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Historische Jesusforschung

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In Arbeit

Seit dem 18. Jahrhundert wird von zahlreichen Theologen und Historikern intensiv nach dem historischen Jesus geforscht, der hinter den Berichten der Evangelien und der frühen Kirche steht und der vom Christus des Glaubens unterschieden wird. Diese Forschung wird oft als Leben-Jesu-Forschung bezeichnet.

Die wissenschaftliche Erforschung des NT, besonders der Evangelien, beginnt schon im 18. Jahrhundert, verstärkt aber seit Beginn des 19. Jahrhunderts im Gefolge der Aufklärung und des Historismus.

Man begann nun, schon früh beobachtete Widersprüche zwischen den Evangelien methodisch zu untersuchen und zu erklären. Was diese nicht berichten, wurde durch andere christliche Überlieferungen und durch außerchristliche Quellen zu ergänzen versucht. Dazu wurde mehr und mehr auch das sonstige Wissen über die Gesellschaft der Zeit heran gezogen. So versuchten die Forscher, ein Bild des Lebens und der Lebensumstände von Jesus zu zeichnen.

Dabei floss oft viel eigene Phantasie oder Fehldeutungen in die Darstellung ein. Doch die historische Forschung hat gerade aus den Irrwegen viel gelernt und ihre Methoden fortlaufend verbessert. So verlief die Erforschung des Alten Testaments urprünglich parallel, aber getrennt von der des NT: Heute dagegen sieht man die Bibel mehr und mehr als historisches Kontinuum und widmet der Judaistik für die Zeit 100 v. bis 100 n. Chr. entscheidende Aufmerksamkeit.

Man teilt die Suche nach dem historischen Jesus oft in drei Hauptphasen ein, die sich durch ihre Ansätze unterscheiden:

Phase 1: Von Reimarus bis Albert Schweitzer

Ansätze

Ernest Renan (1823-1892)

Adolf von Harnack (1851-1930)

Zu typischen Jesusbildern, die heute allerdings teilweise überholt sind, gehört die des großen liberalen Theologen A.v. Harnack (Lebensdaten), der vor und nach dem 1. Weltkrieg lehrte. Sein Hauptwerk heißt „Das Wesen des Christentums“. Darin fragt er:

Was ist das besondere, einzigartige an der Lehre Jesu?

Harnack stellt fest: Nichts ist originär neu! Was Jesus lehrte, wurde vorher schon im AT oder von hellenistischen Philosophen aufgezeigt. Er hat die Botschaft von der "reinen Menschenseele" lediglich erneuert. Harnack findet diese Lehre Jesu im Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lk. 15, 11-32):

  • Gott verlangt nichts: kein Sündenbekenntnis, kein Opfer, keine Leistung. Gott freut sich einfach über die Heimkehr seines Sohnes. Diese reine Gnade ist im Judentum, dem Glauben Jesu, schon vorhanden.
  • Gottes Liebe überwindet die Erbsünde, erneuert das sündige Fleisch und den rechtgläubigen, reinen Geist.
  • Die Seele ist rein und kann durch die Taten auf Erden nicht befleckt werden. Sie geht rein wieder zu Gott ein. Das Judentum kennt diese Geborgenheit der Seele im Hinblick auf Gott.
  • Jedoch steht das Judentum fest im Rahmen von heiligen Gesetzen und religiösen Pflichthandlungen, die vielfach vom frühen Christentum übernommen wurden. Dabei wurde ihre Bedeutung gewandelt und zudem durch zahlreiche heidnische Bräuche ergänzt.
  • Die Lehre Jesu von der reinen Annahme der Seele geht per missio (Mission) über die ganze Welt.

Dieser berühmte Musiker, Theologe und Arzt verfasste am Ende des 19. Jahrhunderts ein Buch über die „Geschichte der Leben-Jesu-Forschung“. Darin konnte er überzeugend nachweisen, dass fast alle Jesus-„Biographien“ eigene Vorstellungen in die Texte hineinprojizierten. Wo Jesus etwa der große Erfinder der „Goldenen Regel“ gewesen sein sollte, dachte der aufgeklärte Forscher an den kategorischen Imperativ Immanuel Kants. Wo er der Freund aller Menschen und Tiere gewesen sein sollte, dachte der die romantische Natur liebende Forscher an Franziskus. Wo er der Held eines nationalen Befreiungskampfes sein sollte, dachte der patriotische Forscher an seine Burschenschaft usw..


Phase 2: Von Bultmann bis zum Jesus-Seminar

Ansätze

Rudolf Bultmann (1884-1976)

Ernst Käsemann (1906-1998)

Günther Bornkamm

Willy Marxsen (1919-1993)

Gerd Theißen, Luise Schottrof, Wolfgang Stegemann (*1945)

John Dominic Crossan (*1934)

Jesus-Seminar

Phase 3

Ansätze

  • geht eher historisch als theologisch vor *sieht Jesus als Juden im jüdischen Kontext:

auch ein Reflex des seit 1945 begonnenen, seit 1960 verstärkten

  • jüdisch-christlichen Dialogs.

