Manierismus
Manierismus bezeichnet eine Spätform der Renaissance in Malerei, Baukunst, Plastik, Musik und Literatur. In Italien umfasst der Manierismus etwa die Zeit von 1515 - 1600; in Frankreich etwa 1550 - 1610, in Deutschland etwa 1560 - 1610. In der Literatur bis ca. 1630.
Der Begriff "Manierismus" wurde eingeführt von Giorgio Vasari, um den Stil (die Manier) des späten Michelangelo zu charakterisieren, und wurde auf dessen Nachfolger verallgemeinert.
Stilmerkmale und Geistesgeschichte
Allgemein ist der Manierismus gekennzeichnet durch eine Abkehr von den harmonischen und ausgewogenen Kompositionen der Hochrenaissance, die zu einer gesuchten, gezierten, kapriziösen und spannungsgeladenen Manier führte, deren allegorische und enigmatische Darstellungen nur von eingeweihten Kennern (besonders des aufstrebenden Bürgertums) verstanden werden sollten. In der Bildhauerei ist die Figura Serpentinata (s. Giambolognas "Raub der Sabinerin" in Florenz) charakteristisch für den Manierismus.
Im Gartenbau drückt sich die Vorliebe des Manierismus für das Groteske und Überraschende durch Grotten und Wasserspiele aus. Deren Tricktechnik inspirierte schließlich René Descartes zu seiner Theorie des menschlichen Automaten.
Obgleich der Manierismus sich parallel zur Spätrenaissance Michelangelos, da Vincis, Raffaels und Tizians entwickelt hatte, fällt seine Entstehungszeit mit politischen und wirtschaftlichen Umbrüchen in Italien und Europa zusammen: Neu entstandene, ehedem bürgerliche Adelsfamilien (Medici) kamen in den alten Stadtrepubliken (Florenz) an die Macht; der Mittelmeerhandel brach nach der "Entdeckung" Amerikas zusammen, während das habsburgische Spanien zur Weltmacht aufstieg und in Deutschland das Gespenst der Reformation umging. 1527 eskalierte die Situation als spanische, italienische und deutsche Söldner in habsburgischen Diensten Rom überfielen, plünderten und den Medici-Papst Klemens VII. gefangen setzten (Sacco di Roma). Unter dem Eindruck dieser Ereignisse kamen die manieristischen Künstler zu dem Schluss, daß das Programm der Renaissance, die Schönheit der Natur durch die Kunst zu verherrlichen, verfehlt sei, und daß stattdessen die Natur durch die Kunst zu überwinden und zu erlösen sei. Dabei mögen auch neuplatonische, gnostische und alchemistische Gedanken eine Rolle gespielt haben.
Während die Renaissance noch eine rein italienische Kulturleistung gewesen ist (die indes ins übrige Europa exportiert wurde), war der Manierismus die vielleicht erste europäische Kunstbewegung überhaupt. Vor allem Flamen (Giambologna, Stradanus) zogen nach Italien, um dort zu lernen und zu wirken, wobei sie ihre Kunstauffassungen mitbrachten und die Spätrenaissance bereicherten. Eine wichtige Rolle spielte der von Gutenberg erfundene Buchdruck, der es ermöglichte, Kupferstiche oder Holzschnitte in ganz Europa zirkulieren zu lassen. Insbesondere die Werke Dürers wurden so in Italien bekannt gemacht und aufgegriffen.
Baukunst und Plastik
Italien
In Italien ist neben Rom Oberitalien mit den Städten Florenz, Mantua, Vicenza und Venedig das Zentum des Manierismus.
Eines der ersten manieristischen Bauwerke sind Vasaris Uffizien in Florenz.
Der Palazzo del Te in Mantua, die von Vignola gebaute Villa Farnese in Caprarola und der von Ammanati umgebaute Palazzo Pitti in Florenz sind representative Herrschaftssitze im Stil des Manierismus.
Frankreich
In Frankreich sticht vor allem Fontainebleau hervor.
Spanien
Philipp II. ließ sich außerhalb von Madrid das Escorial als Burg, Kloster und Prunkschloß errichten.
