Sexueller Missbrauch von Kindern
Unter Sexueller Missbrauch von Kindern versteht man die Einbeziehung von Kindern in sexuelle Handlungen. Die Definition einer "sexuellen" Handlung wird dabei unterschiedlich umfassend gehandhabt. Grob gesprochen kann man von weit gefassten Definitionen sprechen, die jedwedes Einbeziehen eines Kindes in sexuelle Handlungen als Missbrauch einstufen, und von eng gefassten Definitionen, die nur physische sexuelle Handlungen an Kindern gegen deren Willen als "Missbrauch" bezeichnen. Als Kinder werden jedoch im Allgemeinen Personen vor oder zu Beginn der Pubertät verstanden.
Die weiter gefasste Definition wird auch im deutschen Strafrecht verwendet. Sexueller Missbrauch liegt danach vor, wenn eine Person mit einem Kind sexuelle Handlungen vollzieht, ein Kind dazu bestimmt, solche Handlungen an sich oder einem Dritten zu vollziehen oder ihm pornografische Darstellungen vorführt. Die Einstufung als "Missbrauch" erfolgt dabei unabhängig vom Willen des Kindes. Als sexuelle Handlung wird - jedoch nicht ausschließlich - Folgendes angesehen:
- der Vollzug des Geschlechtsverkehrs mit Kindern
- das Vornehmen sexueller Handlungen an einem Kind zur eigenen sexuellen Stimulation
- das Bestimmen eines Kindes, sexuelle Handlungen an sich vorzunehmen
- exhibitionistische Handlungen vor einem Kind
- das Vorspielen pornografischer Darstellungen vor einem Kind
In der feministischen Literatur wird zudem unter sexuellem Missbrauch das Betrachten eines nackten Kindes durch einen Mann zur sexuellen Erregung verstanden. Dabei wird der Begriff sexuelle Gewalt synonym zu sexuellem Missbrauch verwendet.
Die enger gefassten Definitionen verstehen unter Missbrauch lediglich:
- den Vollzug des Geschlechtsverkehrs mit Kindern gegen ihren Willen (Vergewaltigung)
- das Vornehmen sexueller Handlungen an einem Kind gegen seinen Willen zur eigenen sexuellen Stimulation. Dies umfasst intime Berührungen an primären und sekundären Geschlechtsteilen (siehe Geschlechtsmerkmale).
Juristische Einstufung
Bundesrepublik Deutschland
Juristisch werden unter sexuellem Missbrauch von Kindern jegliche sexuelle Handlungen vor und mit Personen unter 14 Jahren (Kind) verstanden, unabhängig vom Alter des Täters und der Einwilligung des Kindes. Geregelt wird der Straftatbestand des sexuellen Missbrauchs von Kindern nach § 176 StGB, wobei im wesentlichen die oben gegebene weitere Definition des Missbrauchbegriffes verwendet wird. Die Verbreitung und der Besitzvon kinderpornografischem Material ist nach § 184 StGB gesondert unter Strafe gestellt, wobei bereits der Versuch strafbar ist.
Kritikpunkte an der Wortwahl
Der Bezeichnung "sexueller Missbrauch" wird häufig kritisiert, weil sie einen korrekten "sexuellen Gebrauch" von Kindern impliziere, ähnlich dem Unterschied zwischen Alkohol-Missbrauch und Alkohol-Gebrauch. Es wird deshalb auch von "sexueller Gewalt" und "sexueller Misshandlung" gesprochen, wobei diese Begriffe ebenfalls irreführend sind, da nur bei einem geringen Anteil des Missbrauchs Gewalt oder Drohung anzutreffen ist (15 Prozent nach einer Studie des BKA; Baurmann 1983).
Sexueller Missbrauch von Kindern ohne physische Gewalt wird manchmal neutral als "sexuelle Handlung mit Kindern" bezeichnet, also im Sinne der obigen, engeren Definition nicht als "Missbrauch" bezeichnet, ist aber nichts desto trotz justiziabel, da der Gesetzgeber die Folgen sexuellen Missbrauchs als entsprechend schwerwiegend bewertet.
Wissenschaft
Eine allgemein anerkannte Definition von sexuellem Missbrauch gibt es in den Wissenschaften nicht, vielmehr kommt eine Vielzahl unterschiedlicher Definitionen zum Tragen, zumeist angelehnt an gesellschaftliche oder juristische Vorgaben und Anschauungen. Sehr weite Definitionen sind üblich gewesen, die zu hohen Zahlen von Fällen und Betroffenen führten, zumindest bis durch die Meta-Analysen von Rind, Tromovitch und Bausermann gezeigt wurde, dass diese im Durchschnitt nicht wesentlich belastet sind.
