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Vergeltung

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Als Vergeltung bezeichnet man im weitesten Sinn jede Reaktion auf eine vorhergegangene Aktion auf Gegenseitigkeit (Reziprozität). Meist wird der Begriff synonym für Strafe mit dem Charakter der Sühne - auch der Rache - verwendet, seltener auch für eine positive Gegenleistung oder Belohnung (Vergelt's Gott!). Von letzterer Bedeutung stammt auch der Begriff Geld als Tauschmittel, das verschiedene Gebrauchswerte in Bezug auf ihren gemeinsamen Tauschwert vergleichbar und damit austauschbar werden lässt.

Nach dem Soziologen Richard Thurnwald ist Gegenseitigkeit, die einen Ausgleich zwischen Leistung und Gegenleistung herstellen will, ein Grundaspekt ethnischer Gesellschaften und die Basis für jede soziale Vorstellung von Gerechtigkeit. In verschiedenen Religionen und Ideologien spielt Vergeltung als kosmisches, rechtliches und/oder politisches Prinzip von Tun und Ergehen oder Lohn und Strafe eine besondere Rolle: im Verhältnis eines Gottes zu den Menschen wie unter den Menschen, in diesem oder einem jenseitigen Leben.

Vergeltung als Rechtsprinzip

Herkunft

Hauptartikel: Auge für Auge und Talion

Das Vergeltungsprinzip ist eine Wurzel nicht nur des abendländischen Rechts: Man findet zum einen das sogenannte Ius talionis oder Lex talionis in frühen antiken Rechtstexten, die eine Verhältnismäßigkeit zwischen Tat und Sühne herstellen bzw. Schadensersatz gewähren wollen. Es gab aber zum anderen schon immer die mehrfache Vergeltung, das Duplum und auch darüber hinausgehende Bußen, allerdings nicht für Totschläge und Körperverletzungen. So gab es die doppelte bis zehnfache Buße bei bestimmten Vermögensdelikten.

Die Vergeltung bezieht sich aber nur auf Menschen untereinander. Sie ist also nicht bei kultischen Delikten zu finden und wird auch durchbrochen, wo mit der Strafe auch andere Strafzwecke verfolgt werden, wie Generalprävention und Spezialprävention. Außerdem hat sie nur dort eine Funktion, wo die Privatstrafe Teil der Rechtsordnung ist. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass gegen einen Gruppenfremden oder eine fremde Gruppe ein Strafanspruch besteht oder die Strafe vom Verletzten vollzogen wird oder ihm zu Gute kommt.[1] Dabei handelt es sich darum, dass bisher außerrechtliche Auseinandersetzungen verrechtlicht werden: Aus Krieg wird Fehde, aus Fehde Prozess. Im Zuge dieser Entwicklung wurden die Sanktionen von der Duldung brachialer Aktionen zu Vermögensbußen abgewandelt. Das Rechtsprinzip der Vergeltung hörte auf, als das Strafrecht zum öffentlichen Recht wurde. Dieser Prozess setzte bereits im 12. Jahrhundert ein.

Griechisch-römische Antike

Ähnliche Entwicklungen zu einer Kodifizierung und Verrechtlichung archaischen Rachedenkens lassen sich auch sonst in der Antike feststellen, etwa bei Drakon in Athen (621 v. Chr.). Bloße Selbstjustiz wurde als Gefahr für das Gemeinwesen erkannt: Wo Rache um jeden Preis gesucht wird, dort herrscht unbeschränkte Willkür und Gewalt (vgl. Bellum omnium contra omnes), die zu Maß- und Fristlosigkeit tendiert und damit den Anlass und Ausgangsschaden weit übertrifft. Die Rache sollte durch Recht zurückdrängt werden: Dazu erforderte es ein auf ein Gewaltmonopol gestütztes Gerichtswesen, also eine sozial anerkannte allgemeine Rechtsinstanz, die das Vergehen und das Strafmaß feststellen und seine Ausführung überwachen sollte. Damit kamen aber andere Strafzwecke ins Spiel: Auf Seneca wird der Satz zurückgeführt: „Kein Vernünftiger straft allein wegen des begangenen Unrechts; der Vernünftige straft, um künftige Gefahr zu verhüten.“[2] Damit ist der Gedanke der Vergeltung grundsätzlich in Frage gestellt.

