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Benutzer Diskussion:Ankallim

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Dies ist eine alte Version dieser Seite, zuletzt bearbeitet am 15. Januar 2007 um 02:54 Uhr durch Reiner Stoppok (Diskussion | Beiträge). Sie kann sich erheblich von der aktuellen Version unterscheiden.

Letzter Kommentar: vor 18 Jahren von Reiner Stoppok

Hallo Ankallim, am Teufel stört mich manchmal der Singular. Kannst Du mir zufällig sagen, woher im christlichen Mittelalter die Zahlenangaben "44635569" und "elf Billionen" zur Zahl der Teufel stammen? --Reiner Stoppok 01:25, 12. Jan. 2007 (CET)Beantworten

Mit diesen Zahlen bin ich komplett überfragt. Canetti (den ich mir inzwischen doch angeschaut habe) hätte seine Quellen genauer angeben sollen. Bei der ersten ergibt die Primfaktorenzerlegung 3x11x11x122963, d. h. man hätte das Alter Christi bei seinem Tod und die Zahl elf, die ja auch bei der anderen vorne dran steht (12 - 1, wobei die Billion dann wieder 12 Nullen hat ...). Aber ich kenne mich mit solchen "symbolischen" Zahlen und ihren "magischen" Verwendungen nicht aus, es interessiert mich auch nicht sonderlich.

Die Vielheit der Teufel und Dämonen an sich ist eine andere Sache. Salomon Reinach, der dem Aktaion-Mythos in "Cultes, Mythes et Religions" (wieder so ein altes Buch, erschienen Paris 1908) einige wertvolle Seiten widmet, sieht in ihm den Reflex eines Ritus, bei dem die Frauen eines Clans mit dem Hirsch als Totemtier einen solchen Hirsch erlegen. Weil zum Ritus das rohe Verschlingen des Tieres gehörte, was später als abstoßend galt, seien im Mythos die Hunde eingefügt worden. Und weil das Tieropfer als solches in späteren Zeiten unverständlich geworden sei, habe man die Geschichte des Menschen Aktaion erfunden, der sich schuldig gemacht habe und deshalb in einen Hirsch verwandelt worden sei.

Kennst du René Girard? Er ist von Haus aus kein Ethnologe, sondern Literaturwissenschaftler, hat aber in den Siebziger und Achtziger Jahren eine umfassende - sehr umstrittene - ethnologische Theorie entwickelt, die ich bis zu einem bestimmten Punkt richtig, d. h.: stimmig finde (nämlich bis zu dem, wo sie auch noch in eine Rechtfertigung des Christentums umschlägt). Seiner Meinung nach haben die Menschenopfer, die in den Mythen beschrieben werden, real stattgefunden, und er beschreibt detailliert die sozialpsychologischen Prozesse, die immer wieder dahin geführt haben (den Sündenbockmechanismus). Ich gehe davon aus, dass auch Aktaion ein solcher Sündenbock war, ein auserwähltes Opfer, womöglich nachdem man ihn zuvor noch eine Zeitlang als König behandelt hatte - in einer Sage aus Orchomenos in Böotien tritt er als solcher auf. Zum Sündenbockmechanismus gehört, dass die Gemeinschaft sich einmütig gegen das Opfer zusammenschließt, und deshalb sind es viele, die ihn verfolgen.

Ich denke, dass deshalb die Teufel und Dämonen oft als viele auftauchen. In der paranoiden Psychose (ich füge dieses Wort hier einmal ein, in meinem Brotberuf bin ich psychiatrischer Krankenpfleger) wird die Verfolgung durch eine Meute ganz real erlebt, sinnlich wahrgenommen, es werden individuell Erfahrungen reproduziert, die stammesgeschichtlich oft eine Rolle gespielt haben werden. Für mich wäre das das Wesen von Teufelserscheinungen. Selbst Pan wird von Caillois einmal als "dieu des armées" angeführt.

Das wäre meine vorläufige Antwort, vielleicht hilft sie dir weiter. Gruß -- Ankallim 15:51, 12. Jan. 2007 (CET)Beantworten

Und wieder einmal ein Nachtrag: Ich will Teufelserscheinungen nicht direkt mit psychotischem Erleben gleichsetzen. Sicherlich sind in beiden Fällen die Ichgrenzen geschwächt und sehr durchlässig, was übrigens ja auch eine Bedingung für das Erscheinen des "Mittagsdämons" war. Nicht psychotisch ist ein Erleben, wenn es in der umgebenden Kultur als realistisch anerkannt wird. Andererseits dürfte die mittelalterliche Kultur mit ihren vielen Ketzerverfolgungen, wie sie auch Caesarius schildert, beträchtliche Angstpotentiale mobilisiert haben, was wiederum psychotisches Erleben beförderte ... So dass es sich auch gar nicht nur um "stammesgeschichtliche" Erfahrungen handelte, sondern um ganz aktuelle, die ins Bild gebannt sein wollten.

