Kathedrale von Lincoln

Die Kathedrale von Lincoln (Cathedral Church of the Blessed Virgin Mary of Lincoln; auch: St. Mary's Cathedral) ist eine alte Kathedrale in Lincoln (Großbritannien). Sie ist im gotischen Stil erbaut mit alten normannischen Elementen. Sie ist Sitz der Diözese von Lincoln der Church of England.
Unter Kennern der Architekturgeschichte wird sie seit langer Zeit verehrt. Der berühmte viktorianische Dichter John Ruskin erklärte, "Ich habe es immer dafür gehalten... dass die Kathedrale von Lincoln das wertvollste Stück der Architektur der Britischen Inseln ist und grob gesagt soviel Wert ist wie irgendwelche zwei anderen Kathedralen, die wir haben."
Die Kathedrale von Lincoln ist heute ein riesiger, komplizierter Baukörper, zusammengesetzt aus Bauteilen unterschiedlichster Epochen. Lincoln ist voll von Versuchen nach allen erdenklichen Richtungen der Gliederung, der Gewölbebildung und der Ornamentierung. In unerschöpflicher Mannigfaltigkeit ist von dem schwarzen Purbeck-Marmor Gebrauch gemacht worden für Dienstschäfte, Kapitelle und Sockelblenden. An Pracht und Aufwand des Details dürfte ihr keine kontinentale Kirche gleichkommen. (Hürlimann, S. 36)
In der heutigen Form ist Lincoln eine dreischiffige Emporen-Basilika mit weiten Jochen, in der Mitte zwei Querschiffen (das westliche ist länger und besitzt einen Vierungsturm). Während die englischen Kathedralklöster in der Regel frei in der Landschaft in einem eigenen Bezirk liegen, ist Lincoln wie die Kathedralen des Festlandes in die Stadt eingebaut.
Vorgeschichte
Wilhelm der Eroberer nutzte im Jahr 1067, ein Jahr nach der Eroberung Englands, die Gelegenheit, einen seiner alten Weggefährten auf eine wichtige Machtposition zu bringen. Damals lag der Sitz der Diözese noch nicht in Lincoln, sondern in der Dorchester Abbey in Dorchester-on-Thames in Oxfordshire. Der dortige angelsächsische Bischof Wulfwig war 1067 gestorben. Wilhelm holte daraufhin Remigius von der Abtei Fécamp in der Normandie nach England (Rémy de Fécamp). In der Nähe der königlichen Festung begann im Schutz alter römischer Mauern und in beherrschender Lage auf dem Hügel von Lindum der Aufstieg der Abtei noch vor dem Jahr 1075, in dem der Beschluß gefasst worden war, Bischofssitz nur in größeren Städten zu errichten.
Die Bauarbeiten begannen 1072 und waren 1092 vollendet. Zwei Tage vor der Einsegnung der Kathedrale am 9. Mai starb Remigius. Erhalten sind von diesem ca. 100 Meter langen Bau zentrale Teile der Westfassade und der untere Teil des Westturms.
1137 – oder 1139 - gab es einen großen Brand.
Der Wiederaufbau erfolgte unter Bischof Alexander (1123-48), genannt ‚der Prächtige’ wegen seines extravaganten und kostspieligen Geschmacks. Er ist verantwortlich für die figurenreiche Gestaltung der romanischen Westfassade. Über den Portalen der Westfassade befindet sich aus dieser Zeit noch ein Relieffries mit Szenen aus dem Alten und Neuen Testament zuseiten der Majestas Domini (um 1141-50). Hier zeigt sich der früheste Einfluß der Ile de France (Basilika Saint-Denis) in England.
Diese Fassade aus dem 2. Viertel des 12. Jahrhunderts zeigt drei Nischen, deren Größe und Breite sich zur Mitte steigern. Oberhalb ihres Rundbogenabschlusses füllen Blendarkaturreihen die Fläche, ein Motiv, das beim Innen- und Außenbau englischer Kirchen sehr beliebt ist. Darüber steigen die Türme auf. Das Reliefband über dem romanischen Mittelportal ist späteren Datums. Es wurde im 14. Jahrhundert nachträglich eingefügt. Das große Mittelfenster stammt aus dem 15. Jahrhundert des Perpendicular Style.
