Compoundkern

Ein englisch Compound nucleus ‚Zwischenkern‘ (auch: Mischkern oder zusammengesetzter Kern; weitere Namen s. u.) ist ein Atomkern in einem hoch angeregten, instabilen Zustand, der sich während mancher Kernreaktionen kurzzeitig bilden kann.
Weitere, in diesem Zusammenhang verwendete Bezeichnungen sind außerdem (in Englisch), „Bohr assumption“[2], „Bohr's general theory“[3] und „Evaporation model“.[4]
Bildung – Bohr's Annahme
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Der Compoundkern entsteht durch vollständige Vereinigung des Projektilteilchens (z. B. Proton, Neutron, Alphateilchen) mit dem getroffenen Kern (englisch target nucleus ‚Zielkern‘). Durch den Gewinn an Bindungsenergie befindet er sich in einem angeregten Zustand hoher Energie und kann einen hohen Gesamtdrehimpuls haben.
Im einfachsten Fall (im Endzustand nur zwei Kerne/Teilchen) kann die Kernreaktion also wie folgt geschrieben werden:
1)
2)
Dabei bedeuten:
- : einfallendes Teilchen (Projektil)
- : Targetkern
- : Zwischenkern (der Stern deutet den hohen Anregungszustand an)
- : Restkern
- : emittiertes Teilchen
Wie oben angedeutet ist der Prozess in zwei quasi-unabhängige Abschnitte (auch bekannt als „Bohr's Hypothese“) aufgeteilt. Der Zerfall ist damit nicht davon abhängig, auf welchem Wege der Zwischenkern entstanden ist.[5] Beispielsweise sind, wenn es mehrere Zerfallskanäle gibt, deren Häufigkeitsanteile (Verzweigungsverhältnisse) stets gleich. Dies konnte experimentell an Fällen bestätigt werden, wo gleiche Zwischenkerne auf verschiedenen Reaktionswegen erzeugt wurden. Anschaulich gesagt hat der Zwischenkern bei seinem Zerfall – abgesehen von Erhaltungsgrößen wie Energie, Drehimpuls und Parität – „schon vergessen“, wie er entstanden ist. Dem entspricht es, dass selbst eine Lebensdauer von 10−19 s noch viel länger ist als die Zeit, die das Projektil zum „Durchqueren“ des Targetkerns bräuchte.[6]
Eigenschaften
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Anregungsenergie
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Die englisch excitation energy ‚Anregungsenergie‘ des Kerns ist
mit der Masse des Targets (), der kinetischen Energie des einfallenden Teilchens mit der Masse und der Bindungsenergie des Teilchens im Zwischenkern.
Zerfall
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Nach einer Lebensdauer von etwa 10−19 bis 10−15 s zerfällt der Zwischenkern dann in zwei oder mehr Kerne oder Teilchen, oder es bleibt beim Einfang des Projektilteilchens und die hinzugewonnene Bindungsenergie wird als Gammaquant abgestrahlt.[6]
Reaktionsmechanismus
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Die Winkelverteilungen der Produkte im Schwerpunktsystem sind als Folge der Drehimpulserhaltung immer spiegelsymmetrisch zur 90°-Richtung. Findet man eine solche Winkelverteilung, ist dies daher ein Hinweis auf diesen Reaktionsmechanismus.
Reaktionskanäle
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Der Zwischenkern kann auch in denselben Kanal „zurück“ zerfallen, aus dem er gebildet wurde, also
Dieser Vorgang ist im Endeffekt eine einfache elastische Streuung. Da er aber hier durch den Zwischenkern vermittelt wurde, spricht man von "compound-elastischer" Streuung.
Ist die Anregungsenergie eher gering, entregt sich der Zwischenkern unter Emission von -Photonen wie folgt ab
Man spricht auch von englisch radiative capture ‚Strahlungseinfang‘.
Auftreten
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Das Zwischenkern-Reaktionsmodell ist vor allem bei Projektilenergien anwendbar, die deutlich unter der Bindungsenergie eines Nukleons im Targetkern (im Mittel ca. 9 MeV) liegen. Außerdem findet die Absorption a + X → Y* bevorzugt dann statt (ihr Wirkungsquerschnitt ist also besonders groß), wenn die Projektilenergie so gewählt wird, dass in dem möglichen Zwischenkern Y gerade eines seiner Energieniveaus im Kontinuum erreicht wird, wenn es also zu einer Resonanz kommt. Erkennbar ist dies an einem Maximum der Anregungsfunktion mit einer Form nach der Breit-Wigner-Formel.[7] Ein Hinweis auf Zwischenkernbildung ist es daher, wenn relativ schmale Resonanzen beobachtet werden, denn schmale Resonanzen entsprechen nach der Heisenbergschen Unschärferelation einer langen mittleren Lebensdauer (siehe auch Zerfallsbreite).
Reaktionen wie die induzierte Kernspaltung, die zweite Phase (auch bekannt als „Kernverdampfung“) einer Spallation und Teilcheneinfang-Reaktionen mit Gamma-Emission können ebenfalls nach dem Zwischenkernmodell verstanden werden.[6] Auch die als Quelle schneller Neutronen und als Energiequelle genutzte Deuterium-Tritium-Fusionsreaktion verläuft über einen Helium-5-Zwischenkernzustand.[8][9]
Geschichtliches
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]Das Compoundkern-Reaktionsmodell wurde von Niels Bohr 1936 vorgeschlagen.[10] Die weitere Entwicklung der Kernphysik hat später andere Reaktionsmodelle (z. B. das optische Modell) hervorgebracht, die besonders bei höheren Projektilenergien zur Erklärung der Beobachtungen nötig sind.
