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Fitra

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Fitra (arabisch فطرة, DMG fiṭra ‚Natur, Veranlagung; Schöpfung‘), von فطر, DMG faṭara ‚schaffen, erschaffen (von Gott); angeboren sein‘, bezeichnet ein islamisches Konzept von der Natur des Menschen, die so angelegt ist, dass jeder Mensch in seiner natürlichen Reinheit على الفطرة erschaffen worden und - nach der Interpretation der Theologen - ursprünglich ein Muslim sei.

Den Grundgedanken zu späteren theologischen Überlegungen liefert bereits der Koran. Dort heißt es:

„Richte nun dein Antlitz auf die (einzig wahre) Religion! (Verhalte dich so) als Hanif! (Das (d.h.ein solches religiöses Verhalten) ist) die natürliche Art, in der Gott die Menschen erschaffen hat. Die Art und Weise, in der Gott (die Menschen) geschaffen hat, kann (oder: darf?) man nicht abändern (w. (gegen etwas anderes) austauschen). Das ist die richtige Religion. Aber die meisten Menschen wissen nicht Bescheid.“

Übersetzung: Rudi Paret

Fitra ist "eine Art und Weise des Erschaffens oder des Erschaffenseins". Auf die Entlehnung des Begriffes aus dem Äthiopischen haben die Orientalisten Theodor Nöldeke (Neue Beiträge, S.49) und Friedrich Schwally (In: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft (ZDMG), Bd. 53, S.199f.) hingewiesen.

Die theologische Bedeutung des Begriffes ist in dem in mehreren Varianten überlieferten Prophetenspruch (Hadith) begründet:
Jedes Kind wird der Fitra gemäss geboren (d.h. nach der Art und Weise der Erschaffung durch Gott). Alsdann machen seine Eltern aus ihm einen Juden, Christen oder Zoroastrier.

Das Hadith und seine Varianten sind alt. Hammam ibn Munabbih (st. gegen 719), einer der frühesten Sammler von Traditionen des Propheten Mohammed, hat es schon in seiner Schriftenrolle (sahifa) verzeichnet (siehe GAS 1. 86), auf die die späteren Autoren der kanonischen Hadith-Sammlungen – al-Bukhari (Kitab al-Qadar, Kap.3) und Muslim (Kitab al-Qadar, Kap. 6) – zurückgreifen; die Prophetentradition wird auf den Prophetengefährten (sahaba) Abu Huraira zurückgeführt, der die Aussage des Propheten mit folgenden Worten ergänzt: "…und rezitiert, wenn ihr wollt: Richte nun dein Antliz auf die (einzig wahre) Religion…"usw. bis: "Die Art und Weise, in der Gott (die Menschen) geschaffen hat, kann (oder: darf?) man nicht abändern".

Die islamischen Theologen waren stets uneinig darüber, ob nun Kinder von Ungläubigen selig werden können. Mu'tazilitische Theologen gingen davon aus, daß jedes Kind von Natur aus als Muslim, als ein dem einzigen Gott ergebener, geboren, aber nach seiner Geburt durch die Umgebung verdorben wird. Allerdings enthielt diese Auffassung sowohl juristische als auch theologische Schwierigkeiten, denn sie widerstrebt dem uneingeschränkten Willen (maschi'a) Gottes und seiner Führung (hidaya). Die islamische Orthodoxie war der Ansicht, daß die Eltern des Kindes nur eine sekundäre Ursache (sabab) für die weitere Entwicklung des Neugeborenen sein können, denn sowohl die Irreleitung als auch die rechte Führung von Gott kommen müsse, von ihm vorbestimmt sei. Der Prophetenspruch ist gerade wegen seines oft diskutierten Inhalts in den Kapiteln über die Prädestination (Qadar) der kanonischen Hadithwerke überliefert worden.

