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Reine Stimmung

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Die Reine Stimmung (auch Natürliche oder Harmonische Stimmung) besitzt im Gegensatz zur pythagoreischen Stimmung nicht nur die Oktave 2/1 und die (reine) Quinte 3/2, sondern auch (reine) Intervalle höherer Ordnung, wie sie sich aus der Obertonreihe ergeben, nämlich zunächst die (reine) Terz 5/4 („Quint-Terz-Schema“) und später – mehr oder weniger spekulativ – die Naturseptime 7/4 („Quint-Terz-Sept-Schema“).

Zu unterscheiden ist das harmonisch-reine Tonsystem, welches (theoretisch) über unendlich viele Tonstufen verfügt und harmonisch-reine Stimmungen, die sich als 7- oder mehrstufige Auswahl aus diesem System beschreiben lassen. Obwohl mit diesen Stimmungen ein Instrument absolut sauber (und für manche Ohren geradezu steril) klingt, haben sie in der musikalischen Praxis kaum eine Bedeutung, da sie nicht nur bei der Modulation in entfernte Tonarten, sondern bereits bei diatonischen Skalen erhebliche Mängel aufweisen. Allerdings wurden diverse Temperierungen, wie etwa die mitteltönige Stimmung und verschiedene mikrotonale Tonsysteme als Annäherung an die harmonisch-reine Intonation verstanden.

Das Quint-Terz-Schema

Die Einführung der (reinen) Großterz 5/4 – als Vereinfachung des pythagoreischen Ditonus 81/64 – geht zurück auf die enharmonische Tetrachordteilung Didymos' (etwa 100 Jahre nach Pythagoras). Sie resultiert einerseits aus der sukzessiven Saitenteilung 1:2, 2:3, 3:4, 4:5, etc. – den sog. „Überteiligen“ (lat.: superparticulares), anderereseits aus der arithmetischen Teilung der Quinte 3/2 = 6/4 = 5/4 . 6/5. In der abendländischen Musik wurde die reine Terz notwendig, als sie (zusammen mit der Sexte 8/5) im 15. Jahrhundert nicht mehr als Dissonanz, sondern als (imperfekte) Konsonanz aufgefasst wurde und zunehmend an musikalischer Bedeutung gewann. Die Deutung der Großterz als 5. Oberton in der Natur- bzw. Teiltonreihe, sowie des Durakkords 4:5:6 als Zusammenklang von 4., 5. und 6. Oberton ist dabei eine (nicht unumstrittene) Erfindung der Neuzeit:

 C-Dur Akkord in der Obertonreihe/?

Wie jedes Tonsystem basiert auch das harmonisch-reine einerseits auf axiomatischen Intervallen, die als gegeben betrachtet werden (hier die Oktave 2/1, Quinte 3/2 und Terz 5/4), und solchen die (rechnerisch) aus diesen abgeleitet werden – etwa die Quarte 4/3 als Komplementärintervall der Quinte 3/2 (a); die Kleinterz 6/5 als Differenz von Quinte 3/2 und (reiner) Großterz 5/4 (b); oder die None 9/4 als Summe zweier Quinten 3/2 (c), etc.:

a)  Cent      b)  Cent      c)  Cent

So ergibt sich aus der Vielzahl von Kombination dieser Intervalle ein (theoretisch) unendlicher Tonraum, der sich mittels eines Tonnetzes wie folgt grafisch darstellen lässt:

Darstellung im Tonnetz

Die C-Dur-Tonleiter in harmonisch-reiner Quint-Terz Stimmung

Die reine C-Dur-Tonleiter kann verstanden werden als Auswahl derjenigen sieben Tonstufen aus dem Quint-Terz-Schema, die zur Intonation der drei Hauptfunktionen Subdominante (S), Tonika (T) und Dominante (D) – also für die „authentische“ Kadenz benötigt werden:

 C-Dur-Tonalität/?

Die eigentliche Skala entsteht durch Transposition dieser Tonstufen in die entsprechende Oktavlage – beispielsweise zwischen c1 und c2. Sie besteht nun – im Gegensatz zur pythagoreischen Skala – nicht mehr aus zwei, sondern aus drei Intervallschritten verschiedener Größe, dem großen Ganzton 9/8, dem kleinen Ganzton 10/9 und dem diatonischen Halbton 16/15 :

 reine C-Dur-Tonleiter/?

