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Talion

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Unter Talion oder ius talionis versteht man eine Rechtsfigur, nach der zwischen dem Schaden, der einem Opfer zugefügt wurde, und dem Schaden, der dem Täter zugefügt werden soll, ein Gleichgewicht angestrebt wird. Der (nicht nur) biblische Ausdruck Auge um Auge ist davon ein Spezialfall, in dem dieses Gleichgewicht nach einer Körperverletzung durch Zufügen eines gleichartigen Schadens am Körper des Täters hergestellt, und dem hier nicht weiter nachgegangen werden soll. Davon ist die Spiegelstrafe zu unterscheiden, die neben der Gleichartigkeit des Schadens, den der Täter erleidet, auch eine Anknüpfung an Organen, mit denen die Tat begangenwurde, vorgenommen wird, z.B. das Abhauen der Diebeshand.

Älteste Belege

Als ältester Beleg für die Verschriftlichung des ius talionis gilt der Codex Urnammu, eine Sammlung von Rechtssätzen des Königs Ur-Nammu (nach mittlerer Chronologie sa. 2112-2095 v. Chr.). Der erste Rechtssatz lautet: Wenn ein Mann einen Mord begangen hat, soll besagter Mann getötet werden. Her liegt der Spezialfall „des Auge um Auge“ vor. Auch der zeitlich spätere Codex des Lipit Ištar von Isín (nach mittlerer Chronologie ca. 1934-1923 v. Chr.) wendet diesen Grundgedanken an: Wenn jemandes Sklavin oder Sklave im Inneren der Stadt entflohen ist und nachgewiesen wird, dass er sich im Hause eines Anderen einen Monat lang aufgehalten hat, wird er Sklaven für Sklaven geben.[1] Beim Codex Hammurapi ist in der Regel der Spezialfall „Auge um Auge“ angeordnet.[2] Im übrigen ist es schwierig, bei inkommensurablen Verhältnissen zwischen Schaden und Strafe zu beurteilen, ob es sich um ein Talion handeln soll, oder ob auch eine besondere Präventionsabsicht hinter der Strafe steht, die zu einer das Talion überschießenden Strafe führt. So heißt es in den §§ 3, 4: „Wenn ein Bürger vor Gericht zu falschem Zeugnis auftritt und seine Aussage nicht beweist, so wird, wenn dieses Gericht ein Halsgericht ist, dieser Bürger getötet. Wenn er zu einem Zeugnis über Getreide oder Geld auftritt, muss er die jeweilige Strafe dieses Prozesses tragen.“ Hier hat das Opfer noch keinen Schaden erlitten, er drohte ihm nur, gleichwohl ist der Gedanke des Gleichgewichts unverkennbar.

Gesellschaftliche Bedingungen

Das ius talionis setzt voraus, dass in einer Gesellschaft zu ahndende Taten als Konflikte zwischen Menschen angesehen werden, die durch einen Ausgleich behoben werden können. Bei kultischen Vergehen hat dieses Institut daher keinen Sinn. Daher kann man davon ausgehen, dass ein ius talionis dort keinen Raum hat, wo eine Gewichtsbestimmung einer Untat aus religiösen Gründen keinen Platz hat. So gibt es akephale Gesellschaften Afrikas, bei denen die Untaten Beleidigungen der Erde und der Ahnen darstellen, die ihrerseits über den Täter die Übel bringen. Die Maßnahmen des Clans haben dagegen nicht den Zweck, irgendeiner Gleichwertigkeit der Buße mit der Tat zu verwirklichen, sondern den Zorn der Erde und der Ahnen abzuwenden.[3] Auch dann, wenn das Recht nicht dem Frieden innerhalb der Gesellschaft sondern der Durchsetzung eines Staatszieles dient, hat eine solche Gewichtung keine Funktion. Daher gibt es im Alten, Mittleren und Neuen Reich Ägyptens keine Anzeichen für die Anwendung eines ius talionis. Im Alten und Mittleren Reich diente das Recht der Durchsetzung eines Staatszieles, im Neuen Reich war dem Recht der unerforschliche Ratschluss der Götter übergeordnet.[4]

Beteiligte

Die Sippenverbundenheit der Menschen führte in frühen Kulturstufen dazu, dass sich nicht Täter und Opfer gegenüberstanden, sondern die Sippe des Täters und die Sippe des Opfers. Im Codex Hammurapi finden sich in §§ 210 und 230 dafür Beispiele. In § 209 hatte es geheißen: „Wenn ein Bürger eine Tochter eines Bürgers schlägt und dabei eine Fehlgeburt verursacht, so soll er zehn Scheqel Silber für die Leibesfrucht zahlen.“ § 210 fährt dann fort: „Wenn diese Frau stirbt, soll man ihm eine Tochter töten.“ In § 229 war entschieden: „Wenn ein Baumeister einem Bürger ein Haus baut, aber seine Arbeit nicht auf solide Weise ausführt, so dass das Haus, das er gebaut hat, einstürzt und er den Tod des Eigentümers des Hauses herbeiführt, so wird dieser Baumeister getötet.“ § 230 fährt dann fort: „Wenn er den Tod eines Sohnes des Eigentümers des Hauses herbeiführt, so soll man einen Sohn des Baumeisters töten.“ Diese Grundanschauung der Sippenverbundenheit des Individuums ist auch im vorschriftlichen skandinavischen Recht nachweisbar. So sagt der norwegische König Håkon Håkonsson (1217-1263) in der Einleitung zu seinem Frostathingslov:

