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Demokratischer Sozialismus

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Der Demokratische Sozialismus ist eine politische Zielvorstellung, die Demokratie und Sozialismus verbinden will. Sie entstand im Kontext des Zerfalls der 2. Internationale als Gegensatz zu antidemokratischen Tendenzen zuerst der Sozialdemokratie, dann des Leninismus. Seither wird er von verschiedenen linksgerichteten Gruppen, Parteien und Regierungen beansprucht und oft als Alternative sowohl zu Kapitalismus als auch Realsozialismus aufgefasst. In den realsozialistischen Staatsideologien wird der Begriff dagegen als Revisionismus gedeutet und abgelehnt.

Geschichte in Deutschland

In den Programmen der Sozialdemokratie vor dem 1. Weltkrieg wurden Demokratie (gleiches Wahlrecht aller Bürger, also Abschaffung von Monarchie und Klassenwahlrecht) und Sozialismus (volle Selbstbestimmung der Arbeiter im Wirtschaftsprozess, also Überwindung des Kapitalismus und jeder Klassengesellschaft) nicht unterschieden, sondern als zwei untrennbare Aspekte der angestrebten gerechten und freien Zukunftsgesellschaft aufgefasst. Erst seitdem die SPD unter Friedrich Ebert mit ihrer Burgfriedenspolitik ein Kriegsbündnis mit der Monarchie einging, wurde ein demokratischer von einem undemokratischen Sozialismus unterschieden.

USPD

Die Unterscheidung entstand im Umfeld der im April 1917 gegründeten USPD, die im Gegensatz zur Mehrheits-SPD eine sofortige Beendung des Krieges durch eine Sozialrevolution anstrebte. Deren Mitglieder begrüßten die russische Oktoberrevolution desselben Jahres anfangs meist als Impuls für eine umfassende Demokratisierung von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft in Deutschland, teilweise im Sinne einer Räterepublik. Der Demokratische Sozialismus wurde dort nicht unbedingt als Alternative zum Marxismus, sondern als weitgehend identisch mit den Vorkriegszielen der SPD und der 2. Internationalen verstanden.

Leninkritik Rosa Luxemburgs

Eine weitere Abgrenzung erfolgte kurz nach der Oktoberrevolution von seiten der Mitgründerin und Wortführerin des Spartakusbundes, Rosa Luxemburg. Ihr 1918 im Gefängnis verfasstes, danach nicht veröffentlichtes Manuskript bekräftigte die Notwendigkeit diktatorischer Eingriffe des Proletariats - aber nicht einer Parteielite - in die Wirtschaftsordnung zur Durchführung der Revolution unter den gegebenen Umständen Russlands und formulierte zugleich die erste scharfe Kritik am Partei- und Revolutionskonzept der Bolschewiki:[1]

Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für die Mitglieder einer Partei - und mögen sie noch so zahlreich sein - ist keine Freiheit. Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden...Ohne allgemeine Wahlen, ungehemmte Presse und Versammlungsfreiheit, freien Meinungskampf erstirbt das Leben in jeder öffentlichen Institution, wird zum Scheinleben, in der die Bürokratie allein das tätige Element bleibt. Das öffentliche Leben schläft allmählich ein, einige Dutzend Parteiführer von unerschöpflicher Energie und grenzenlosem Idealismus dirigieren und regieren, unter ihnen leitet in Wirklichkeit ein Dutzend hervorragender Köpfe, und eine Elite der Arbeiterschaft wird von Zeit zu Zeit zu Versammlungen aufgeboten, um den Reden der Führer Beifall zu klatschen, vorgelegten Resolutionen einstimmig zuzustimmen, im Grunde also eine Cliquenwirtschaft – eine Diktatur allerdings, aber nicht die Diktatur des Proletariats, sondern die Diktatur einer Handvoll Politiker, d.h. Diktatur im rein bürgerlichen Sinne, im Sinne der Jakobinerherrschaft … Das ist ein übermächtiges, objektives Gesetz, dem sich keine Partei zu entziehen vermag.

Breiteste demokratische Partizipation und Bewusstseinsbildung der arbeitenden Bevölkerung war für die Autorin die einzige Garantie für einen erfolgreichen Aufbau des Sozialismus, sowohl in Russland wie überhaupt in Europa und der Welt. Entsprechend hieß es im von ihr maßgeblich verfassten Parteiprogramm der neu gegründeten KPD am 1. Januar 1919: Kommunisten würden niemals gegen den ausdrücklichen Willen der Bevölkerungsmehrheit an die Macht drängen, sondern den Sozialismus nur als Ergebnis dieses erklärten und dauerhaft gelebten Volkswillens erreichen können.

Rosa Luxemburgs Schrift wurde jedoch erst 1922 von ihrem Freund Paul Levi unter dem Titel Zur Revolution in Russland veröffentlicht. Anlass dazu war für ihn zum einen der Beschluss der KPD zur „Offensivstrategie“ 1920, den die von Sinowjew geführte Kommunistische Internationale unterstützte, zum anderen der Versuch, die KPD im Kontext des Märzaufstands 1921 zur Abkehr von ihrer Vorstellung, durch Putsch zur Macht gelangen zu können, zu bewegen und ihre Positionierung gegen die SPD-Linke in Frage zu stellen. Daraufhin wurde er aus der KPD ausgeschlossen.

