Großer Lauschangriff
Begriff
Die Änderung des Artikels 13 des Grundgesetzes in Deutschland im Jahre 1998, mit der die so genannte akustische Wohnraumüberwachung zu Zwecken der Strafverfolgung ermöglicht wurde, wird umgangssprachlich als Großer Lauschangriff bezeichnet. Er hat eine Einschränkung des Grundrechts auf Unverletzlichkeit der Wohnung zum Inhalt und ist bis heute umstritten. Vom "Großen Lauschangriff" ist der "kleine Lauschangriff" zu unterscheiden. Im Rahmen des "Großen Lauschangriffs" sind die Polizei und Staatsanwaltschaft befugt, auch die Wohnung als intimsten Bereich des Menschen zu überwachen. Der "kleine Lauschangriff" bezieht sich auf Gespräche außerhalb von Wohnungen, also an öffentlichen Örtlichkeiten sowie auch an allgemein zugänglichen Büro- und Geschäftsräume. Wohnungen in diesem Sinne sind die Bereiche, die der Berechtigte der allgemeinen Zugänglichkeit entzogen und zur Stätte seines Lebens und Wirkens gemacht hat.
Die Änderung ermöglicht den Einsatz der akustischen Wohnraumüberwachung für den Bereich der Strafverfolgung, außerdem wird die bereits in der alten Fassung des Art. 13 GG enthaltene Möglichkeit der Wohnraumüberwachung zu Zwecken der Gefahrenabwehr modifiziert. Die Ausführungsbestimmungen finden sich im Gesetz zur Verbesserung der Bekämpfung der Organisierten Kriminalität, durch das die maßgeblichen §§ 100 c, 100 d, 100 f und 101 der Strafprozessordnung (StPO) eingefügt bzw. geändert wurden.
Abgehört werden darf grundsätzlich jeder. Ausnahmen gelten für Personen, die traditionell unter besonderem Vertrauensschutz stehen oder sogar einem Schweigegebot unterliegen, u.a. Geistliche, Strafverteidiger, Abgeordnete, Rechtsanwälte, Ärzte und Journalisten.
Ein im Juli 2004 vom Justizministerium vorgelegter Referentenentwurf zur Änderung des Gesetzes sah vor, dass diese Ausnahmeregelungen auf Strafverteidiger und Rechtsanwälte beschränkt werden sollten. Daneben sollte der Große Lauschangriff, den Maßgaben des Bundesverfassungsgerichts folgend, nur noch bei schweren Straftaten wie Mord und Totschlag Anwendung finden. Gegen diesen Entwurf wurde von Interessenvertretern der vom Schutzentzug bedrohten Berufsgruppen, von nahezu allen deutschen Datenschutzbeauftragten, der liberalen Presse und nicht zuletzt von Sozialdemokraten massive Kritik geäußert, da der Entwurf wesentliche Aspekte des Urteils des Bundesverfassungsgerichts (s. weiter unten) ignorierte oder gar ins Gegenteil verkehrte. Bundesjustizministerin Brigitte Zypries zog den Entwurf daraufhin nach wenigen Tagen bereits wieder zurück.
Parlamentarische Entwicklung
Der "Große Lauschangriff" wurde am 16. Januar 1998 vom Bundestag und am 6. März 1998 vom Bundesrat verabschiedet. Die Einführung geschah unter erheblichem Widerstand, sowohl aus Teilen der Bevölkerung als auch aus der Politik selbst. Eine von Journalisten initiierte Kampagne gegen die geplante Überwachung ihrer Berufsgruppe führte zu einem plötzlichen Umschwung in der Medienberichterstattung, sodass kurz vor Verabschiedung des Gesetzes diese Berufsgruppe wieder in den Kreis der vom "Großen Lauschangriff" ausgenommenen Gruppen aufgenommen wurde.
Vor allem Juristen ging der Eingriff in die Unversehrtheit der Wohnung, die in der Verfassung als ein sehr hohes Gut verankert ist, zu weit. Von Kritikern wurde die Befürchtung geäußert, die Grundgesetzänderung sei der Beginn der Einrichtung eines Überwachungsstaates.
Schon vor 1998 versuchte die Bundesregierung den "Großen Lauschangriff" einzuführen. Meist scheiterte dies an der damaligen Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, FDP. 1995 führte die FDP dazu eine Urabstimmung durch, bei der sich eine Mehrheit von 63,6 % für den "Großen Lauschangriff" aussprach. Als Reaktion darauf trat Sabine Leutheusser-Schnarrenberger von ihrem Amt als Bundesministerin zurück.
