Phantastik
Phantastik bzw. Fantastik ist ein Genrebegriff in der Literatur, über dessen genaue Definition in Fachkreisen bisher keine Einigkeit erzielt werden konnte. Landläufig bezeichnet der Begriff „fantastisch“ alles, was abgehoben, unrealistisch, unglaublich, versponnen oder wunderbar ist. Zurückzuführen ist der Begriff der Phantastik auf einen Übersetzungsfehler, als E. T. A. Hoffmanns „Fantasiestücke in Callots Manier“ (1814) ins Französische mit „Contes fantastiques“ übersetzt wurde, anstatt richtigerweise mit „contes de la fantaisie“.
Definitionen der Phantastik
Die vielen, von Literaturwissenschaftlern unternommenen Definitionen von Phantastik lassen sich nach Uwe Durst in zwei allgemeine Definitionskategorien (maximalistische und minimalistische) einteilen:
Die maximalistische Definitionsweise setzt die Phantastik mit dem Wunderbaren gleich. Die meisten Definitionen unterscheiden zwischen einer ahistorischen Auffassung (das Wunderbare existiert a priori und ist selbstverständlicher Teil der erzählten Welt, wie z. B. die sprechenden Tiere in Grimms Volksmärchen) und einer historischen Auffassung (das Wunderbare bricht in eine zeitgenössische Wirklichkeit ein, wie z. B. der Vampir in Bram Stokers „Dracula“). Der große Nachteil an der maximalistischen Definitionsweise ist, dass sie sehr viele Texte unterschiedlichster Struktur und eigener Genrezugehörigkeit zusammenfasst (z. B. Volksmärchen, Fantasy, (teilweise) Horror, Science Fiction, etc.)
Die minimalistische Definitionsweise, also die Phantastik im engeren Sinn, die von Tzvetan Todorov, Wörtche und Durst im speziellen untersucht wurde, gibt ein anderes Kriterium für die Genrezugehörigkeit an: Auf Grund divergierender, im Text gegebener Informationen ist der Leser nicht imstande zu entscheiden, ob im Text das Wunderbare oder das Reguläre (realistische) System gültig ist; das heißt er kann nicht entscheiden, ob das Wunderbare wirklich geschehen ist, oder nicht. Der Vorteil dieser Definition liegt darin, dass Texte mit einer dominanten Struktur, der realitätssystemischen Unschlüssigkeit, zu einem Genre zusammengefasst werden.
Wichtige Begriffe in der Phantastikdiskussion
Das Reguläre / Realistische Realitätssystem ist dasjenige System, das seine Verfahrensbedingtheit verbirgt, und so tut, als wäre es so wie die außerliterarische Wirklichkeit. Wunderbares wird als konventionsbedingt verdeckt (z. B. der allwissende Erzähler oder Pandeterminismus).
Das Wunderbare Realitätssystem hingegen erlaubt das Auftauchen (und die Bloßlegung) von wunderbaren Ereignissen, Sequenzen und Figuren. Diese sind beispielsweise Zauberwesen, Hexerei, Unsichtbarkeit, Unsterblichkeit, Zaubertränke, etc. Diese Wunderbarkeit ist entweder intratextuell (im Text selbst, also durch den Erzähler oder handelnde Figuren) oder intertextuell markiert (d. h. andere Texte legen die Wunderbarkeit fest). Wunderbarkeit ist nicht dadurch definiert, was in der außertextuellen Wirklichkeit möglich oder nicht möglich ist.
Die Phantastik befindet sich strukturell zwischen diesen beiden Realitätssystemen (=Nichtsystem). Da der Leser die Ereignisse der Geschichte weder vollständig dem Wunderbaren, noch dem Realistischen System zurechnen kann, muss er unschlüssig zwischen beiden Systemen verbleiben, ohne eine „Lösung des Rätsels“ erfahren zu haben.
