Mittagsdämon
Vor allem im Volksglauben der Antike und des Mittelalters gab es die Überzeugung, dass die Mittagsstunde eine bevorzugte Zeit für das Erscheinen von Geistern und Göttern sei. Der Ausdruck Mittagsdämon als besondere Bezeichnung taucht dabei erstmals in der Septuaginta auf, der griechischen Übersetzung der hebräischen Bibel aus dem 3. Jahrhundert v. Chr. Im 4. Jahrhundert n. Chr. setzte der Mönch Euagrios Pontikos diesen Dämon mit dem der akedia (der Trägheit) gleich, ihm zufolge eins der acht Hauptlaster, aus denen später die sieben Todsünden wurden (siehe auch Artikel Mönchtum).
Die Mittagsstunde im antiken Volksglauben
Der Mittag wurde in der Antike vielfach als gefährlich und unheilvoll betrachtet. Im Vordergrund stand die Gefahr des Hitzschlags oder Sonnenstichs, der als Attacke von Nymphen oder Sirenen gedeutet wurde. Die Sirenen begegnen uns in der Odyssee (12.Gesang, V. 166-196), wo der Mittag zwar nicht ausdrücklich genannt wird, aber die für ihn charakteristische Windstille. Dem Namen nach leiten sich die Sirenen ebenso wie der Sirius, der "Hundsstern", dessen heliakischer Aufgang früher die heißeste Zeit des Jahres einleitete (daher die "Hundstage"), wohl von einem alten Sonnennamen seir her. Die Nymphen werden in Platons Dialog Phaidros angesprochen, wo Sokrates immer wieder auf Zeit und Ort zu sprechen kommt: das Gespräch findet mittags nahe einem den Nymphen geweihten Hain statt; und auf die Gefahr, diesen Nymphen zum Opfer zu fallen (238 CD). In diesem Zusammenhang vergleicht Sokrates sich auch mit Odysseus, der an den Sirenen vorbeifährt (259 A).
Als Symptome der "Nympholepsie" werden in der antiken Literatur genannt Bewegungsunfähigkeit, Krämpfe und Verstummen bzw. delirantes Reden. Ein weiteres, stets präsentes Thema, das in hellenistischer Zeit noch besonders hervorgehoben wird, sind erotische Träume und Versuchungen, die mit den genannten Wesen, aber auch mit dem Hirtengott Pan in Verbindung gebracht werden (so im 1. Idyll Theokrits).
Die Mittagsstunde ist auch die Zeit des kürzesten Schattens und des Wechsels vom Aufstieg zum Niedergang der Sonne, in der diese langsamer zu werden oder stillzustehen scheint. Daran knüpfte sich die Vorstellung, dass zu dieser Zeit die Totengeister wiederkehren – sei es, weil die Zeit (die vor dem Gebrauch von Uhren nur mittags genau gemessen werden konnte, eben anhand der Schattenlänge) nun direkt als Zeit erfahren wurde, was auf unheimliche Weise mit der Möglichkeit des eigenen Sterbens konfrontierte; sei es, dass die genannten, zur Mittagszeit erscheinenden Wesen als wiederkehrende Totengeister verstanden wurden, die an den Menschen ihren Hunger nach Leben befriedigen wollten; oder dass man annahm, dass die Sonne nach ihrer nächtlichen Fahrt durchs Totenreich am Mittag, wenn sie senkrecht darüber steht, eine Verbindung dazu herstellt.
So bildete sich z. B. die Vorstellung der „wilden Jagd“ aus, eines Totenheers, das um die Mittagszeit zu hören oder auch zu sehen ist. Als seine Anführerin galt oft Artemis-Hekate, in späterer Zeit „Hellequin“ oder „Herlething“, zwei Namen, die noch später als „Harlekin“ wiederkehren (die naheliegende Verbindung mit Erlkönig stimmt dagegen wohl nicht).
Als Zeit, in der die Totengeister wiederkehren, wurde der Mittag im hohen Mittelalter von der Mitternacht abgelöst - mit der Verbreitung von Kirchenuhren wurde diese erstmals allgemein bestimmbar und galt offenbar rasch als noch unheimlicher als der Mittag. Erscheinungen von Mittagsgeistern wurden aber weiterhin angegeben, so in England die der "Mittagshexe" ("noontide hag", Walter Scott nennt sie 1810 in The Lady of the Lake), in der Bretagne und um Jülich die von mittäglichen Feldgespenstern.
Der Mittagsdämon der Septuaginta
Als zu Beginn des dritten Jahrhunderts v. Chr. die hebräische Bibel in Alexandria ins Griechische übersetzt wurde, die sogenannte Septuaginta, wurde ein Ausdruck in Psalm 91, 6 (in der Einheitsübersetzung: "die Seuche, die wütet am Mittag") mit "daimonion mesembrinon" wiedergegeben. Lateinisch wurde daraus "daemonium meridianum" - Mittagsdämon, wodurch dieser im Christentum für viele Jahrhunderte sozusagen zu einer "anerkannten" Erscheinung wurde. Auch im Talmud wird er mehrfach erwähnt.
Die erste Erwähnung des Mittagsdämons auf deutschem Gebiet stammt von Caesarius von Heisterbach aus dem 12. Jahrhundert, aus seinem Dialogus miraculorum.