Das romanische Westportal zeigt auf seinen Säulenschäften normannische Dämonen- und Zickzackornamentik. Vorbilder für die ornamentale Gestaltung vieler Motive finden sich in der Buchmalerei der „Schule von Winchester“ des 11. Jahrhunderts. Eine andere Motivquelle ist die Elfenbeinschnitzerei.
Alexander der Prächtige sorgte auch dafür, dass das Mittelschiff endlich ein Steingewölbe erhielt, damit ein möglicher nächsten Brand nicht die gesamte Kirche erfassen konnte. Aber dann kam …
1185 Erdbeben: Die Kathedrale wird schwer getroffen. Der Chronist Roger von Hoveden berichtet, die Kirche sei von oben bis unten gespalten worden.
Neubau 1192 - 1235
Nach dem Erdbeben wurde als neuer Bischof ‘St. Hugh of Lincoln’ ernannt, der aus Avalon in Frankreich stammte (St. Hugo von Avalon, 1186-1200; 1220 bereits heiliggesprochen). Er begann 1192 mit einem neuen groß angelegten Steinbau, der 1235 abgeschlossen wurde (Architekt Geoffrey de Noiers). Man begann am östlichen Ende der Kirche mit einer Apsis und fünf kleinen Radialkapellen. Dann wurde das Hauptschiff im Stil des Early English erneuert und wurde damit der für die Kirchen des Early English bestimmende Bau.
Das Aufrißsystem des 12. Jhs. wurde aufgelockert. Die neuen ganz schlanken Dienstbündel des vielteiligen Rippengewölbes setzen auf Konsolen auf oberhalb der Arkadenkapitelle; die Zwickel des Emporengeschosses werden von Rosetten durchbrochen. Weder die Horizontale noch die Vertikale beherrschen die Wandfläche. Im Querhaus verbindet um 1200 zum erstenmal eine Längsrippe (Scheitelrippe) die Scheitelpunkte des Gewölbes (ungefähr zeitgleich mit Ely). Das Sterngewölbe kündigt die Komplexität der spätgotischen Gewölbe an. Ein Teil der Gewölberippen verschwindet in der Wand, bevor das ‚tragende’ Kapitell erreicht wird – ein frühes Beispiel einer sonst erst in der Spätgotik auftretenden „Verschneidung“.
Zwischen den Obergadenfenstern und der unteren Arkadenreihe liegt das Triforiumsgeschoss, das aber auch Emporencharakter hat, d.h. der Raum hinter den Säulen ist betretbar, aber dunkel.
Die Seitenschiffe haben zwei Fenster pro Joch wie in Salisbury, jedoch eine reichere Gewölbezeichnung. Vor allem die Sockelblenden unter den Seitenschifffenstern treten in den unterschiedlichsten Formen auf. Im Chor werden sogar zwei Schichten solchen Blenden miteinander verschränkt.
Die Blendarkaturen finden eine Fortsetzung auch in den unteren Partien der Anbauten, seitliche Abschlüsse werden durch kleine Ecktürme ergänzt. Somit entsteht eine vor die Türme geblendete Schauwand.
Um 1200 wird das ‚Dean’s Eye’, ein Rundfenster in die Aussenseite des nördlichen Armes des großen Querhauses eingebaut.
Ab 1220 wurde der Kreuzgang mit dem zehneckigen Kapitelhaus (frühestes gotisches) – ausnahmsweise auf der Nordseite – errichtet. Das Kapitelhaus wird seit dem 14. Jahrhundert gestützt von einem äußeren Strebenkranz. Vom inneren Mittelpfeiler strahlen die 20 Rippen des Sterngewölbes aus.
Unter Meister Geoffrey de Noiers kam ein östliches Querhaus hinzu mit je zwei halbrunden Ostkapellen, vier Chorjoche (Vorderchor) und ein westliches Querhaus mit Seitenschiffen an der Ostseite beider Flügel, die je drei Kapellen – nun aber gerade geschlossen – enthalten. Die Vierungspfeiler wurden 1239 nach dem Einsturz des Turmes verstärkt.
Dann folgte 1220-1230 ein gotischer Ausbau der Westfassade, der auch für die heutige extreme Breite verantwortlich ist. Eigenartig ist, dass bei dieser Westfassade das normannische Nischenmotiv für die Gestaltung der Eingangszone beibehalten wurde. Über dem Mittelportal liegt der gotische Fries mit den Königen aus dem 14. Jh. Die Waffelmuster-Verkleidung der Flächen in der großen Nische des Mittelportales wird im Englischen ’gauffrure’ genannt. Sie ist möglicherweise von islamischen Wandverkleidungen angeregt.
