religionen in der Türkei

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Das Prinzip des Laizismus in der Türkei schreibt eine strenge Trennung von Religion und Staat vor, genauer gesagt eine strikte Unterordnung der Religion unter den Staat. Artikel 24 der Verfassung von 1982 beschränkt die Glaubensfreiheit auf das Individuum. Religionsgemeinschaften können aus diesem Abschnitt der Verfassung keine Rechte geltend machen.

Religiöse Zusammensetzung der Bevölkerung

Die Türkei betrieb seit ihrer Gründung in den 1920er Jahren gegenüber Minderheiten eine Assimilationspolitik, die jeden türkischen Staatsbürger kulturell und ethnisch als Türken ansah.

Nach offiziellen Angaben bekennen sich 92,4% der türkischen Bevölkerung zum Islam. Der größte Teil davon sind Sunniten, gefolgt von Aleviten.

Außerdem leben in der Türkei 0,2 % Christen (125.000)(neue Studie von 2006) und 0,04 % Juden (23.000). Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lebten noch etwa 20 % Christen auf dem Gebiet der heutigen Türkei. Die größte Gruppe unter den Christen bilden mit etwa 65.000 Angehörigen die Armenisch-Katholische Kirche. Dazu kommen 2000 griechisch-orthodoxe Christen (die überwiegend in İstanbul leben) und 2000 syrisch-katholische Christen (Aramäern).

Jeder Einwohner der Türkei gilt automatisch als Moslem, sofern er nicht explizit einer anderen Religion zugeordnet wird. Einen formalen Austritt aus der muslimischen Gemeinde gibt es nicht, so dass auch Konfessionslose offiziell als Muslime geführt werden. Die Zahl der Atheisten und Agnostiker in der Türkei ist daher nicht bekannt.

Präsidium für Religionsangelegenheiten

Hauptartikel: Diyanet İşleri Başkanlığı

Die islamischen Einrichtungen werden vom staatlichen Diyanet İşleri Başkanlığı, dem Präsidium für Religionsangelegenheiten, verwaltet. Es regelt die Ausbildung der etwa 100.000 Imame und Muezzine, bezahlt und erhält die Moscheen und gibt landesweit den Inhalt der zu haltenden Predigten vor. Ebenso ist es zuständig für die knapp 500 Imame an den türkischen Moscheen in Deutschland. Diese Einrichtungen kümmern sich jedoch nur um Moscheen, d.i. um die Entsendung von Vorbetern und Religionsbeauftragten für die Moscheen. Sie errichtet keine Moscheen , wie sie auch keine alevitischen Cem-Gebetshäuser errichtet. Letztere sieht sie nicht gleichgestellt sind mit den herkömmlichen Moscheen, sondern entsprechen diese den Ordenshäusern, die ihre religiösen Führer selber organisieren.

Offiziell bestehender Minderheitenschutz

Den Juden sowie den griechisch-orthodoxen und den armenisch-orthodoxen Christen wird nach dem Vertrag von Lausanne Minderheitenschutz gewährt. Christlichen Gemeinden ist es erlaubt, eigene Schulen zu betreiben. Sie dürfen jedoch keinen Priesternachwuchs für die Betreuung und Seelsorge der christlichen Türken ausbilden. Zudem bleiben die vor über 35 Jahren durch den türkischen Staat geschlossenen christlichen Seminare weiterhin geschlossen. İstanbul ist Sitz des ökumenischen Patriarchats von Konstantinopel, das den ersten Ehrenrang innerhalb der orthodoxen Kirche einnimmt, von der türkischen Regierung in dieser Position aber nicht anerkannt wird.

Nicht unter die Bestimmungen des Vertrags fallen einerseits später zugewanderte Menschen römisch-katholischen und evangelischen Glaubens, allerdings die syrisch-orthodoxen Aramäer Südostanatoliens (Tur Abdin). Die fast ausschließlich aus Ausländern bestehenden protestantischen und katholischen Gemeinschaften dürfen Eigentum erwerben, aber, genau wie Sekten und verschiedenen islamische Gruppierungen, keine offiziellen Gemeinden bilden. In Alanya ist jedoch vor kurzem die Einrichtung offizieller katholischer und evangelischer Seelsorge gestattet worden, um dem Bedarf der Urlauber entgegenzukommen -- vor allem seit sich europäische Rentner teilweise dort dauerhaft oder doch für mehrere Monate im Jahr niederlassen, entstand hier ein Bedarf, der sich mit den bisher üblichen rechtlichen Konstrukten (Seelsorger sind offiziell Botschaftsangehörige, Firmenteilhaber etc.) nicht mehr decken ließ.