Deutschland und Österreich
Bedeutendstes Zentrum des Manierismus in Deutschland ist München. Der Ottheinrichsbau des Heidelberger Schlosses ist ein wichtiges Bauwerk des deutschen Manierismus.
In Österreich gilt Salzburg mit dem Schloss Hellbrunn und seinen Gartenanlagen und Wasserspielen als Beispiel des späten Manierismus auf der Schwelle zum Frühbarock. Als eine Hochburg des europäischen Manierismus gilt Prag zur Zeit Kaisers Rudolf II.
Malerei und Graphik
Nach Vasari sind Architektur und Malerei Kinder der Zeichenkunst. Das macht sich in der Malerei durch die Bevorzugung der Linie vor der Fläche bemerkbar. Proportitionen werden stark verzerrt (lange Körper, Beine, Hälse [1]) und Körper posieren in den unmöglichsten, dynamischen Verrenkungen [2]; die Perspektive wird gezielt mißachtet [3]. Weitere Stilelemente sind grelle und krasse Farbunterschiede [4], die z.T. schon expressionistisch anmuten, und Vexierbilder [5] sowie Anamorphosen.
Die innovativen Stilelemente des Manierismus wurden vom Barock aufgegriffen, was Frühbarock und Manierismus leicht verwechselbar macht. Dennoch gibt es einen großen programmatischen Unterschied: Der Manierismus wendet sich an den Verstand und liebt intellektuelle Spielereien und Anspielungen; der Barock, als Kunstform der Gegenreformation, wendet sich an das (religiöse) Gefühl und versucht zu überreden, nicht zu überzeugen.
Manieristische Stilexperimente sind Vorbilder für den Expressionismus, Dadaismus, Surrealismus und Kubismus.
Literatur
Nach G. R. Hocke sind Anagramm und Akronym, Epigramm und Oxymoron die typischen Stilmittel manieristischer Sprach-Alchemie in der Literatur.
Bedeutende Vertreter
Baukunst und Plastik
Michelangelo, Giorgio Vasari, Giambologna, Benvenuto Cellini, Alessanndro Vittoria, Adriaen de Vries, Bartolomeo Ammanati,
Malerei und Graphik
Michelangelo, Tintoretto, Giorgio Vasari, Pontormo, Parmigianino, Arcimboldo, El Greco, Rosso Fiorentino, Federigo Zuccari, Hendrik Goltzius, Albrecht Dürer, Cornelis Cornelisz van Haarlem, Martin van Heemskerck, Giovanni Stradanus, Denijs Calvaert, Joachim Wtewael, Bartolomäus Spranger, Caravaggio, Bronzino, Antonine Caron de Beavais, Orazio Grevenbroeck, Domenico Beccafumi, Lelio Orsi, Albrecht Altdorfer, Hans Bock d. Ä., Gianbattista Bracelli, Luca Cambiaso, Lorenz Stoer, Ehard Schön, Jacob Swanenburgh
Literatur
Michelangelo, Gianbattista Marino, Cervantes, Hoffmannswaldau, Francois Rabelais, Ludovico Ariost, Luis de Gongora, Baltasar Gracian, William Shakespeare, Georg Philipp Harsdorffer, Emanuele Tesauro, Giovanni Battista Guarini, Torquato Tasso, Edmund Spenser, Speroni
Literaturangaben
Gustav René Hocke: Die Welt als Labyrinth. Manier und Manie in der europäischen Kunst. Rowohlt, Hamburg, 1957.
Gustav René Hocke: Manierismus in der Literatur. Sprach-Alchemie und esoterische Kombinationskunst. Rowohlt, Hamburg, 1959.
Tibor Klaniczay: Renaissance und Manierismus. Zum Verhältnis von Gesellschaftsstruktur, Poetik und Stil. Akademie-Verlag, Berlin 1977.
John Shearman: Manierismus. Das Künstliche in der Kunst. Athenäum, Frankfurt a.M. 1988.
Jacques Bousquet: Malerei des Manierismus. Die Kunst Europas von 1520 bis 1620. Bruckmann, München 1985 (3. Aufl.).
Franzsepp Würtenberger: Der Manierismus. Der europäische Stil des sechzehnten Jahrhunderts. Verlag Anton Schroll, Wien 1962.