Diese siebenstufige Tonleiter erlaubt nun zwar die harmonisch-reine Intonation der Hauptfunktionen T, S und D, doch ist sie melodisch unsauber, da die jeweiligen Terzen e, a und h zu niedrig erscheinen. Insbesondere der Leitton h-c ist mit seinen 111,73 Cent problematisch, da er der Tendenz widerspricht, die Strebewirkung von Leittönen durch eine möglichst enge Intonation zu erhöhen (Beispielsweise durch das pythagoreische Limma h-c 256/243 zu 90,22 Cent). Viele der Intonationsschwierigkeiten – etwa von Streichern und Bläsern – lassen sich auf die Unvereinbarkeit von harmonischer und melodischer Reinheit (quasi pythagoreisch) zurückführen. Die zwei verschieden großen Ganztöne 9/8 und 10/9 – der Auslöser dieses „Konflikts“ – ergibt sich (zwangsläufig) aus der arithmetischen Teilung der (reinen) Großterz 5/4 (a). Deren Differenz entspricht dem sog. syntonischen, oder didymischem Komma 81/80 mit ca. 21,51 Cent; d.h. die Tonstufen, die in der Reihe über den (gleichnamigen) Tonstufen im Tonnetz liegen werden etwa einen Zehntel-Ton tiefer als diese intoniert (e:e = 80:81) (b). Eine Lösung des Problems liefert die mitteltönige Stimmung mit der geometrischen Teilung der Großterz, was zu zwei gleichgroßen Ganztönen (jeweils 193,156 Cent) führt, ohne die Reinheit der Terz in Frage zu stellen (c):

a)       b)       c) 

Die „zweierlei d in C-Dur“

Ein anderes Problem besteht in der Intonation der Quinte d-a, die als Wolfsquinte 40/27 zu 680,448 Cent um ein syntonisches Komma zu eng, und damit dissonant erscheint. Sie erklingt u.a. im d-Moll-Akkord (d-f-a) auf der zweiten Stufe bzw. in der Kadenz mit Subdominantparallele (T-Sp-D-T):

 dissonantes d-Moll in C-Dur/?

Die Bereinigung dieses dissonanten Intervalls erfordert eine zusätzliche Tonstufe d (d:a= 2:3 statt d:a = 27:40), wodurch allerdings das syntonische Komma 81/80 zu einem musikalisch relevanten (hörbarem) Intervallschritt wird:

 zweierlei d in C-Dur/?

Noch deutlicher tritt das Mikrointervall zwischen d und d in Erscheinung, wenn die C-Dur-Tonleiter entsprechend modifiziert wird:

 achtstufige C-Dur-Tonleiter/?

Diese achtstufige Tonleiter erlaubt nun zwar die harmonisch-reine Intonation sämtlicher diatonischer Nebenfunktionen in C-Dur, doch wiederspricht sie nicht nur der gängigen Musikpraxis, sondern auch dem, was im Allgemein unter dem diatonischen Tonsystem verstanden wird, bzw. dem, was sich Hörer und Komponist unter der diskreten Tonhöhenkategorie oder Tonigkeit »d« vorstellt:

„Unsere musikalische Praxis weiß von diesem zweierlei d in C-Dur nichts, und unser Tonbewußtsein weiß noch weniger etwas davon, daß das d:f:a kein reiner Mollakkord, sondern eine Art verminderter Dreiklang (mit der Quinte 40/27 statt 3/2) wäre. [...] Mit anderen Worten: Unsere Vorstellung weiß nichts von der Stimmungsdifferenz von d und d, sondern setzt beide gleich, stellt d als Unterquinte von a und doch zugleich als Oberquinte von g vor.“ (Hugo Riemann) [1]

Dessen ungeachtet stehen in einigen mikrotonalen Systemen tatsächlich beide Tonstufen d und d zur Verfügung.

Erweiterung auf zwölf Töne (Erweiterte Reine Stimmung)

Die zwölftönige Skala ergibt sich durch Hinzufügen von fünf weiteren Tönen, die so gewählt werden, dass C inmitten der Quintenreihe B–F–C–G–D steht und die Töne dieser Reihe (Rangordnung: C–G–F–D–B) nach Möglichkeit von diatonischen Halbtönen (15:16) umgeben sind. Es treten ausschließlich ganzzahlige Frequenzverhältnisse auf.

Name Frequenz-
verhältnis
zum vorigen Ton
Frequenz-
verhältnis
zum Grundton
Quotient Intervall Beziehung
zur Quinten-
spirale
C 15 : 16 1 : 1 1 0,000 C  
Des 15 : 16 15 : 16 1,0666... 111,731 C   gr. Terz unter F
D 128 : 135 8 : 9 1,125 203,910 C  
Es 15 : 16 5 : 6 1,2 315,641 C   gr. Terz unter G
E 24 : 25 4 : 5 1,25 386,314 C   gr. Terz über C
F 15 : 16 3 : 4 1,333... 498,045 C  
Fis 128 : 135 32 : 45 1,40625 590,224 C   gr. Terz über D
G 15 : 16 2 : 3 1,5 701,955 C  
As 15 : 16 5 : 8 1,6 813,686 C   gr. Terz unter C
A 24 : 25 3 : 5 1,666... 884,359 C   gr. Terz über F
B 15 : 16 9 : 16 1,777... 996,090 C  
H 128 : 135 8 : 15 1,875 1088,269 C   gr. Terz über G
C 15 : 16 1 : 2 2 1200,000 C  
Töne mit fett gedruckten Namen sind quint-verwandt, die übrigen stehen dazu im Terz-Verhältnis.