Im Personalausweis gibt es eine Rubrik für die Religionszugehörigkeit, die Eintragung darin ist jedoch freiwillig, frei wählbar und jederzeit änderbar, falls der Inhaber dies möchte.

Tatsächliche Lage der religiösen Minderheiten

Der problematische Umgang mit christlichen Minderheiten, der im nichtbewiesenen Völkermord an den Armeniern/Aramäer gipfelte, lässt sich auf die geschichtlichen Erfahrungen im Osmanischen Reich und die daraus resultierende Staatsideologie des Kemalismus zurückführen. Diese Sichtweise prägt immer noch das Handeln und Denken großer Teile der kemalistisch geprägten Eliten in Politik, Verwaltung und Militär.

Aufgrund der bis heute unaufgearbeiteten, vielfach vertuschten und geleugneten Vergangenheit gibt es noch immer Defizite im Schutz der Minderheiten und verschiedene ungelöste religiöse Schwierigkeiten. So mussten nach dem schweren Pogrom von 1955 tausende von griechischen Christen, aber auch wieder Armenier ihre Heimat verlassen (siehe weiter unten). Da die Staatsführung die zwangsweise geschlossenen Priesterschulen nicht öffen will, fehlt es oft an geistlichem Nachwuchs. Dieser darf auch nicht aus Griechenland rekrutiert werden; die Türkei vergibt an Geistliche aus dem Ausland keine Arbeitsgenehmigung.

Für die EU-Kommissionen und europäischen Regierungen war bis vor kurzem die alarmierende Situation der christlichen Minderheiten vorrangig, da diese durch die „Jungtürken" (1914/15), die Herrschaft Atatürks (vor allem in den 20er Jahren) sowie während der Zypern-Krisen 1955 durch ethnische Säuberung und genozidale Aktionen von 25% auf etwa zwischen 0,1 und 0,15 % der türkischen Bevölkerung reduziert worden waren. Die Evangelische Kirche Deutschlands (EKD) geht von „etwa 150.000 Christen armenischer, syrisch-orthodoxer und griechisch-orthodoxer Herkunft" aus, während Missio, das Katholische Missionswerk, die Zahl der Christen mit rund 100.000 angibt. Die Gesellschaft für bedrohte Völker wiederum geht davon aus, dass die Zahl etwa zwischen den beiden liegt.

EU-Beobachter und Menschenrechtsorganisationen berichten von vielen Erleichterungen für aramäische Christen vor allem im Tur Abdin. Glaubensflüchtlingen und Vertriebenen war es möglich in einige Dörfer zurückkehren und Unterricht in aramäischer Sprache abzuhalten, was bis vor kurzem noch behindert wurde. Dieser Unterricht wird jedoch nicht offiziell anerkannt, was auch für diese Volksgruppe als ganzes gilt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg hat mit einem Urteil die Eigentumsrechte nicht-muslimischer Minderheiten in der Türkei gestärkt, wie die „Wiener Zeitung“ berichtete. Die Türkei wurde unter Androhung einer Entschädigungszahlung zur Rückgabe von zwei Immobilien verurteilt, die der Istanbuler Stiftung einer griechisch-orthodoxen Schule des Ökumenischen Patriarchats in den 1950er-Jahren geschenkt und 1996 vom Staat beschlagnahmt worden waren.[1]


Siehe auch

Literatur

  • Wilhelm Baum: Die Türkei und ihre christlichen Minderheiten: Geschichte - Völkermord - Gegenwart, Kitab Verlag, Klagenfurt-Wien 2005, ISBN 3-902005-56-4
  • Gabriele Yonan : Ein vergessener Holokaust. Die Vernichtung der christlichen Assyrer in der Türkei, Pogrom-Taschenbücher Bd. 1018, Reihe bedrohte Völker, Göttingen und Wien 1989, ISBN 3922197256

Quellen

  1. Kath.net: [ http://www.kath.net/detail.php?id=15681 Türkei muss konfiszierte kirchliche Häuser zurückgeben] 11. Januar 2007