Sanders

N.T. Wright

Forschungsmethoden

(Bearbeitungsvorschlag : Dieser Teil gehört eventuell vor die Phasen. Dann kann man in der Beschreibung der Phasen und Forscher die Entstehung einer Methode konkretisieren. Oder als Zusammenfassung der einzelnen Forschungsergebnisse, die sich durchgesetzt haben, danach.)

Im Lauf der Forschungsgeschichte wurden die Methoden der Textanalyse und Sprachbeobachtung immer mehr verfeinert. Zum Arsenal der historisch-kritischen Methoden gehört heute u.a.

  • die Textkritik: Sie geht den verschiedenen Textvarianten nach, die verschiedene Handschriften der NT-Texte bieten und versucht Kriterien zu gewinnen, welcher Variante warum der Vorzug zu geben ist.

Hier kann man sich heute auf solide Vorarbeit verlassen und den "Nestle"-Ausgaben der Urtexte trauen.

  • die Literarkritik: Sie beobachtet Spannungen und Brüche innerhalb eines Textes. Sie leitet aus diesen Widersprüchen verschiedene Bearbeitungsschichten eines Textes ab(ähnlich den Versionen der Wiki-Texte). Auf diese Weise wurde die Zweiquellentheorie sehr wahrscheinlich gemacht.

So ist die Feststellung, dass das Partizip "sitzend" später in den Satz Mk. 14, 62 eingefügt worden sein muss, ein literarkritisches Argument.

  • die Überlieferungsgeschichte. Sie versucht aufzuhellen, wer wem welche Textmotive überliefert haben kann.

So ist die Beobachtung, dass "sitzend" die Inthronisation des bereits Auferstandenen voraussetzt, ein überlieferungsgeschichtliches Argument.

  • die Traditionsgeschichte: Sie ordnet Ergebnisse der Überlieferungsgeschichte in größere Zusammenhänge ein.

Dass Jesus an den Menschensohn von Daniel 7 (und nicht einen anderen Menschensohn) erinnert, ist z.B. ein traditionsgeschichtliches Argument.

  • die Formgeschichte. Sie fragt nach den Textgattungen und Formen, z.B. "Lehrgedicht", um so die Absicht eines Textes zu klären. Sie fragt auch nach seinem "Sitz im Leben", also der Situation, auf die er sich bezieht.
  • die Sozialgeschichte. Sie erweitert die Formgeschichte von der Gemeindesituation zur Volkssituation. Sie wurde bis 1960 stark vernachlässigt: Forscher fragten nur nach den Wegen und Wandlungen von Ideen, nicht nach den Lebensumständen, die die Veränderung von Ideen bewirkt haben könnten.

Dass das Ährenraufen am Sabbat nicht (nur) einen großartigen Tabubruch ausdrückt, sondern (auch) große Hungersnot, ist ein sozialgeschichtliches Argument.

  • die Wirkungsgeschichte. Wie ein Text "ankam", lässt Rückschlüsse auf seine Aussageabsichten zu.

Hier muss man jedoch sehr vorsichtig sein. Sagen zwei Personen nacheinander Ähnliches oder Gleiches, heißt das noch nicht, dass der zweite den ersten richtig verstanden hat. Dass Jesus sich als "Menschensohn" vorstellte, legt z.B. nicht sofort die christliche Vorstellung vom "Sohn Gottes" nahe. Sonst verdeckt die Wirkung die Ursprungsabsicht.

Sachliche Hintergrundinformationen

Der Handwerker

Traditionsgemäß dürfte Jesus das Handwerk des Vaters erlernt haben und "Tekton" geworden sein, ein Handwerker, der vorwiegend im Baugewerbe tätig ist, jedoch generell mit Steinen, Stroh und Holz umgehen kann. Anhand von Rechnungen ist auch belegt, dass ein Tekton am Schleusenbau, bei der Instandhaltung von Schöpfrädern und der Ausbesserung von Sätteln mitgearbeitet haben kann.

Die Opferhändler

Die Händler sind historisch betrachtet ebenso wichtig wie die Priester: Der Handel im Vorhof ist eine feste Institution, denn nur sie verkaufen die Opfer, die ausschließlich im Jerusalemer Tempel dargebracht werden können. Ohne die Opfer können aber die religiösen Riten nicht vollzogen werden.