Die gesetzliche Religion eines Kindes, das im Zustand der fitra geboren ist, ist zunächst die Religion seiner Eltern, obwohl es diese Religion erst bei Volljährigkeit annimmt. Im Falle des Todes der (polytheistischen) Eltern kann ein minderjähriges Kind in seiner Fitra von seinen Eltern nicht erben. Wichtiger als die juristischen Aspekte des fitra-Verständnisses waren die theologischen Überlegungen vor dem Hintergrund der Offenbarung (Sure 30, Vers 30) und bei der Betrachtung des genannten Prophetenspruches.

So heißt der Begriff Fitra auch: in einem gesunden Zustand erschaffen sein – mit der angeborenen Anlage zum Glauben und zum Unglauben.

Der fitra-Begriff steht ferner auch für das Gottesbild des Menschen; Sahl ibn Harun, der Direktor des Bait al-Hikma unter dem Kalifen Harun ar-Raschid leitet eine seiner wissenschaftlichen Abhandlungen mit folgenden Worten ein: Preis sei Gott, der die Menschen so erschaffen hat, daß sie Ihn aus sich heraus erkennen (fatara 'l-'ibad 'ala ma'rifatihi). Somit gilt das Wissen darum, daß Gott einer sei – d.h. der reine Monotheismus – als fitra. (siehe: Josef van Ess: Theologie und Gesellschaft im 2. und 3. Jahrhundert Hidschra. Eine Geschichte des religiösen Denkens im frühen Islam. Bd. IV. S.361. Walter de Gruyter. Berlin. New York 1997. ISBN 3-11-014835-8).

Die anerschaffene Natur, wie sich der Begriff fitra im Koran präsentiert, ist mit dem Urmonotheismus der sog. Hanifen (al-Hanifiya) identisch, die auch als älteste Bezeichnung für den Islam steht. Abd Allah ibn Mas'ud verzeichnete Sure 3, Vers 19: "Als (einzig wahre) Religion gilt bei Gott der Islam" in seinem eigenen alten Koranexemplar als: "…gilt bei Gott die Hanifiya" – anstatt: "Islam". Man spricht bei dieser Textvariante von einer exegetischen Rezitation (qira'a tafsiriya) des Korantextes. Somit ist der Islam die einzige Religion, die ursprünglich allen Menschen gemeinsam ist. Jedes Kind wird in diesem ursprünglichen Naturzustand geboren; erst nachher wird es von seinen Eltern verändert, so wie auch Christentum und Judentum nur veränderte Formen dieser geoffenbarten Urreligion sind. Daher fügt sich die oben erwähnte Ergänzung des Prophetenspruches durch die Koranstelle "Die Art und Weise, in der Gott (die Menschen) geschaffen hat kann man nicht abändern"; Variante: darf man nicht abändern. Diese letztere Deutung ist in der monumentalen Koranexgese von at-Tabari dokumentiert: die Religion Gottes (eben: der Islam / al-Hanifiya) "darf" man nicht ändern, es ist "unzulässig" (la yasluhu) und "darf nicht getan werden" (la yanbaghi an yuf'ala).

In einer Variante der fitra-Tradition, verzeichnet im Sahih von Muslim, antwortet der Prophet auf die Frage, was mit den minderjährigen Kindern von Polytheisten geschehe, wenn sie im Zustand der fitra, noch vor ihrer Bekehrung zu einer Religion stürben, wie folgt: Gott weiß am besten darüber Bescheid, was sie (in der Zukunft) getan hätten. Denn Gott kann die freie Entscheidung des Menschen vorauswissen. Denn der Mensch ist mit der Anlage sowohl zum Glauben als auch zum Unglauben ausgestattet. Die anerschaffene Unschuld des Neugeborenen bedeutet nach dem eingangs genannten Koranvers, daß der Mensch zu Gott hin geschaffen ist. Gemäß dem islamischen Verständis der fitra ist es die Aufgabe des Propheten, dieses Ursprüngliche im Menschen freizulegen und ihn zu der wahren Religion zu führen (siehe: Tilman Nagel: Geschichte der islamischen Theologie. Von Muhammed bis zur Gegenwart, C.H. Beck. München 1994. S.28-29).