Judentum

In den mündlichen und schriftlichen Erörterungen der Rabbiner wurde das Talionsprinzip schon vor Christus problematisiert und kontrovers erörtert. Näheres unter Auge für Auge

Christentum

Besonders im Neuen Testament korrigiert christliche Nächstenliebe die Vergeltung. So heißt es (NT, Matthäus 5, 38ff.): "38. Ihr habt gehört, dass da gesagt ist: ´Auge um Auge, Zahn um Zahn.´ 39. Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Übel.; sondern, so dir jemand einen Streich gibt auf deinen rechten Backen, dem biete den andern auch dar. 40. Und so jemand mit dir rechten will und deinen Rock nehmen, dem lass auch den Mantel. 44. ...Liebet eure Feinde; segnet, die euch fluchen; tut wohl denen, die euch hassen, bittet für die, die euch beleidigen und verfolgen."

Auch hier handelt es sich um Prinzipien für Personen untereinander. Auf staatliche Sanktionen sind diese Forderungen nicht gemünzt.

Islam

Der Offenbarungscharakter des koranischen Vergeltungsrechts und dessen konkrete Strafbestimmungen begrenzen im Islam die Auslegungsmöglichkeiten des Talionsgebots. Die Schari'a macht offenbartes, durch Auslegungen Mohammeds (Sunna) und spätere Rechtsprechung tradiertes Recht für alle Lebensbereiche geltend. Sie unterscheidet grundlegend zwischen Verstößen gegen Gottesrecht und Menschenrecht. Erstere werden mit im Koran festgelegten Grenzstrafen (hudud) - meist Steinigung oder Geißelung - bestraft, um die göttliche Ordnung zu sichern; letztere werden entweder durch Familienangehörige der Opfer vergolten (quisas) oder nach dem Ermessen eines Richters bestraft.

Bei Vergehen gegen Leib und Leben anderer Menschen wird die Wiedervergeltung nach Sure 5,45 angewandt. Ein islamisches Gericht muss zuerst die Schuld des Täters feststellen. Dabei reichen die Aussage des Opfers und eines anderen Zeugen für eine Verurteilung aus. Diese müssen keine direkten Augenzeugen sein; auch ein Indizienbeweis wird in Qisas-Fällen zugelassen.

Bei gerichtlich festgestellter Körperverletzung dürfen das Opfer oder seine Familie dem Täter unter Aufsicht des Richters die exakt gleiche Verletzung zufügen, die er dem Opfer zugefügt hatte. Der Täter muss zudem eine gute Tat für Gott begehen, etwa fasten oder eine Geldspende entrichten, früher einen Sklaven freilassen. Bei Tötungsdelikten wird der Täter nur dann getötet, wenn der nächste männliche Verwandte des Opfers dies vor Gericht verlangt. Zudem darf die Vergeltung gemäß Sure 2,178 nur dann vollstreckt werden, wenn Täter und Opfer „gleich" sind: Für einen Mann darf nur ein anderer Mann, für eine Frau eine andere Frau, für einen Sklaven ein Sklave getötet werden. Diese Bedingung erfüllen nur wenige Fälle, so dass dann nur eine vom Richter festgesetzte Strafe in Betracht kommt. Diese kann je nach Beurteilung des Einzelfalls von Freispruch bis zur Todesstrafe reichen. Ein Verfahren wird sofort eingestellt, wenn das Opfer dem Täter vergibt oder dieser glaubhaft und nachhaltig Reue bekundet.

Wer dieses Wiedervergeltungsrecht bricht, kann auf Antrag des Opfers oder seiner Familie strafverfolgt werden. Faktisch üben Opferfamilien jedoch oft Selbstjustiz, die als Blutrache für die Verletzung der Familienehre gesellschaftlich gebilligt und vielfach nicht verfolgt wird. Erst die Tötung dessen, der die Ehre verletzt hat, gilt als deren Wiederherstellung.

Wenn eine Wiedervergeltung wegen Ungleichheit von Täter und Opfer nicht möglich ist oder die Familie des Opfers sie nicht verlangt, kann diese dafür einen Blutpreis (diya) beanspruchen. Für eine Frau ist das Blutgeld nur halb so hoch. Auch für Nichtmuslime ist es meist niedriger. Bei einer Körperverletzung wird die Höhe nach der Schwere der Tat abgestuft. Die Zahlung ersetzt nicht die gute Tat, die ein Täter auch dann begehen muss.[3]

Neuzeit

Das Talionsprinzip wurde allmählich abgewandelt: Man versuchte, unter dem Stichwort „Angemessenheit“ den Gesichtspunkt des Gleichgewichts zwischen Tat und Strafe auch im staatlichen Strafrecht zur Gleltung zu bringen. Demzufolge sollte das Strafmaß sich nunmehr nicht mehr wie bisher am Schaden, den der Täter verursacht hatte, orientieren, sondern sich nach der kriminellen Energie des Täters bemessen. Diese wurde als Unrecht gewertet, insofern sie gegen eine allgemeingültige Rechtsnorm verstößt. Dabei unterschied bereits die Antike zunehmend genau zwischen Unfall, Versehen, Fahrlässigkeit und Vorsatz. Letzterer rückte neuzeitlich in den Mittelpunkt der Rechtsphilosophie: Denn mit dem im Naturrecht begründeten Menschenrechten war das Bild eines ethisch verantwortlichen Täters verbunden, der moralische Entscheidungsfreiheit besitze und darum schuldfähig sei.