Die prophetische Tradition

Der Angriff auf die Händler kann als höchster Tabubruch betrachtet werden, nicht als Reinigung, sondern als ein Angriff auf die bestehende Ordnung und die Elite des Judentums. Jesus befindet sich allerdings hier in bester jüdischer Tradition, auch Jeremia, den er zitiert, hat kritisiert, dass aus dem Hause des Vaters (=Gottes) eine Räuberhöhle gemacht wurde und spektakuläre Auftritte (Joch, Zerbrechen eines Gefäßes) gefeiert.

Offene Fragen

Da die Evangelien keine Biographien Jesu sind und auch nicht sein wollen, bieten sie viel Raum für Vermutungen und Spekulation.

War Jesus gebildet?

Ob Jesus über höhere Bildung verfügt, ist umstritten. Vielleicht sprach er neben dem lokalen Dialekt etwas griechisch und konnte rudimentär lesen und schreiben; belegt ist dies jedoch nicht.

War Jesus ein uneheliches Kind?

Die Vermutung, dass Jesus ein uneheliches Kind Marias war, legt das Neue Testament selbst nahe (Mt. 1, 19). Im Talmud wird sie zur Herabsetzung Jesu verwendet. Der Historiker Gerd Lüdemann hat diese These neuerdings wieder vertreten.

Vielleicht war Jesus deswegen ein Außenseiter in seinem Heimatdorf und hat sich auch deshalb später anderen gesellschaftlichen Außenseitern zugewandt.

Aber Jesu erste Jünger stammten aus seiner Gegend. Auch Petrus' Mutter folgte Jesus. Viele Familien waren damals entwurzelt, und die sozialen Bindungen lösten sich auf. So muss die Bezeichnung „Sohn der Maria“ nicht auf eine voreheliche Affaire hinweisen. Ebensogut kann Joseph sich früh von Maria getrennt haben, so dass man Jesus nur noch als Sohn der Maria kannte.

Wie verbrachte Jesus seine Jugend?

Was Jesus in seiner Jugendzeit getan hat, weiß man nicht. Eventuell hat er als Tekton (Bauhandwerker) mit seinem Vater Josef beim Wiederaufbau der nahe gelegenen Stadt Sepphoris mitgearbeitet, die durch Varus und seine Legionen zerstört worden war. Nazareth selbst dürfte keine Basis für die Ernährung der achtköpfigen Familie von Josef und Maria geboten haben.

Fraglich ist jedoch, ob Galiläer, zumal wenn sie von Johannes und anderen Bußpredigern zur Umkehr gerufen wurden, überhaupt bei römischen Wiederaufbauten mitwirkten. Jesu Wirkungskreis umfasste später keine Römerstädte. Warum sollte er diese meiden, wenn er früher dort gearbeitet hätte?

Die Evangelien zeigen, dass Jesus und seine Jünger vom Fischen im See Genezareth, vom Betteln und von der Gastfreundschaft, der sie unterwegs begegneten, lebten. Das kann auch schon in ihrer Jugend so gewesen sein. Sie zeigen auch, dass Jesus schon früh zur Familie auf Distanz ging.

Warum verließ Jesus seine Familie?

Die Evangelien erwähnen Josef, Jesu Vater, seit Jesu Taufe nicht mehr. Dafür ist nun öfter von Kapernaum die Rede, wo Jesus nach Lukas 4 zuerst auftrat. Daher vermuten manche Forscher, Jesus sei dorthin umgezogen, nachdem sein Vater fort oder tot war.

Der älteste Sohn hatte damals die Pflicht, sich um die Eltern und Geschwister zu kümmern. Das Verlassen seiner Familie wäre ein Verstoß gegen das vierte Gebot gewesen: Nach der Gesellschaftsmoral seiner Zeit war Jesus damit einem Mörder und Ehebrecher gleichzusetzen.

Dazu passt, dass seine Familie wiederholt versucht haben soll, ihn festzuhalten. Mk. 3, 20f begründet das so:

Als er nachhause kam, sammelte sich abermals viel Volk, so dass sie nicht essen konnten.

Offenbar war zuwenig Platz und Nahrung für alle vorhanden, doch Jesus wollte niemand ausschließen. Deshalb hielten seine Angehörigen ihn für verrückt: "Er ist von Sinnen!"

Jesus sah sich berufen, allen Armen Gottes Reich zu verkünden, so dass er umherzuziehen begann. Das löste Konflikte mit seinen Verwandten aus, bis er Nazareth ganz verließ.

Wie verhielt Jesus sich zu Johannes?

Zur Zeit Jesu gab es eine Reihe von eschatologischen Wanderpredigern mit mehr oder weniger großer Gemeinde. Einer davon war Johannes der Täufer.

Vielleicht gehörte er eine Weile zur Gruppe der Essener. Diese Sekte lebte streng von der Umwelt abgeschieden, während Johannes und Jesus umherzogen.