Phantastik nach minimalistischer Definition
Verfahren
Um die Unschlüssigkeit des Lesers zu erreichen, werden im Text einige Verfahren angewandt, die die Erzählinstanz destabilisieren (also den Erzähler anzweifelbar machen). Dies wird zum Beispiel erreicht durch die Schachtelung mehrerer Erzähler, die sich gegenseitig widersprechen, der Lüge oder der Unzurechnungsfähigkeit verdächtig machen (z. B. Theodor Storms „Der Schimmelreiter“), oder auch, indem ein einzelner Erzähler unglaubwürdig wird (indem erwähnt wird, dass er Drogen genommen hat, müde, verrückt oder krank war oder vielleicht alles nur geträumt hat (z. B. Nathaniel Hawthorne „Der junge Nachbar Brown“). Auch durch grammatische Zerrüttung wird dieser Effekt erzielt. Jemand, der seine eigene Sprache nicht vollständig unter Kontrolle hat, hat vielleicht auch die Kontrolle über seinen Geist verloren. In diesem Zusammenhang sind auch Beteuerungen, nicht verrückt zu sein, zu nennen. (Edgar Allan Poe „Das verräterische Herz“)
Beispieltexte
- Theodor Storm: Der Schimmelreiter
- Alexander Lernet-Holenia: Der Baron Bagge
- Edgar Allan Poe: Das verräterische Herz, u. a.
- Hanns Heinz Ewers: Die Spinne
- Howard Phillips Lovecraft: Die Musik des Erich Zann
- Herbert George Wells: Die Zeitmaschine
- Herbert George Wells: Die Tür in der Mauer
- Jorge Luis Borges: Das Sandbuch
- William Wymark Jacobs: Die Affenpfote
Sekundärliteratur
- Lucie Armitt: Fantasy fiction: an introduction. New York: Continuum 2005. ISBN 0826416853
- Neil Cornwell: The literary fantastic: from Gothic to postmodernism. New York: Harvester Wheatsheaf, 1990. ISBN 0710813767
- Uwe Durst: Theorie der phantastischen Literatur. Tübingen: Francke, 2001. ISBN 3772027660
- Martin Horstkotte: The postmodern fantastic in contemporary British fiction. Trier: WVT, 2004. (=Horizonte; 34) ISBN 3884766791
- W.R. Irwin: The game of the impossible: a rhetoric of fantasy. Urbana: University of Illinois Press, 1976. ISBN 0252005872
- Rosemary Jackson: Fantasy: the literature of subversion. London: Methuen, 1981. ISBN 0416711707
- Florian Marzin: Die phantastische Literatur: eine Gattungsstudie. Frankfurt a. M.: Lang, 1982. ISBN 3820471561
- Dieter Petzold: Fantasy in Film und Literatur. Heidelberg: Winter, 1996. ISBN 3825304140
- Eric S. Rabkin: The fantastic in literature. Princeton: Princeton University Press, 1976. ISBN 069106301X
- Annette Simonis: Grenzüberschreitungen in der phantastischen Literatur: Einführung in die Theorie und Geschichte eines narrativen Genres. Heidelberg: Winter, 2005. ISBN 3-8253-5021-5
- Tzvetan Todorov: Einführung in die fantastische Literatur. Übers. aus dem Französischen von Karin Kersten/Senta Metz/Caroline Neubaur. Frankfurt a. M.: S. Fischer, 1992. (Original: Introduction à la littérature fantastique. Paris 1970) ISBN 3548031919
- Thomas Wörtche: Phantastik und Unschlüssigkeit: Zum strukturellen Kriterium eines Genres. Untersuchungen an Texten von Hanns Heinz Ewers und Gustav Meyrink. Meitingen: Corian, 1987. (=Studien zur phantastischen Literatur; 4) ISBN 3890481132
- Marianne Wünsch: Die Fantastische Literatur der Frühen Moderne (1890– 1930). Definition, denkgeschichtlicher Kontext, Strukturen. München: Fink, 1991. ISBN 3770526430