Literatur
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- Niels Bohr: Neutron Capture and Nuclear Constitution. In: Nature. Band 137, Nr. 3461, Februar 1936, S. 344–348, doi:10.1038/137344a0 (englisch).
- V. F. Weisskopf, D. H. Ewing: On the Yield of Nuclear Reactions with Heavy Elements. In: Physical Review. Band 57, Nr. 6, 15. März 1940, S. 472–485, doi:10.1103/PhysRev.57.472 (englisch).
- H. A. Bethe: A Continuum Theory of the Compound Nucleus. In: Physical Review. Band 57, Nr. 12, 15. Juni 1940, S. 1125–1144, doi:10.1103/PhysRev.57.1125 (englisch).
- H. A. Bethe: Nuclear Physics B. Nuclear Dynamics, Theoretical. In: Reviews of Modern Physics. Band 9, Nr. 2, 1. April 1937, S. 69–244, doi:10.1103/RevModPhys.9.69 (englisch).
- John M. Blatt, Victor F. Weisskopf: Theoretical Nuclear Physics. Dover Publications, New York 1991, ISBN 978-0-486-66827-7 (englisch, archive.org – Originaltitel: Op. cit. 1952.).
- Herman Feshbach: The Compound Nucleus. In: Fay Ajzenberg-Selove (Hrsg.): Nuclear Spectroscopy (Part B of B) (= Pure and Applied Physics A Series of Monographs and Textbooks). Band 9. Academic Press, New York 1960 (englisch, archive.org).
Einzelnachweise
[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]- ↑ Experiments with high velocity positive ions. II. -The disintegration of elements by high velocity protons. In: Proceedings of the Royal Society of London. Series A, Containing Papers of a Mathematical and Physical Character. Band 137, Nr. 831, Juli 1932, ISSN 0950-1207, S. 229–242, doi:10.1098/rspa.1932.0133 (royalsocietypublishing.org [abgerufen am 18. April 2025] Insgesamt fünf Fachartikel: 10.1098/rspa.1932.0107; 10.1098/rspa.1932.0133; 10.1098/rspa.1934.0078; 10.1098/rspa.1935.0015; 10.1098/rspa.1936.0049).
- ↑ John Markus Blatt, Victor Frederick Weisskopf: Theoretical nuclear physics. Dover Publications, New York 1991, ISBN 978-0-486-66827-7 (Originaltitel: Id. 1952.).
- ↑ H. A. Bethe: Nuclear Physics B. Nuclear Dynamics, Theoretical. In: Reviews of Modern Physics. Band 9, Nr. 2, 1. April 1937, ISSN 0034-6861, S. 69–244, doi:10.1103/RevModPhys.9.69 (englisch, aps.org [abgerufen am 28. Juni 2024]).
- ↑ A. Deppman et al.: A Monte Carlo method for nuclear evaporation and fission at intermediate energies. In: Nuclear Instruments and Methods in Physics Research Section B: Beam Interactions with Materials and Atoms. Band 211, Nr. 1, September 2003, S. 15–21, doi:10.1016/S0168-583X(03)01265-5 (englisch, elsevier.com [abgerufen am 28. Juni 2024]).
- ↑ S. N. Ghoshal: An Experimental Verification of the Theory of Compound Nucleus. In: Physical Review. Band 80, Nr. 6, 15. Dezember 1950, ISSN 0031-899X, S. 939–942, doi:10.1103/PhysRev.80.939 (englisch, aps.org [abgerufen am 18. April 2025]).
- ↑ a b c K. Bethge, G. Walter, B. Wiedemann: Kernphysik, 2. Auflage, Springer, 2001, S. 196 f.
- ↑ G. Breit, E. Wigner: Capture of Slow Neutrons. In: Physical Review. Band 49, Nr. 7, 1. April 1936, ISSN 0031-899X, S. 519–531, doi:10.1103/PhysRev.49.519 (englisch, aps.org [abgerufen am 18. April 2025]).
- ↑ H.-S. Bosch: Nuclear Fusion. In: Plasma Physics. Band 670. Springer-Verlag, Berlin/Heidelberg 2005, ISBN 978-3-540-25274-0, S. 445–460, doi:10.1007/11360360_17 (englisch, springer.com [abgerufen am 18. April 2025]).
- ↑ H.-S. Bosch, G. M. Hale: Improved formulas for fusion cross-sections and thermal reactivities. In: Nuclear Fusion. Band 32, Nr. 4, April 1992, ISSN 0029-5515, S. 611–631, doi:10.1088/0029-5515/32/4/I07 (englisch, iop.org [abgerufen am 18. April 2025]).
- ↑ Niels Bohr: Neutron Capture and Nuclear Constitution. In: Nature. Band 137, Nr. 3461, 29. Februar 1936, ISSN 0028-0836, S. 344–348, doi:10.1038/137344a0 (englisch, nature.com [abgerufen am 18. April 2025]).