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
Grundlinien der Entscheidung
Am 3. März 2004 entschied das Bundesverfassungsgericht nach Verfassungsbeschwerde unter anderem von Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Gerhart Baum und Burkhard Hirsch, dass große Teile des Gesetzes zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität gegen die Menschenwürde verstoßen und deshalb verfassungswidrig sind (Az. 1 BvR 2378/98, 1 BvR 1084/99). Während die Änderung von Artikel 13 GG durch das Gericht nicht beanstandet wurde, erklärten die Richter zahlreiche Ausführungsbestimmungen der Strafprozessordnung für nicht verfassungskonform. Insbesondere dürfe die Überwachung nur noch bei dem Verdacht auf besonders schwere Straftaten angeordnet werden. Von der besonderen Schwere einer Straftat im Sinne des Artikel 13 Absatz 3 Grundgesetz ist nur auszugehen, wenn sie der Gesetzgeber mit einer höheren Höchststrafe als fünf Jahre Freiheitsstrafe bewehrt hat.
Gespräche zwischen engen Angehörigen dürfen nur noch abgehört werden, wenn alle Beteiligten verdächtig sind und das Gespräch strafrechtlich relevanten Inhalt hat. Sind diese Voraussetzungen nicht erfüllt, sind entsprechende Aufzeichnungen nicht nur als Beweismittel wertlos, sondern dürfen gar nicht erst vorgenommen werden. Durch diese Norm wird die bisherige Praxis automatisierter Mitschnitte als nicht verfassungsgemäß verworfen. Um Verfassungsmäßigkeit im Vollzug der Überwachung herzustellen, muss nunmehr die Überwachung aktiv durch einen Beamten verfolgt werden, der erforderlichenfalls die Überwachung abbricht, sobald die vom Gericht genannten Voraussetzungen nicht mehr vorliegen.
Die Beibehaltung des geänderten Artikel 13 GG impliziert, dass der Große Lauschangriff als äußerstes Mittel der Strafverfolgung als verfassungskonform anzusehen ist. Konsequenterweise billigt das Gericht entgegen der ursprünglichen Intention des Artikels 13 GG dem Bürger keinen prinzipiell vor dem Staat geschützten Raum zu. Stattdessen begrenzt das Urteil das Zugriffsrecht des Staates auf die Privatsphäre auf solche Situationen, aus denen für die Gemeinschaft erhebliche Gefahren erwachsen können. Die absolute Norm der geschützten Privatsphäre wird somit durch einen relativierenden Schutz persönlicher Gesprächsinhalte ersetzt.
Das Urteil muss bis zum 30. Juni 2005 in einem neuen Gesetz umgesetzt sein. Solange der Gesetzgeber nicht gehandelt hat, muss die Polizei das Urteil des Bundesverfassungsgerichts trotzdem ab sofort umsetzen.
Minderheitsvotum
Den Richterinnen Renate Jaeger und Christine Hohmann-Dennhardt ging das Urteil nicht weit genug. Über die entsprechenden Regelungen der Strafprozessordnung hinaus sei auch die Grundgesetzänderung verfassungswidrig, heißt es in ihrem abweichenden Votum vom 3. März 2004. Sie berufen sich dabei auf die in Artikel 79 Abs. 3 formulierte sog. "Ewigkeitsklausel" des Grundgesetzes, wonach Änderungen am Grundrechtskatalog der Artikel 1 bis 20 GG mit dem Ziel von deren Einschränkung grundsätzlich unzulässig sind. Zugleich argumentieren sie, dass angesichts der inzwischen technisch möglichen Totalüberwachung dem in Artikel 13 GG formulierten Schutz der Privatsphäre ein viel größerer Stellenwert beizumessen sei, als es sich der Gesetzgeber einst überhaupt habe vorstellen können.
Einschätzung in den Medien
In der Presse wurde die Entscheidung überwiegend als eine seit langem überfällige Rückbesinnung auf die Kernelemente des Rechtsstaats begrüßt. Nach einer langen Reihe immer weiter gehender Aushöhlungen des Rechtsstaates durch die Politik unter dem Vorwand der Verbrechensbekämpfung sei durch die Richter deutlich gemacht worden, dass es definitive Grenzen der Relativierung der Grundrechte durch Strafgesetze gebe. Die erheblichen Erschwernisse, die das Gericht dem Vollzug der Überwachung auferlegt, werden als eine De-facto-Aushebelung des Großen Lauschangriffs betrachtet.
Die Würdigung der tatsächlichen Durchführung des Großen Lauschangriffs liefert Gegnern wie Befürwortern der Regelung gleichermaßen Argumente: Die Tatsache, dass in fünf Jahren 119 Überwachungsmaßnahmen durchgeführt wurden, wird von den Befürwortern der Regelung als Beweis dafür angesehen, dass von einer flächendeckenden Bespitzelung keine Rede sein könne; umgekehrt argumentieren die Kritiker, die relativ niedrige Zahl der Überwachungen zeige, dass der Nutzen der Regelung weit geringer sei als von den Befürwortern behauptet und von ihrer grundrechtlichen Fragwürdigkeit bei weitem überwogen werde.