Die Abstände benachbarter Töne (Halbtöne) haben folgende Bezeichnungen und Werte:

Name Frequenzverhältnis Intervall Beispiel
Diatonischer Halbton 15 : 16 111,731 C e – F
Großer chromatischer Halbton 128 : 135 92,179 C F – fis
Kleiner chromatischer Halbton 24 : 25 70,672 C es – e

Zu beachten: Diese Skala ist nicht für die reine Moll-Tonleiter geeignet, da das Intervall es–B keine reine Quinte darstellt.

Über den praktischen Sinn dieser zwölftönigen Stimmung lässt sich streiten, denn sie ist auf keinen Fall so flexibel einsetzbar wie die gleichstufige Stimmung. Es gibt aber mindestens zwei Arten, sie in sinnvoller Weise zu benutzen. Die erste Art ist, in den zentralen Tonarten zu bleiben und gewisse Restriktionen zu beachten. Auf diese Weise bekommt man eine (für viele Ohren) sehr harmonisch klingende Musik, ist aber in der Komposition bzw. Stückauswahl recht beschränkt. Die zweite Art ist, alle möglichen Klänge, also sowohl die extremen Dissonanzen als auch die extremen Konsonanzen dieser Stimmung zuzulassen und so speziell für diese eine Stimmung, aber ohne Einschränkungen, zu komponieren.

Ein Beispiel für die erste Art ist, modulierenderweise in der C-Dur- oder G-Dur-Skala zu bleiben, dabei aber, für C-Dur, das D in manchen Zusammenhängen zu unterlassen, und für G-Dur, das A in manchen Zusammenhängen zu unterlassen. Als Beispiel für die zweite Art sei hier die CD the harp of new albion von Terry Riley genannt. Diese Pianosoloaufnahme verwendet einen Flügel mit der in diesem Artikel genannten erweiterten Stimmung, nur ist die Grundlage das Cis und nicht das C, und es wird der Tritonus 45:64 benutzt.

Klangbeispiele

Johann Sebastian Bach: Präludium in C-Dur aus dem ersten Band des Wohltemperierten Klaviers, BWV 846

Beispiel 1: Takte 1 bis 5

  • Die im Text beschriebene 7stufige (reine) C-Dur-Tonleiter führt zwar zu einem melodisch sinnvollen großen Ganzton (9:8) c-d (a), doch wird die Quinte d-a (b) dadurch unrein (40:27 statt 3:2, sie ist mit ca. 680,448 Cent um ein syntonisches Komma zu klein). Anhören/?
  • Durch Erweiterung der Skala um ein erniedrigtes d (a) wird die Quinte d-a (b) nun zwar bereinigt, doch entsteht zum einen ein unmelodischer kleiner Ganzton (10:9) und zum anderen eine deutlich hörbare (syntonische) Kommadifferenz (81:80) zwischen den d's des zweiten und des dritten Taktes (c). Anhören/?
  • Bei Annahme der Naturseptime (7:4 statt 9:5) im Dominantseptakkord (d) entsteht ein zusätzliches „septimales Komma“ (64:63, ca. 27,264 Cent) zwischen dem f des zweiten und des dritten Taktes (e). Der Gleitton f-e wird als „septimaler Halbton“ (21:20, ca. 84,467 Cent) eng intoniert (f). Anhören/?

Beispiel 2: Takte 5 bis 11

  • Auch die 12stufige, chromatische Skala beinhaltet (nur) die unreine Quinte d-a (40:27), die hier zweimal als Teil des Doppeldominant-Septakkordes erklingt (a). Anhören/?
  • Der Ausgleich dieser Quinte erfordert nun ein pythagoreisch eingestimmtes a (27:16 statt 5:3), das gegenüber dem a als Grundton der Tonikaparallele um ein syntonisches Komma erhöht ist (b). Da die Kommadifferenzen hier in einer der Mittelstimmen erklingen fallen sie kaum ins Gewicht – mit einem durchaus annehmbaren klanglichen Resultat. Anhören/?
  • Im Gegensatz dazu führt der als Naturseptime intonierte Ton c der Doppeldominante wiederum zum deutlich hörbaren „septimalen Komma“ (c). Anhören/?

Siehe auch

Quellen

  1. Hugo Riemann: Ideen zu einer „Lehre von den Tonvorstellungen“ in: Jahrbuch Peters 1914/5, S. 18f

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