Immanuel Kant leitete in seiner Metaphysik der Sitten 1797 Qualität und Quantität der Strafe aus dem Ius talionis her: Dieses war für ihn die Basis der den Individuen übergeordneten staatlichen Rechtsordnung. Ihm war bewusst, dass ein Rechtsstaat das Prinzip ‘Gleiches mit Gleichem’ nicht buchstäblich erfüllen könne, aber gleichwohl durchsetzen müsse, um die Rechtsordnung zu wahren und Unrecht zu „sühnen“. Daher müsse er nach einem „Surrogat zur Befriedigung der Gerechtigkeit” suchen, also einer staatlichen Sanktion, die „proportionirlich mit der inneren Bösartigkeit der Verbrecher” zu halten sei.[4] Er bestand daher auf der Hinrichtung eines Mörders sogar für den fiktiven Fall, dass eine Gesellschaft ihre Selbstauflösung beschließe:

Selbst wenn sich die bürgerliche Gesellschaft mit allen Gliedern in Einstimmung auflöste (z.B. das eine Insel bewohnende Volk beschlösse, auseinanderzugehen und sich in aller Welt zu zerstreuen), müsste der letzte im Gefängnis befindliche Mörder vorher hingerichtet werden, damit Jedermann das widerfahre, was seine Taten wert sind, und die Blutschuld nicht auf dem Volke hafte, das auf die Bestrafung nicht gedrungen hat: weil es als Teilnehmer an dieser öffentlichen Verletzung der Gerechtigkeit betrachtet werden kann.[5]

Kant hielt damit den biblischen Gedanken fest, dass die Strafe nicht nur eine Norm oder einen sozialen Zweck erfüllen, sondern eine Tat am Täter sühnen müsse und dafür das Kollektiv verantwortlich sei. Aber er war sich auch darüber im Klaren, dass ein Gleichgewicht zwischen Tat und Vermögensstrafe nicht auch ein Gleichgewicht bei den Tätern bewirke, weil ein Reicher sich eine solche Tat im Gegensatz zum Armen durchaus erlauben können [6] Damit hatte er das Vergeltungsprinzip der Privatstrafe auf die Vergeltung gesellschaftlicher Rechtsgüter übertragen.

Auch Hegel vertrat dieses Prinzip in den Grundlinien der Philosophie des Rechts 1821: Ein Verbrechen werde durch Wiedervergeltung „aufgehoben“, die „dem Begriffe nach Verletzung der Verletzung“ sei. Die eigentliche ursächliche Verletzung lag also auch für ihn nicht so sehr im angerichteten Schaden, sondern im verbrecherischen Wollen des Täters. Dieses müsse unbedingt auf ihn zurückgewendet werden, damit die Allgemeingültigkeit der Rechtsordnung gewahrt wird.

Der Rechtswissenschaftler Hans Welzel (1904-1977) führte diese Gedanken weiter aus und vertrat, dass die Schuld des Täters das Strafmaß nicht nur rechtfertigen, sondern auch „zumessen“ solle. Dieser Gedanke ist in § 46 des bundesdeutschen Strafgesetzbuchs eingeflossen:[7]

Die Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung der Strafe.

Die Möglichkeit dazu wird jedoch von juristischer, pädagogischer, psychologischer und soziologischer Seite vielfach in Frage gestellt. Wie die „innere Bösartigkeit“ eines Täters objektiv festgestellt werden soll, ist ebenso umstritten wie der Sinn des danach orientierten Strafmaßes, sowohl für den Täter wie für die Gesellschaft, die Recht wahren und durchsetzen will. Kritiker weisen darauf hin, dass mit dieser am Täter orientierten Zumessung Verbrechern faktisch die Definitionsmacht für Strafbarkeit und Strafmaß zugestanden und mit der Vergeltung das Verbrechen nicht „aufgehoben", sondern nur verlängert werde.

Vergeltung als Universalgesetz

Nationalsozialismus

Erbarmungslose Vergeltung wurde im Nationalsozialismus zum einen als jüdisches Wesen, zum andern als eine Art Naturgesetz und notwendige Selbstbehauptung im „Rassenkampf" propagiert.