Levis Veröffentlichung trug dazu bei, dass Rosa Luxemburgs Positionen insgesamt von Stalin und der KPdSU als Luxemburgismus denunziert wurden. Von Gegnern des Stalinismus wurden ihre kritischen Passagen dagegen später oft als Inbegriff des Demokratischen Sozialismus zitiert.

Im Zuge der Auflösung der USPD nach 1922 und weiterer Abspaltungen von der SPD wie der 1931 gegründeten SAP gewann der Begriff dann den Sinn einer Art „dritten Weges“ zwischen den erstarrten Alternativen von Stalinismus auf der einen, Reformismus auf der anderen Seite. Jedoch wurde dieser Begriff erst viel später geprägt und dann ebenfalls mit verschiedenen Konzepten inhaltlich näherbestimmt.

Godesberger Programm

Die neu formierte SPD unter Kurt Schumacher übernahm den Begriff nach 1945 als Alternative zur SED. Er stand nun für die Bewahrung der besten sozialdemokratischen Tradition und war Synonym für „soziale Demokratie“. Mit der Verabschiedung des Godesberger Programms von 1959 trat ein weiterer Bedeutungswandel ein: Nun stand der Begriff für die endgültige Abkehr vom Marxismus und Neuausrichtung auf eine Volkspartei, die Regierungsfähigkeit und bürgerliche Wählerschichten durch Anerkennung der Marktwirtschaft und Westbindung gewinnen wollte. Zugleich wurde die Parteilinke mit Hilfe dieses Leitbilds eingebunden.

Willy Brandt verstand den Demokratischen Sozialismus als internationales Parteiziel aller Sozialdemokraten und versuchte als langjähriger Vorsitzender der Sozialistischen Internationale, Friedens- und Entspannungspolitik mit Bemühungen um eine gerechte Weltwirtschaftsordnung zu vereinen. Auch im maßgeblich von Oskar Lafontaine verfassten, nach wie vor offiziell gültigen Berliner Programm von 1989 bekennt sich die SPD weiter zum Demokratischen Sozialismus. Ausgehend von ihrer geschichtlichen Erfahrung soll dieser weiterhin das Fundament ihrer Politik für Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität bilden. Diese Grundsätze leitet die SPD aus dieser sozialistischen Vergangenheit ab und versteht sie zugleich als verpflichtende Grundwerte.

Linksabspaltungen in Westdeutschland

1982 traten im Zuge der damaligen Friedensbewegung und ihrer Opposition gegen die von Bundeskanzler Helmut Schmidt getragene Befürwortung des NATO-Doppelbeschlusses einige Bundestagsabgeordnete aus der SPD aus: darunter Karl-Heinz Hansen und Manfred Coppik. Sie gründeten die Partei Demokratische Sozialisten, die als erste deutsche Partei ausdrücklich diesen Begriff im Parteinamen führte.

Auch die 2005 gegründete WASG beruft sich auf Traditionen des Demokratischen Sozialismus, wobei dieser Begriff allerdings - vor allem aufgrund seiner vorherigen Prägung durch die PDS - heftig umstritten ist.

Demokratisierung der SED in Ostdeutschland

Im Zuge der Wende in der DDR von 1989/90 verlor die seit 1949 alleinherrschende SED ihre Macht. Daraufhin tauschte sie ihr Führungspersonal aus, verabschiedete den Marxismus-Leninismus aus ihrem Programm und benannte sich um in "Partei des Demokratischen Sozialismus".

Damit beanspruchte die PDS jene Traditionen aus der Geschichte der Sozialdemokratie für sich, die ursprünglich gegen die Kriegsbejahung der Mehrheits-SPD, dann gegen den "demokratischen Zentralismus" Lenins und Stalins gerichtet waren. Der neue Parteiname sollte die Abkehr von diktatorischen und totalitären Traditionen des Leninismus und Stalinismus verdeutlichen.

Ihr erstes Programm betonte eine Gesellschaft, deren Entwicklung Frieden, Gewaltfreiheit und soziale Gerechtigkeit hervorbringen, die Ausbeutung des Menschen abschaffen und Raubbau an der Natur überwinden soll. Im Kontrast zur SPD wird der Demokratische Sozialismus zur gesamtpolitischen Zielvorstellung erhoben und als Gesellschaftsordnung aufgefasst, die den Kapitalismus nicht nur zähmen, sondern ablösen soll. Die Dominanz des freien Marktes und des Profitstrebens in allen Lebensbereichen und allen zwischenmenschlichen Beziehungen soll aufgehoben werden. Der Demokratische Sozialismus gilt in Teilen der Linkspartei daher nicht notwendig als Gegensatz zum klassischen Marxismus.