Mir ist bewusst, dass ich die Kategorien gewechselt habe und von volkskundlichen Erklärungen, wie ich sie zum "Mittagsdämon" vorgetragen habe, nun zu psychologischen übergegangen bin als meinem asylum ignorantiae. Um Nachsicht wird gebeten! -- Ankallim 22:21, 12. Jan. 2007 (CET)Beantworten

Vieles, was Canetti beschäftigt hat, scheint Dich auch zu beschäftigen. Zu Salomon Reinach fehlt ein Artikel hier! In einem Anhang zu Man into wolf von Robert Eisler wird sein Aufsatz über die rituelle Flagellation aus dem von Dir erwähnten Buch genannt. Sein Émile Cartaillac gewidmetes Buch Répertoire de l'art quarternaire (1913) hate ich mir mal kopiert, darin befindet sich ein (überwältigendes) Verzeichnis seiner Werke. René Girard kannte ich nicht. Das letzte, was ich mir in diese Richtung in mein Bücherregal gestellt hatte, war der fünfbändige Schinken von Eliade. - Um nochmal auf mein von Dir flüchtig angefingertes Lieblingsbuch zurückzukommen: Die Beispiele mit den vielen Teufeln und Dämonen kommen dort im Kapitel über die unsichtbaren Massen vor, und der Autor meint, eine Einteilung der Religionen nach der Art, wie sie ihre unsichtbaren Massen manipulieren, sei möglich und wäre sehr wünschenswert. - Hinten in dem Buch heisst es: "Das Gefühl umstellt zu sein von einer Meute von Feinden, die es alle auf einen abgesehen haben, ist ein Grundgefühl der Paranoia." --Reiner Stoppok 03:40, 14. Jan. 2007 (CET)Beantworten

PS: Salomon Reinach hat auch die Geschichte der Inquisition von Lea ins Französische übersetzt, sehe ich gerade. Die deutsche Übersetzung ist meine letzte Bücheranschaffung gewesen. --Reiner Stoppok 03:49, 14. Jan. 2007 (CET)Beantworten

PSPS:[1]--Reiner Stoppok 04:01, 14. Jan. 2007 (CET) In seinem Man into wolf wird der Aktaion-Mythos unter der Überschrift Herne der Jäger [...] behandelt. --Reiner Stoppok 04:10, 14. Jan. 2007 (CET)Beantworten

Einen Gruß von Nachtarbeiter zu Nachtarbeiter. In den Canetti habe ich tatsächlich erst sehr flüchtig hineingeschaut. Vielleicht kannst du mir helfen: (Ich schreibe das "Du" klein, soll keine Unhöflichkeit sein. Ich passe mich halt den neuen Rechtschreibregeln an.) Ich kann mich, trotz der Interessensüberschneidungen, mit seinem Werk nicht so recht anfreunden. Vielleicht ist das eine Stilfrage. Mir fehlt gleich zu Beginn von "Masse und Macht" eine Exposition des Themas, ein Überblick.

Was ich bei Girard schätze, ist die Darstellung der projektiven Mechanismen, die in der Masse ablaufen; nicht nur derjenigen, die zur Identifikation des schließlichen Opfers führen, sondern auch derjenigen, die seine Verwandlung bewirken - in den Augen der vielen, die auch die für die Nachwelt gültige Version des Vorgangs erstellen: Verwandlung in ein "Untier" zunächst, in eine Bestie, und dann, nach der Opferung, wenn plötzlich Schuldgefühle auftauchen, in einen Gott. Und wenn du schon Herne den Jäger anführst: Girard hat ein ganz anregendes Buch über Shakespeare geschrieben, mit dem Untertitel "A theatre of envy", in dem er die Verwandlungen im "Sommernachtstraum" zum Ausgangspunkt einer Gesamtinterpretation macht. Mein Lieblingsautor ist er deswegen nicht, sagen wir, ich finde, dass er die Reichweite seiner Theorie insgesamt überschätzt. (Bei ihm bleibt gar nichts anderes übrig, jeder Mythos und jede Religion, beinahe jedes soziale Phänomen lassen sich in die Bestandteile seiner Theorie auflösen. Das wäre für mich auch ein gewisser Kontrast zu Eliade.)

Bei Canetti fehlt mir, soweit ich bisher sehen kann, dieses Projektive, die phantasmatischen Elemente, die Bilder, die die Masse sich macht. - Mich würde aber interessieren, was ihn zu deinem Lieblingsautor macht.

Mit Reinach habe ich mich insgesamt zu wenig befasst, als dass ich mir zutrauen würde über ihn zu schreiben. Man könnte allenfalls den englischen Artikel, den du verlinkt hast, zu einem Stub exzerpieren. Wie gesagt, Gruß -- Ankallim 06:27, 14. Jan. 2007 (CET)Beantworten

Die Alternativen waren heute Morgen wenig attraktiv (ein psychoanalytischer Schmöker, vor dem ich mich seit zwei Wochen drücke, Kunstgeschichtliches), jetzt ist Salomon Reinach doch blau hinterlegt, eben mit dem, was gerade greifbar war. Und wieder eine Retraktation: Es ist natürlich irgendwie blöd, bei einem Autor auf das hinzuweisen, wovon er nicht handelt, denn das ist immer viel ... Grüße, -- Ankallim 21:07, 14. Jan. 2007 (CET)Beantworten

Hallo Ankallim! Ich kann Dir heute nur ein Gefühl wiedergeben: Ich habe das Gefühl, dass Dich das mythische Material über die Verwandlung aus dem Buch Mythologie primitive (von [[Lucien Lévy-Bruhl) interessieren könnte (siehe ebd. letztes Weblink). Ich habe das Buch vor Jahren so für mich (schlecht) ins Deutsche übersetzt. Canetti zieht es in seinem Verwandlungskapitel heran. Viele darin ausgebreitete Quellen liegen auf deutsch vor, z.B. die Bücher von Paul Wirz. Dieses Buch liefert einen eurozentrismusfreien, vom mythischen griechisch-römischen Ballast (und dem germanischen womöglich obendrein) völlig losgelösten Zugang auf die mythische Welt einer ganz anderen Weltengegend: der der Australier und Papua. - Schon bei Lévi-Strauss stört mich das ständige Zerpflücken der Mythen zwecks eigener Theoriebildung. --Reiner Stoppok 01:54, 15. Jan. 2007 (CET)Beantworten