Diana und Meridiana als Mittagsdämonen
Sowohl die römische Jagdgöttin Diana wie auch ihre griechische Entsprechung Artemis wurden in christlichen Quellen mit dem Mittagsdämon identifiziert. Bei Diana lautet eine gängige Erklärung, dass der Name als Kurzform von meridiana ("die mittägliche") gelesen werden konnte. Auffällig ist aber auch, dass die Quellen für beide Namensverwendungen auf keltisches Siedlungsgebiet verweisen: auf Süd- und Mittelfrankreich für Diana, auf das keltische Galatien in Kleinasien für Artemis, als habe hier aufgrund örtlicher Traditionen eine besondere - und besonders hartnäckige - Affinität zu diesen Erscheinungen bestanden.
Der Name "Meridiana" für den Mittagsdämon kommt in einer Erzählung Walter Maps aus dem 12. Jahrhundert vor, seiner sagenhaften Lebensgeschichte des Papstes Silvester II. in De nugis curialium.
Im slawischen Raum finden sich seit dem 13. Jahrhundert Hinweise auf eine "Mittagsfrau", die den viel früheren Berichten über die Begegnungen mit Artemis und Diana auffallend ähneln. Ob hier eine Motivwanderung, z. B. aus dem kleinasiatisch-byzantinischen Raum über Russland, stattgefunden hat, ist noch nicht geklärt.
Mittagsdämon und akedia
Ein weiterer Charakter der Mittagsstunde, der die bisher genannten Merkmale in sich zusammenfasst, ist die Versuchung zur Trägheit (griech. akedia), zum Sichgehenlassen. Thematisiert wurde dieser Zusammenhang von Euagrios Pontikos, einem Griechen, der sich in den letzten Jahrzehnten des 4. Jahrhunderts als Mönch in die ägyptische Wüste südlich von Alexandria zurückzog, wo damals zahlreiche Mönche als Einsiedler lebten:
"Der Dämon der Trägheit, der auch Mittagsdämon genannt wird, ist belastender als alle anderen Dämonen."
Er beschreibt als Symptome:
- Das Gefühl, dass die Zeit besonders langsam vergehe.
- Den Drang des Mönchs nach draußen, heraus aus seiner Zelle.
- Hass auf das eigene Leben und die eigene Arbeit.
- Die Freunde und Kollegen werden als verständnislos erlebt.
- Ein anderes Leben scheint leichter und glücklicher.
Die Gleichsetzung von akedia und Mittagsdämon wird manchmal schon dem früheren Origenes zugeschrieben, auf den Euagrios sich mitunter selbst bezieht. Die hierbei zitierten Texte des Origenes werden aber neuerdings als unecht angesehen und stammen wohl von Euagrios.
Johannes Cassian, ein Schüler und Freund des Euagrios, der später in Marseille wirkte und die Gedanken des Euagrios dem Abendland vermittelte, nennt als Ursachen für diesen Zustand neben den klimatischen Bedingungen die Einsamkeit und die besondere Ernährung der Mönche, d. h. ihr häufiges Fasten bzw. ihr nur gelegentliches, abendliches Essen. Im 12. Jahrhundert brachte - vielleicht auch aufgrund einer anderen Erfahrung mönchischen Lebens - Euthymios Zigabenos, ein griechischer Theologe, den Mittagsdämon mit dem Geist der Unzucht in Verbindung, der bei vollem Magen auftrete.
Als gelebte Erfahrung verlor sich die Verknüpfung von Mittagsdämon und Trägheit nach Euagrios allmählich wieder. Sein Trägheitsbegriff blieb jedoch virulent, da er ihn innerhalb einer Lehre der acht Haupt-„Laster“ entwickelte, aus denen, vermittelt durch Johannes Cassian, später die sieben Todsünden wurden.
... und Melancholie
Die Melancholie, ein Begriff auf der hippokratischen Medizin und der aristotelischen Philosophie, wurde bereits zur Zeit des Euagrios von Hieronymus und Johannes Chrysostomos in ganz ähnlichen Begriffen beschrieben wie die akedia von Euagrios. Im Mittelalter, so bei Hugo von Sankt Viktor, wurde beides ausdrücklich gleichgesetzt. Seither tauchen in Texten über Melancholie immer wieder auch Hinweise auf den Mittagsdämon auf. So nannte, um ein Beispiel aus der jüngsten Zeit zu nennen, Andrew Solomon seine 2001 erschienene große Studie über Depression The Noonday Demon (deutscher Titel: Saturns Schatten).
Literatur
- Roger Caillois: Les démons de midi, Montpellier 1991 (Nachdruck des für das Thema grundlegenden, gleichnamigen Beitrags in der Revue de l'histoire des réligions 115, Paris 1937, S. 142-173, und 116, Paris 1937, S. 54-83 und 143-186)
- Raymond Klibansky, Erwin Panofsky, Fritz Saxl: Saturn und Melancholie, Frankfurt / M. 1994 (engl. Original 1964)
- Dietrich Grau: Das Mittagsgespenst (daemonium meridianum): Untersuchungen über seine Herkunft, Verbreitung und seine Erforschung in der europäischen Volkskunde, Bonn 1966
- Reinhard Kuhn: The Demon of Noontide. Ennui in Western Literature, Princeton 1976
- Rüdiger Augst: Lebensverwirklichung und christlicher Glaube. Acedia - Religiöse Gleichgültigkeit als Problem der Spiritualität bei Evagrius Ponticus, Frankfurt 1990