In den Schriften der Missbrauchsforschung (Richard Green) wird übrigens erstaunlich viel Raum scholastischen Debatten über die »richtige« Definition gegeben, was eine gewisse Unkenntnis ihrer logischen Funktion (in empirischen Wissenschaften) verrät. Demgegenüber wird der Frage der Validität kaum genügend Bedeutung beigemessen.
Epidemiologie
Zur Häufigkeit des sexuellen Missbrauchs von Kindern liegen keine gesicherten Zahlen vor. Zum Teil lassen sich die Ergebnisse verschiedener Studien durch unterschiedlich verwendete Missbrauchsdefinitionen (Bange) nicht vergleichen.
In der Bundesrepublik Deutschland kommen jährlich etwa 15.000 Fälle zur Anzeige (Polizeiliche Kriminalstatistik) bei etwa gleichbleibender Tendenz und gestiegener Anzeigebereitschaft in den letzten Jahren (Stand 2002). Diesen stehen jedoch nur etwa 2.200 Verurteilungen gegenüber (Strafverfolgungsstatistik). Hauptursache hierfür ist der hohe Anteil exhibitionistischer Handlungen vor Kindern zu denen nur relativ wenige Tatverdächtige ermittelt werden können. Berücksichtigt werden muss, dass diese Zahlen nicht die tatsächliche Häufigkeit widerspiegeln. Hinzu kommt ein Dunkelfeld durch diejenigen Fälle, die nicht zur Anzeige gebracht werden. Experten schätzen, dass das Dunkelfeld um den Faktor 5-7 höher liegt als das Hellfeld (Erster Periodischer Sicherheitsbericht der Bundesregierung).
Die Ergebnisse von Prävalenzstudien zeigen auf, dass etwa 8 bis 30 Prozent der weiblichen Bevölkerung in ihrer Kindheit bzw. Jugend sexuell missbraucht wurden. Die Prävalenzen variieren sehr stark und hängen von den verwendeten Missbrauchsdefinitionen (Anwendung von Gewalt, Körperkontakt, Alter des Opfers, Alterunterschied zum Täter, Selbsteinschätzung) ab. Hohe Prävalenzraten sind vornehmlich bei Studien mit weit gefassten Missbrauchsdefinitionen zu finden. Die methodisch exakteste Studie in der Bundesrepublik (Wetzels) geht davon aus, dass etwa 8 Prozent der Mädchen und 3 Prozent der Jungen missbraucht werden. Als Definition gilt hier eine obere Altersgrenze von 16 Jahren sowie sexuellen Handlungen, die gegen den Willen des Opfers erfolgten, ausgenommen exhibitionistische Handlungen.
Dies deckt sich in etwa mit den Ergebnissen der Studie von Coxell et al., die 1999 im British Medical Journal erschien. Die Forscher befragten 2500 Männer zu sexuellen Aktivitäten vor ihrem sechzehnten Lebensjahr, bei denen der Sexualpartner mindestens fünf Jahre älter war. Von den Befragten berichteten 7,7 % über freiwillige und 5,3 % über unfreiwillige Sexualkontakte mit einem Mann, der beträchtlich älter war. Demzufolge hätten 13 % der Knaben - eine nicht gerade geringe Zahl - sexuelle Kontakte mit einem Mann gehabt, die als Missbrauch einzustufen sind. (Vgl. A. Coxell, M. King, G. Mezey, G. Gordon, "Lifetime prevalence, characteristics, and associated problems of non-consensual sex in men: cross sectional survey". British Medical Journal 318: 850, 27 March 1999.)
Generell scheint es also bei Mädchen häufiger als bei Jungen zu sexuellen Kontakte mit (meist männlichen) Erwachsenen zu kommen. (Vgl. auch P. Cox, S. Kershaw, T. Trotter, ed., Child Sexual Assault: Feminist Perspectives, Palgrave, London, 2001.)
Täter
Die bei sexuellem Missbrauch in Erscheinung tretenden Täter werden nach folgenden Typen klassifiziert:
- Regressiver Typ: seine primäre sexuelle Orientierung ist auf Erwachsene gerichtet, er ist durch Kinder jedoch sexuell erregbar. Aufgrund der leichten Verfügbarkeit von Kindern, von nichtsexuellen Problemen sowie wegen Problemen mit erwachsenen Sexualpartnern greift er zur sexuellen Befriedigung auf Kinder zurück. Man spricht deshalb auch von einem Ersatzobjekttäter.