Im Vorfeld der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts waren im Lager der Unionsparteien bereits Überlegungen angestellt worden, die akustische Wohnraumüberwachung durch eine optische Wohnraumüberwachung (Spähangriff) zu ergänzen. Nach übereinstimmender Meinung der Presse wird diesen Überlegungen nach Bekanntgabe der Entscheidung zum Großen Lauschangriff jedoch keine Chance auf Umsetzung mehr eingeräumt.
Aus dieser weitgehenden Übereinstimmung über den Geist des Richterspruchs erklärt sich der öffentliche Aufschrei, zu dem es nach der Vorlage des Referentenentwurfs im Juli 2004 kommt: Zahlreiche der im Entwurf vorgesehenen Änderungen sind dem Geist des Richterspruchs diametral entgegengesetzt und verschärfen die vom Gericht kritisierten Punkte sogar noch. Allgemein herrscht in der Presse die Einschätzung, dass auf dem Entwurf zwar "Zypries draufstehe", aber "Schily drin" sei, wobei auch gerne auf die Zeit verwiesen wird, die Brigitte Zypries als Staatssekretärin Otto Schilys im Bundesinnenministerium verbracht hat.
Chronologie der Ereignisse
- 19. Mai 1995: Innenministerkonferenz spricht sich für Großen Lauschangriff aus
- 25. September 1995: FDP startet parteiinterne eine Mitgliederbefragung zum Großen Lauschangriff, wobei nahezu zwei Drittel der Einführung dieser Maßnahme zustimmen
- 14. Dezember 1995: Als Reaktion auf dieses Ergebnis legt Sabine Leutheusser-Schnarrenberger ihr Amt als Bundesjustizministerin nieder
- 16. Januar 1998: Der Bundestag beschließt mit den Stimmen der CDU/CSU, FDP und Teilen der SPD die Einschränkungen des Grundgesetzartikels 13 (Ja: 452 Stimmen; Nein: 184 Stimmen; Enthaltungen: 5)
- 6. Februar 1998: Bundesrat beschließt die Grundgesetzänderung, ruft aber den Vermittlungsausschuss an, um die Ausführungsgesetze überprüfen zu lassen
- 2. März 1998: Vermittlungsausschuss fordert, die Schutzgarantien des Artikels 13 für Personen in besonderer Vertrauensstellung (z.B. Pfarrer, Ärzte) unvermindert fortgelten zu lassen
- 5. März 1998: Der Bundestag folgt mehrheitlich der Forderung des Vermittlungsausschusses. Die Regierung Helmut Kohl erleidet dadurch zum ersten Mal seit 1982 eine Abstimmungsniederlage.
- 6. März 1998: Die im Bundestag beschlossene Änderung wird durch den Bundesrat abschließend mit 39 gegen 30 Stimmen verabschiedet.
- März 1999: Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Burkhard Hirsch, Gerhart Baum und weitere FDP-Mitglieder erheben vor dem Bundesverfassungsgericht Beschwerde gegen die Änderung des Artikels 13 GG
- 18. Mai 2000: In Mecklenburg-Vorpommern wird der Große Lauschangriff durch Beschluss des Landesverfassungsgerichts stark erschwert.
- 1. Juli 2003: Mündliche Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht über die Vereinbarkeit des Großen Lauschangriff mit dem Grundgesetz
- 3. März 2004: Das Bundesverfassungsgericht bewertet den Großen Lauschangriff zwar als mit dem Grundgesetz vereinbar, annulliert aber zahlreiche Ausführungsbestimmungen und stellt erhebliche Anforderungen an die Durchführung des Großen Lauschangriffs.
- 10. Juli 2004: Das Bundesjustizministerium präsentiert einen Referentenentwurf zur Änderung der vom Bundesverfassungsgericht als nicht verfassungskonform erklärten Regelungen. Die sich entwickelnde heftige öffentliche Kritik am Entwurf, der nach Auffassung der Kritiker dem Sinn des Richterspruchs völlig entgegensteht, führt dazu, dass der Entwurf zurückgezogen wird.
Siehe auch: Überwachung, Spähangriff, Datenschutz, Rasterfahndung, Telefonüberwachung,
Weblinks
- Urteil des BVerfG vom 3. März 2004
- Plenarprotokoll des Bundestages vom 16. Januar 1998 als ZIP-Datei
- Gegenüberstellung der alten und neuen Fassung des Artikel 13 GG
- Bund Deutscher Kriminalbeamter zum Urteil des BVerfG
Literatur
- Diverse Ausgaben von Cilip (Institut für Bürgerrechte & öffentliche Sicherheit e.V.) onlinearchiv unter [1]
- Jährlicher Grundrechtereport der Humanistischen Union
- BigBrother & Co., Rolf Gössner, Konkret Literatur Verlag, 2001, ISBN 3894581956