Wahrheit
Wahrheit lässt sich auffassen als
- a) die formale, inhaltliche Korrektheit von Informationen
- b) die Wahrhaftigkeit im zwischenmenschlichen Umgang
Beide Aspekte sind schwer einzuschätzen: Wann sind Informationen eindeutig korrekt außer in einem axiomatischen System wie der Mathematik? Eine Antwort auf die Frage, warum es so viel schwieriger ist, eine befriedigende Definition des Begriffes Wahrheit zu geben als in einer einer exakten Geisteswissenschaft, möchte die folgende Darstellung wichtiger philosophischer Wahrheitstheorien in aller Kürze umreißen:
- Apriorische Wahrheiten: Wahrheiten, die von der Erfahrung unabhängig sind, wie z.B. ‚2 + 2 = 4‘, zu deren Begründung man keinerlei Erfahrung benötigt.
- Aposteriorische Wahrheiten: Wahrheiten, die von der Erfahrung abhängig sind, wie z.B. ‚die Erde dreht sich um die Sonne‘, zu deren Begründung man Erfahrung benötigt.
- Analytische Wahrheiten: Wahrheiten, bei denen der Prädikatsbegriff im Subjektsbegriff enthalten ist, wie z.B. ‚alle Junggesellen sind unverheiratet‘, zu deren Begründung man nur Bedeutungsregeln alleine benötigt.
- Synthetische Wahrheiten: Wahrheiten, bei denen der Prädikatsbegriff nicht im Subjektsbegriff enthalten ist, wie z.B. ‚alle Junggesellen sind glücklich‘, zu deren Begründung man nicht nur Bedeutungsregeln alleine benötigt.
- Notwendige Wahrheiten: Wahrheiten, deren Verneinung zu einem logischen Widerspruch führt, wie z.B. ‚alle Kreise sind rund‘.
- Kontingente (oder zufällige) Wahrheiten: Wahrheiten, deren Verneinung zu keinem logischen Widerspruch führt, wie z.B. ‚die Anzahl der Planeten ist gleich 9‘.
- Korrespondenz- oder Adäquationstheorie: Vertreten von Aristoteles (384-322 v.u.Z.) und vielen mittelalterlichen Philosophen. Wahrheit besteht in der Übereinstimmung von Verstand und Sache (‚wahr ist, von etwas was ist, zu sagen es sei, und von etwas, was nicht ist, zu sagen es sei nicht‘).
- Kohärenztheorie: Vertreten von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) und idealistischen Philosophen. Die Wahrheit einer Menge von Aussagen besteht darin, daß sie untereinander kohärent sind, d.h. daß sie widerspruchsfrei miteinander vereinbar sind.
- Pragmatische Wahrheitstheorie: Vertreten von pragmatisch orientierten Philosophen. Wahr ist, was für die Praxis fruchtbar bzw. nützlich ist.
- Konsenstheorie: Vertreten von Karl-Otto Apel (* 1922). Eine Aussage ist wahr, wenn eine potentiell unendlich große Menge von Menschen unter idealen Kommunikationsbedingungen dieser Aussage zustimmen würde.
- Redundanztheorie: Vertreten von Frank Plumpton Ramsey (1903-1930). Das Wort ‚wahr‘ ist überhaupt überflüssig.
- Performanztheorie: Vertreten von Peter Frederick Strawson (* 1919). Das Wort ‚wahr‘ wird performativ im Sinne einer Zustimmung zum Gesagten verwendet.
- Evidenztheorie: Vertreten von René Descartes (1596-1650), Franz Brentano (1838-1917) und Edmund Husserl (1859-1938). Ein Satz ist wahr, wenn er mit einem evidenten Urteil übereinstimmt.
- Existenztheorie: Vertreten von Martin Heidegger (1889-1976). Wahrheit ist Offenbarung des Seins.
- Semantische Wahrheitstheorie: Entwickelt von Alfred Tarski (1902-1983) in seinem zuerst auf polnisch erschienenen Aufsatz Der Wahrheitsbegriff in den formalisierten Sprachen (1933) als Semantik der Prädikatenlogik. Die Ursache der Lügner-Antinomie liegt für Tarski in der semantischen Geschlossenheit der Umgangssprache: diese enthält für jede Aussage einen Namen dieser Aussage. Deshalb kann man für sie keine Definition des Wahrheitsbegriffes angeben, ja diesen nicht einmal widerspruchsfrei verwenden.
Bereits im klassischen Griechenland war die berühmte ‚Antinomie des Lügners‘, oder einfach nur ‚der Lügner‘ bekannt. In einer einfachen Formulierung wird diese Antinomie ausgedrückt durch die Sätze ‚Ich lüge jetzt‘, oder: ‚Ein Mann aus Kreta sagt: „Alle Kreter lügen. Ich bin ein Kreter“‘. Wegen ihrer letzten Formulierung wird diese Antinomie oft auch nur kurz ‚der Kreter‘ genannt. Sollen wir jetzt dem Mann aus Kreta glauben, wenn er sagt, daß er lügt oder nicht? Wenn wir annehmen, daß er die Wahrheit sagt, dann müssen wir schließen, daß er lügt. Und wenn wir umgekehrt annehmen, daß er lügt, müssen wir schließen, daß er die Wahrheit sagt. Wie wir es auch drehen und wenden, wir verwickeln uns zwangsläufig in einen Widerspruch.
Wahrheit ist vor allem deshalb schwer zu erfassen bzw. festzustellen, weil kein Mensch alle Informationen haben kann, um "die ganze Wahrheit" kennen zu können. Insofern kann Wahrheit formal oft auf eine Wahrscheinlichkeitsaussage reduziert werden.
Für weniger komplizierte – künstliche – Sprachen wie etwa die Prädikatenlogik kann man jedoch den Wahrheitsbegriff definieren. Die Sprache, für die man den Wahrheitsbegriff definiert, und die damit Gegenstand der Untersuchung ist, nennt Tarski Objektsprache. Die Sprache, in der man die Definition formuliert, nennt Tarski Metasprache.
Wahrhaftigkeit im Sinne im zwischenmenschlichen Bereich ist sehr vielschichtig: Wahre Begegnung zwischen Menschen, offener Umgang miteinander, echte Selbstoffenbarung führen vielleicht zu dem, was der schweizer Theologe Emil Brunner einmal als "Wahrheit als Begegnung" formuliert hat...