Vom Langhaus wurden sieben Joche 1233 eingewölbt, wobei es zu einem ersten Versuch kam, das Gewölbe mit Rippen zu bereichern, und zwar durch Scheitel- und Flechtrippen. Hier begann der Prozeß der allmählichen Auffächerung des Rippenbündels, zu dem es auf dem Festland keine Parallele gab. Die neue französische Erfindung der Strebewerkes wurde ausprobiert. Das ermöglichte auch den Einbau von größeren Fenstern.
1235 wird Robert Grosseteste, ein berühmter Theologe und Wissenschaftler, Bischof. In seinen ersten Jahren entsteht an der Westseite des südlichen Querhauses ein reich dekoriertes Seitenportal mit Vorhalle, das als ‚Galiläa’ bezeichnet wird (s. Narthex)
1239 stürzt der gerade vollendete Vierungsturm ein.
Abschliessende Arbeiten
1256 bis 1320 folgten die Bauteile östlich des kleinen Querhauses, das Presbyterium und der Retrochor, der wegen seiner figürlichen Ausschmückung auch ‚Engelschor’ genannt wird und ein Frühwerk des Decorated Style darstellt mit Maßwerkformen von bis zu 18 Metern Höhe. Wegen dieser Osterweiterung der Kathedrale musste die ehemalige Stadtbefestigung durchbrochen werden.
Der 1239 eingestürzte Vierungsturm erhält 1307-11 ein Obergeschoß.
1300-1320 erhält der Innenraum die berühmte Chorschranke (choir-screen) im extrem gesteigerten Decorated-Style. Das gewaffelte Rosettenmuster wird diaper-work genannt. Es wird vermutet, dass hier islamische Fliesenverkleidungen in Steinarbeit übersetzt wurden (Hürlimann S. 38). In der zeitgleichen französisch-englischen Buchmalerei erscheinen solche Muster als ‚Damaszierung’ als Hintergrund von Figurenszenen.
1330 Das ‚Bishop’s Eye’ genannte Rundfenster in der Stirnfront des südlichen Armes des großen Querhauses von 1325 wird eingebaut. Es war ursprünglich zeitgleich mit dem ‚Dean’s Eye’ entstanden und wurde jetzt rekonstruiert.
Unter John of Welbourne (gest. 1380) werden über, genauer hinter der alten normannischen Westfassade die Türme hochgezogen
1484 (oder 1494) wurde an der Nordseite des Chors eine Kapelle angebaut, die ‚Flaming’s Chantry’ genannt wird, später an der Südseite die Russel’s Chantry (1494) und die Longland’s Chantry (1521-30). Zwischen ihnen verblieb das alte Chorportal von 1270 mit seinem ‚Jüngsten Gericht’ im oberen Bogenfeld.
Gewölbe
Der Beginn der gotischen Baukunst in England wird allgemein mit dem Ostabschluß der Kathedrale von Canterbury 1175 angenonmen, die eigentliche englische Gotik aber, das Early English, setzt mit dem Neubau der Kathedrale von Wells 1180 und Lincoln 1192 ein. Besonders im Gewölbebau geht England jetzt ganz eigene Wege. Es übernimmt zwar von Frankreich seine eigene Erfindung des Kreuzrippengewölbes, gebraucht es in seiner einfachen, ursprünglichen Form aber kaum, sondern entwickelt Formen, die auf dem Festland entweder keine oder nur späte Nachahmung finden (Ende 14. Jh.).
Die erste Variation des ursprünglichen Rippenschemas fand im östlichen Querschiff hier in Lincoln statt (1192 - 1200), wo Scheitel- und Querscheitelrippen aufgenommen wurden, allerdings nicht im selben Gewölbefeld kombiniert (mit einer gewissen, merkwürdigen Ausnahme an der nördlichen Schildwand, wo zwei „halbe“ Scheitelrippen einen rechten Kinkel bilden). Im Hauptquerschiff (1200 - 20) wurden dann Scheitelrippen vollständig ausgeführt, und zwar von der Schildmauer bis zur Vierung.