„Jedermann wird wissen, wie es ein großer und übler Missbrauch lange in diesem Lande gewesen ist, dass, wenn wenn ein Mann getötet wird, da wollen die Verwandten des Erschlagenen sich den aus dem Geschlechte des Töters aussuchen [um ihn zu erschlagen], der der beste ist, obwohl er bei der Tötung weder Mitwisser war, noch sie wollte, noch dabei geholfen hat, und sie wollen sich nicht an dem rächen, der getötet hat, obgleich das möglich wäre. Und so hat der wertlose Mann Nutzen von seiner Schlechtigkeit und seinem Unheil, und der Schuldlose büßt seine Besonnenheit und männliche Trefflichkeit. Und so mancher hat auf diese Weise eine große Einbuße des Geschlechtes erlitten, und wir haben die besten unserer Leute im Lande verloren. Und deshalb bestimmen wir dieses als eine Sache ohne Zulassung einer Buße und mit Beschlagnahme des ganzen Vermögens bei jedem, der an einem anderen Rache nimmt als an dem, der tötet oder töten lässt.“

Auch die Rechtsfigur der „Ringbußgemeinschaft“ und „Nasenbußgemeinschaft“ des altnorwegischen Rechts [5] zeigt diese Eingebundenheit: Die Ringbußgeminschaft war die Gruppe der nächsten Verwandten auf der Vaterseite und die Nasenbußgemeinschaft die auf der Mutterseite, die ebenfalls berechtigt waren, je nach Verwandtschaftsgrad vom Täter Buße zu empfangen. Die Verwandtschaft des Täters war ebenfalls bußpflichtig: Im Frostathingslov heißt es: „... Der Töter oder der Sohn des Töters soll büßen dem Sohn des Getöteten eine gewogene Ertog und dreizehn gewogene Öre im Hauptring. Der Vater des Töters dem Vater des Toten ebensoviel. Der Bruder des Töters soll büßen dem Bruder des Toten zehn gewogene Öre.“[6] Und so weiter bis hin zu den Vettersöhnen.

Das Talion selbst

Wie bereits ausgeführt, ist es schwierig festzustellen, ob in einer Rechtsordnung Schaden und Strafe im Gleichgewicht stehen sollten. Deutlich wird das nur, wenn sich theoretische und programmatische Äußerungen rund um die Rechtsregel finden lassen, die belegen, dass man mit dem Schaden, den man dem Täter zudiktierte, tatsächlich ein Talion beabsichtigte. Auch wenn angeordnet wird, dass die Opferseite die Buße bestimmen durfte,[7] sind andere Zwecke als das Talion nicht ersichtlich. Dies ist vor allem dann anzunehmen, wenn die Vollstreckung einer Leibesstrafe durch eine Bußzahlung abgewendet werden konnte. Auch geben Bußmaße für Verwundungen an der Geschädigten einen Anhaltspunkt für die Anwendung des Talion. Auch andere Zusammenhänge lassen einen solchen Rückschluss zu, so z.B. wenn in dem bereits im vorigen Abschnitt angeführten § 209 Codex Hammurapi aus der Tötung der Tochter des Täters im Falle des Todes des Opfers geschlossen werden kann, dass die zehn Scheqel Silber für die Leibesfrucht, wenn nur diese stirbt, eine Gleichwertigkeit darstellen sollen. Da die Wahrheitsfindung im Prozess fast ausschließlich auf Zeugenaussagen beruhte, war die falsche Anschuldigung eines der neuralgischen Punkte der Rechtspflege. Hier wird das ius talionis daher schon auf die Gefährdung des zu Unrecht Beschuldigten angewendet, so wörtlich im Alten Testament: „… so sollt ihr ihm tun, was er plante, seinem Bruder zu tun.“[8] Im Codex Lipit Ištar soll der falsche Ankläger die Strafe erleiden, die der Beschuldigte zu tragen gehabt hätte[9] und die Verleumdung einer Jungfrau, sie sei nicht mehr Jungfrau wurde mit 10 Scheqel Silber bewertet.[10].

Fußnoten

  1. § 12
  2. §§ 196 ff. Aus der zeitlichen Reihenfolge ist keine Rechtsentwicklung zu entnehmen. Denn die jeweiligen Rechtsammlungen stammen aus verschiedenen Regionen und Rechtstraditionen. Otto, Geschichte … S. 229.
  3. Schott, S. 275
  4. Helck, S. 316, 323 ff.
  5. Kap. 6 des Frostathingslov.
  6. Kap. 6 Nr. 41
  7. Ex 21, 22-25.
  8. Dtn 19, 19.
  9. § 17
  10. § 33

Zitierte Literatur

  • Wolfgang Helck: Wesen, Entstehung und Entwicklung altägyptischen „Rechts“. In: Wolfgang Fikentscher u.a. (Hrg.): Entstehung und Wandel rechtlicher Traditionen.Freiburg/München 1980. S. 303-324.
  • Rudolf Meißner (Übs.): Norwegisches Recht. Das Rechtsbuch des Frostothings. Weimar 1939.
  • Eckart Otto: Die Geschichte der Talion. In: Eckart Otto: Kontinuum und Proprium. Studien zur Sozial- und Rechtsgeschichte des Alten Orients und des Alten Testaments. Wiesbaden 1996, S. 224-245.
  • Rüdiger Schott: Afrikanische Rechtstraditionen der Bulsa in Nord-Ghana. In: Wolfgang Fikentscher u.a. (Hrg.): Entstehung und Wandel rechtlicher Traditionen.Freiburg/München 1980. S. 265-301.