Verhältnis zwischen SPD und Linkspartei

Seit der Kanzlerschaft Gerhard Schröders, den Hartz IV-Gesetzen und dem Parteivorsitz Franz Münteferings wird der Begriff von der SPD-Führung kaum noch aktiv verwendet und als programmatisches Ziel nicht hervorgehoben. Dies hängt mit der realpolitischen Abkehr vom Berliner Programm seit dem Schröder-Blair-Papier (1999), aber auch mit den Stimmengewinnen der Linkspartei bei der Bundestagswahl 2005 zusammen.

In der Partei, die WASG und Linkspartei 2007 gemeinsam gründen wollen, ist der weitere Bezug auf den Begriff nach den beschlossenen Dokumenten vorgesehen.

Bedeutung in anderen Ländern

Als historisches Beispiel für eine nicht revolutionär, sondern durch demokratische Wahlen im Rahmen des bestehenden kapitalistischen Wirtschaftssystems verwirklichte soziale Gerechtigkeit gilt der New Deal des US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt. Er sollte mit Hilfe der Theorien von John Maynard Keynes nach der Weltwirtschaftskrise in den USA die Chancen der sozial benachteiligten Schichten auf Arbeit und Grundeinkommen verbessern, aber keine sozialistische Gesellschaftsordnung herstellen.

In Westeuropa wurde der Versuch Alexander Dubceks im Prager Frühling 1968, das von der Sowjetunion installierte System der Planwirtschaft in der Tschechoslowakei mit marktwirtschaftlichen Freiräumen zu mischen, als „Sozialismus mit menschlichem Antlitz" bezeichnet: Damit waren Tendenzen zu einer Demokratisierung und Zulassung autonomer Gewerkschaften usw. gemeint. Hier wurzelt auch die Gleichsetzung von Demokratischem Sozialismus mit einem sogenannten Dritten Weg zwischen Staatskommunismus und Kapitalismus.

Von dem Versuch, einen Demokratischen Sozialismus aufzubauen, sprach man auch in Lateinamerika nach dem Wahlsieg des Marxisten Salvador Allende in Chile 1973. In Europa verwenden auch die sogenannten Eurokommunisten diesen Begriff für ihre Ziele. Dabei ist die Unterscheidung von sozialdemokratischen Zielen besonders seit dem Zerfall der Sowjetunion 1990 nicht mehr klar. Dies zeigt auch die Umbenennung vieler „postkommunistischer“ Parteien, die sich nun eher „sozialistisch“ oder „links“ nennen.

Siehe auch

Literatur

allgemein

  • Helmut Dahm, Wilhelm Dörge Leske: Demokratischer Sozialismus, 1971, ASIN B0000BQFNQ
  • Thomas Meyer (Hrsg.): Demokratischer Sozialismus. Geistige Grundlagen und Wege in die Zukunft, Olzog - Aktuell GmbH 1980, ISBN 3789298549
  • Dieter Dowe (Hrsg.): Demokratischer Sozialismus in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Referate und Diskussionen einer internationalen Konferenz des Gesprächskreises Geschichte der Arbeiterbewegung, Universität Bochum in Berlin, Friedrich-Ebert-Stiftung, 2001, ISBN 3860779842

Verhältnis zur Sozialdemokratie

  • Thomas Meyer: Demokratischer Sozialismus - Soziale Demokratie. Eine Einführung. ISBN 3878313578
  • Christian Fenner: Demokratischer Sozialismus und Sozialdemokratie. Campus Verlag GmbH, 1982, ISBN 3593321904
  • Sozialdemokratische Traditionen und Demokratischer Sozialismus 2000. Bund Verlag, 1993, ISBN 3766324543
  • Gesine Schwan (Hrsg.): Demokratischer Sozialismus für Industriegesellschaften. Europäische Verlagsanstalt, 1979, ISBN 343400405X
  • Richard Löwenthal (Hrsg.): Demokratischer Sozialismus in den achtziger Jahren. Willy Brandt zum 65. Geburtstag, 18. Dezember 1978 Europäische Verlagsanstalt, 1991, ISBN 3434003800

Neue Linke

  • Vladimir Klokocka, Rudi Dutschke: Demokratischer Sozialismus. Konkret-Verlag, 1968, ASIN B0000BS1BH

Verhältnis zum Christentum

  • Adolf Arndt, Gustav Gundlach Zink: Christentum und demokratischer Sozialismus, 1958, ASIN B0000BH4W5
  • Herbert Wehner, Rüdiger Reitz (Hrsg.): Christentum und Demokratischer Sozialismus. Beiträge zu einer unbequemen Partnerschaft. Dreisam Verlag, Köln 1991, ISBN 389125220X
  • Franz Klüber: Katholische Soziallehre und demokratischer Sozialismus, Dietz Verlag J.H.W. Nachfolger, 1989, ISBN 3878311702
  • Theodor Strohm: Kirche und demokratischer Sozialismus, Christian Kaiser Verlag, 1968, ASIN B0000BTIGX
  • Herwig Büchele, Harry Hoefnagels, Bruno Kreisky: Kirche und demokratischer Sozialismus, ISBN 3203506599
  1. Rosa Luxemburg, Schriften zur Theorie der Spontaneität, Rororo 249, ISBN 3499452499, S. 186ff