- Fixierter Typ: er zeichnet sich durch seine primäre sexuelle Orientierung auf Kinder aus. Er ist durch Erwachsene sexuell nicht oder kaum erregbar. Es handelt sich um den klassischen Pädophilen.
- Soziopathischer Typ: er zeichnet sich durch mangelnde Empathie für Opfer und bisweilen durch sadistische Neigungen aus. Die Sexualität dient ihm nicht primär zur sexuellen Befriedigung, sondern als Mittel zur Unterdrückung. In diesem Zusammenhang wird auch von einem sadistischen Typ gesprochen.
Nach vorsichtigen Schätzungen sind die regressiven Täter mit etwa 90 Prozent am häufigsten anzutreffen. Der fixierte Typ folgt mit etwa zwei bis zehn Prozent an zweiter Stelle. Der soziopathische Typ tritt nur in wenigen Einzelfällen auf. Nach derzeitiger Sachlage bilden Männer etwa 85 bis 90 Prozent der Täter. Zwar treten vermehrt Frauen als Täterinnen ins Interesse der Öffentlichkeit, doch steht zu vermuten, dass dies medial überzeichnet ist. Wissenschaftliche Erkenntnisse widersprechen dem.
Folgen -- Dem sexuellen Missbrauch werden negative Wirkungen in großer Zahl und hoher Intensität angelastet. Der wissenschaftliche Diskurs hierüber ist widersprüchlich. Einerseits belegen eine Vielzahl von Studien, dass Frauen, die im Erwachsenenalter unter psychischen Störungen (Posttraumatische Belastungsstörung, Borderline-Syndrom, Dissoziative Identitätsstörung etc.) leiden, in ihrer Kindheit sexuell missbraucht worden sind. Andererseits zeigen Studien (Rind et al., Baurmann) auf, dass nur etwa die Hälfte der Menschen mit Missbrauchserfahrungen in der Kindheit über negative Auswirkungen berichtet und diese sich durch Probleme im familiären Umfeld besser erklären (höhere Effektgröße) lassen (Rind et al., Richter-Appelt). So setzt sich in der Sexualwissenschaft langsam der Konsens durch, dass sexuelle Handlungen mit Kindern nicht grundsätzlich schädlich sind, besonders wenn diese einverständlich statt fanden, und andere Faktoren deutlich schädigendere Einflüsse haben. Dies steht im Zusammenhang mit den Erkenntnissen, nach denen schädliche Folgen sexuellen Missbrauchs mit der Art der Täter-Opfer-Beziehung (einvernehmlich bzw. nicht einvernehmlich) stark und mit der Art des Missbrauchs (Dauer und Intensität des Missbrauchs) nur wenig korrelieren
Einverständliche sexuelle Handlungen mit Kindern werden aus moralischen Gründen abgelehnt. Hierbei werden vornehmlich folgende Argumente angeführt.
- Fehlende informierte Zustimmung: Kinder können sexuellen Handlungen nicht informiert zustimmen, da sie die Tragweite ihrer Entscheidungen nicht erfassen können. Dies gilt für sexuelle Handlungen von Kindern untereinander wie auch für solche mit Erwachsenen.
- Disparität der Wünsche: Bei sexuellen Handlungen zwischen Erwachsenen und Kindern treffen unterschiedliche Wünsche und Bedürfnisse aufeinander: beim Erwachsenen der nach sexueller Befriedigung und erotischer Nähe, während das Kind hingegen vornehmlich körperliche sowie emotionale Zuwendung und weniger sexuelle Nähe und emotionale Zuwendung sucht.
- Machtgefälle: Zwischen Erwachsenen und Kindern besteht ein strukturelles Machtgefälle. Das Kind befindet sich in einer schwächeren Position.
Verwandte Begriffe und Phänomene:
- Pädophilie und Päderastie sind auf Kinder ausgerichtete sexuelle Neigungen und existieren als solche im Spannungsfeld sexueller Missbrauch
- Inzest, insbesondere Eltern/Kind-Inzest, wird häufig als sexueller Missbrauch gewertet
- Die Dunkelziffer ist ein großes Problem bei der Beurteilung der realen Problemgröße
- Kinderprostitution gilt als eine Form sexuellen Missbrauchs
- Doktorspiele werden manchmal als "Missbrauch unter Kindern" bezeichnet, insbesondere in den USA
- False-Memory-Syndrom bezeichnet die Suggestion "falscher Erinnerungen" an sexuellen Missbrauch oder andere Traumata
Literatur
- Michael C. Baurmann: Sexualität, Gewalt und psychische Folgen, Bd.15 der BKA-Forschungsreihe, 1983 1996