Asiatische Religionen

Hinduismus, Buddhismus und Taoismus glauben an das ewige Rad des Karma: das vom Selbst erzeugte schicksalhafte universale Vergeltungsgesetz. Das menschliche Wiedervergelten ist demgegenüber gerade nicht gefordert, sondern soll überwunden werden, weil es karmische Wirkungen erzeugt.

Der taoistische Begriff des Geschehenlassens (Wu wei) rät zu einem widerstandslosem auf Gegengewalt verzichtenden Annehmen des erlittenen Unrechts. Der Buddhismus betont die negative Rückwirkung von Vergeltungsgedanken sowie die Gefahr einer leidverursachenden Verlängerung von Feindseligkeit und Gewalt:

Er beschimpfte mich, schlug mich, besiegte mich, beraubte mich - jenen, die darüber grübeln, kommt ihre Feindseligkeit nicht zum Erliegen. Feindseligkeiten kommen nicht durch Feindseligkeiten zum Erliegen, egal was passiert. Feindseligkeiten kommen durch Nicht-Feindseligkeit zum Erliegen: dies - eine nie endende Wahrheit. Nicht so wie jene, die nicht erkennen, dass wir hier am Rande des Todes sind - die, die es erkennen: ihre Streitigkeiten sind zum Erliegen gekommen. (Dhammapada 3-4)

Mahatma Gandhi machte auf die unweigerlichen Folgen jeder gewaltsamen Rache aufmerksam. Ihm wird das Zitat zugeschrieben: Auge um Auge - und die ganze Welt wird blind sein.[8]

Vergeltung als Kriegsstrategie

Im 20. Jahrhundert gewann der Bombenkrieg mit Luftangriffen auf feindliches Hinterland eine dominierende Rolle in der Kriegführung. Seitdem ist Vergeltung ein verbreitetes Propagandaschlagwort für aktive oder reaktive Luftangriffe geworden. So flog die deutsche Luftwaffe vom 20. Januar bis Mai 1944 Angriffe auf britische Städte, vor allem London, die als Vergeltung für vorausgegangene britische Luftangriffe auf deutsche Städte ausgegeben wurden. Dieser von den Briten verspottete „Babyblitz“ hatte keinen militärischen Zweck mehr. [9] Zugleich wurden den Deutschen seit 1943 „Vergeltungswaffen“ angekündigt, die die entscheidende Kriegswende herbeiführen sollten. Diese seit Juni 1944 einsetzbaren V1- und V2-Raketen waren nicht präzise lenkbare Fernwaffen, die nur noch dem Terror der feindlichen und Beruhigung der eigenen Bevölkerung dienten.[10] Als ebenso sinnlos bewerten manche Historiker heute auch die alliierten Luftangriffe auf Dresden und Hamburg.[11]

Im Kalten Krieg spielten auf beiden Seiten des Ost-West-Konflikts konventionelle und vor allem atomare Kriegsszenarien und Vergeltungsstrategien zwecks Abschreckung des Gegners eine zentrale Rolle. Seit den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki 1945 bis 1954 drohten die USA der Sowjetunion „massive Vergeltung“ (englisch: massive retaliation) „an Orten und mit Mitteln eigener Wahl" für jeden nicht näher definierten Expansionsversuch an. Erst nachdem die Sowjetunion 1954 ebenfalls nicht nur Atombomben, sondern auch Wasserstoffbomben und Langstreckenbomber besaß, erreichte sie ein atomares „Gleichgewicht des Schreckens". Dieses „Atompatt“ basierte auf der Fähigkeit zum vernichtenden Zweitschlag auch im Falle eines Überraschungsangriffs durch den Gegner (Mutual assured destruction). Dies zwang die USA, ihre Strategie zur „flexiblen Antwort“ (Flexible Response) zu modifizieren.

Referenzen

  1. H. Holzhauer, Sp. 1994
  2. Naucke Sp. 2
  3. Schirrmacher S. 50.
  4. Kant A 200; B 230. (Bd. 4 S. 455)
  5. Kant A 199; B 229 (Bd. 4 S. 455)
  6. Kant A 198; B 228 (Bd. 4 S. 454)
  7. Detlef Krauß: Schuld im Strafrecht
  8. Zitate-Datenbank Itzehoe
  9. Sönke Neitzel: Die deutschen Luftangriffe auf feindliche Städte im Ersten und Zweiten Weltkrieg
  10. Ralf Blank: Die „Battle of the Ruhr“
  11. A.C. Grayling: Among the Dead Cities, Bloomsbury, 2006, ISBN 0747576718

Literatur

Siehe auch