Eine weitere frühe und gleichzeitig die merkwürdigste Veränderung im Kreuzrippensystem hat der Baumeister des Mittelschiffs im Vorderchor um ca. 1200 geschaffen, die so genannten „crazy vaults“, deren Figuration sich mit Worten nur schwer beschreiben läßt. Franz Hart spricht von einer „Spaltung der Diagonalrippe“, was als Beschreibung sicher nicht genügt. Es ergibt sich in der Aufsicht das Bild eines schräg von rechts oben betrachteten Paralleldaches - allerdings als Kippfigur, so dass sich das gleiche auch als Untersicht von links bezeichnen läßt. Die Scheitellinien der Stichkappen stehen dabei nicht senkrecht auf der Chorscheitellinie, sondern die der südlichen sind mehr nach Osten, die der nördlichen mehr nach Westen gewandt. Jedes Joch hat zwei Schlußsteine.
Der Nachfolger dieses Baumeisters in Lincoln war nicht ganz so experimentierfreudig. Er kehrte zur Symmetrie zurück und schuf 1233 im Langhaus-Gewölbe mit der Kombination von Scheitelrippe und mehreren Flechtrippen gleichzeitig das erste Stern- und Fächergewölbe, auch Strahlen- oder Palmengewölbe genannt; diese Form des Fächergewölbes ist zu unterscheiden von der später im Perpendicular-Stil aufkommenden so genannten „reifen Form des Fächergewölbes“.
Außergewöhnlich ist noch ein frühes Beispiel für ein erst in der Spätgotik angewandtes Prinzip, das der Verschneidung, wo ein Teil der Rippen vor dem Erreichen des Gewölbedienstes in der Wand verschwindet, bzw. sich optisch in den anderen Rippen auflöst.
Die Kathedrale von Lincoln war überhaupt ein großes Experimentierfeld für mehrere architektonische Richtungen, was zu einer Pracht und Detailfülle führte wie in kaum einer kontinentalen Kirche.
Literatur
- Bock, Henning: Der Decorated Style. Untersuchungen zur englischen Kathedralarchitektur der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Heidelberg 1962
- Bony, Jean: The English Decorated Style. Gothic Architecture Transformed 1250 - 1350. New York 1979
- Coldstream, Nicola: The Decorated Style. Architecture and Ornament, 1240-1360. British Museum Press 1999. ISBN-13: 978-0714127347
- Erlande-Brandenburg, Alaine: Gotische Kunst. Freiburg-Basel-Wien 1984, Abb. 355,798ff;
- Hart, Franz: Kunst und Technik der Wölbung. München 1965
- Hürlimann, Martin: Englische Kathedralen. Zürich 1948
- Kowa, Günter: Architektur der englischen Gotik. Köln 1990
- Schäfke, Werner: Englische Kathedralen. Eine Reise zu den Höhepunkten englischer Architektur von 1066 bis heute. Köln 1983. (DuMont Kunst-Reiseführer), S. 93-116, Abb. 28-32; Farbtafel 7,21;
- Swaan, Wim: Die großen Kathedralen. Köln 1969, S. 183, Abb. 197,206-215,257;
- Toman, Rolf (Hrsg.): Die Kunst der Romanik. Architektur - Skulptur - Malerei. Köln 1996, S. 221

Hier befindet sich auch der Sitz der Diözese Lincoln, die der Church of England zugehörig ist (vgl. Liste der Bischöfe von Lincoln).
Des Weiteren beherbergt die Kirche auch eine öffentliche Bibliothek: Das Lincoln Cathedral Library. Diese beherbergt unter anderem eine der seltenen Kopien der Magna Carta sowie eine Bibel aus dem 11. Jahrhundert (Lincoln Chapter Bible).
Die Kathedrale wurde im Jahr 2000 mit einem Kostenaufwand von ca. drei Millionen Euro restauriert.
2005 wurden hier die Szenen für den Kinofilm The Da Vinci Code – Sakrileg (als Kulisse für das Westminster Abbey) abgedreht. Dies bescherte der Kirche hohe Einnahmen und forcierte den Besucheransturm.
Der Bau befindet sich am Minster Yard in der Altstadt im Südosten der Stadt gegenüber des Lincoln Castle. Beide Gebäude stehen in der Oberstadt.

Weblinks
- jeweils Englisch -