Johannes rief alle Juden zur Umkehr und taufte sie, um sie vor dem drohenden Endgericht zu retten. Auch Jesus ließ sich von ihm taufen. Ob er sich ihm anschloss, ist ungewiss. Nach Jh. 3, 22ff soll Jesus eine zeitlang parallel zu Johannes Jünger getauft haben.

Dass es einen Austausch und Konkurrenz zwischen Johannes- und Jesusgruppen gab, ist gewiss. Vielleicht lernte Jesus die Brüder Petrus und Andreas bei Johannes dem Täufer kennen (Jh. 1, 35-42.) Aber hat er sie gezielt abgeworben, oder trat er auf eine neue Art auf, die attraktiver war?

Jesus predigte das Reich Gottes dann auf andere Weise: nämlich als gnädige Zuwendung Gottes zu den Armen und Sündern. Er heilte gerade die, die Gottes Gericht verfallen gewesen wären.

In welchem Gebiet wirkte Jesus?

Jesus sah sich zu den „verlorenen Schafen des Hauses Israel“ gesandt und hatte kein Interesse an Weltruhm. Sein Wirkungskreis blieb anfangs auf ein kleines Gebiet am See Genezareth beschränkt, das durch das Städtedreieck Kapernaum-Bethsaida-Chorazim eingegrenzt war.

Daher liefern andere zeitgenössische Quellen kein Material zu Jesus: Er war eine unbedeutende Randfigur, ein Wanderprediger unter vielen, der in einer Provinz unterwegs war, die keinerlei besondere Bedeutung im römischen Reich hatte.

In Kapernaum, einem Fischerdorf von ca. 1000 Einwohnern, richtete Jesus offenbar im Hause des Petrus eine Art Hauptquartier ein. Archäologen bestätigen die Existenz eines Gebäudes, das seit frühchristlicher Zeit als Pilgerstätte diente und möglicherweise das Haus des Petrus war. Eventuell wurde Jesus dort von einigen Reisenden gehört, die auf der Fernstraße Via Maris nach Syrien oder Ägypten unterwegs waren.

Jesus hat auch Ausländer geheilt (Mk. 7, 24ff) und soll den Diener eines römischen Offiziers geheilt haben (Mt. 8, 5-13/Lk. 7, 1-10) .

Jesus kann auch einen Streifzug durch Samaria gemacht haben. Diese Provinz Palästinas war Teil des früheren Nordreichs, das den Jerusalemer Tempelkult nicht als verbindlich ansah.

Wie verhielt Jesus sich zu den Geboten der jüdischen Tradition?

Jesu Verhältnis zur jüdischen Thora ist umstritten. Auf der einen Seite stehen Aussagen wie Mt. 5, 17:

Ich bin nicht gekommen, das Gesetz aufzulösen, sondern zu erfüllen...

Auf der anderen Seite hat Jesus viele Gebote und Sitten auf zum Teil umstürzlerische Weise in Frage gestellt und z.B. gesagt:

Der Sabbat ist für den Menschen, nicht der Mensch für den Sabbat da!

Nach Mk. 2-3 hat Jesus auch am Ruhetag seinen Jüngern erlaubt, Nahrung zu sammeln, und bewusst öffentlich geheilt. Das soll den Plan seiner Gegner, ihn zu töten, ausgelöst haben. Doch bessere Kenntnis des Pharisäismus relativiert die These, Jesus habe das Sabbatgebot aufgehoben. Denn er hat erlaubt, auch am Sabbat Leben zu retten, und den Sabbat auf diese Weise geheiligt. Das sahen auch andere Rabbiner schon vor Jesus als legitime Erfüllung des Sabbatgebots an.

Hat Jesus das 4. Gebot, die Eltern zu ehren, aufgehoben? Er hat es auf jeden Fall völlig konträr zur Tradition ausgelegt und Gottes wahrem Willen untergeordnet:

Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert...
Wer Gottes Willen tut, der ist meine Mutter und Schwester und mein Bruder.

Das heißt: Achte die als deine Eltern, die Gottes Willen tun.

In den sogenannten „Antithesen“ der Bergpredigt hat Jesus z.B. das 5. Gebot „Morde nicht“ über den Wortlaut hinaus radikalisiert. Schon wer andere hasst, ist eigentlich ein Mörder und verdient den Tod. Er wollte aber keine Strafverschärfung einführen, sondern das unbarmherzige Verurteilen anderer entkräften.

Hat Jesus die Todesstrafe aufgehoben? Jh. 8, 1-11 berichtet von der Ehebrecherin, deren Leben Jesus dadurch rettete, dass er sagte:

Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.

Dieses Jesuszitat ist in den ältesten Handschriften des Johannes-Evangeliums noch nicht enthalten und wurde offenbar später hinzugefügt. Dem Text ist aber zu entnehmen, dass Jesus die Frau nicht verurteilt, sondern den Anklägern bewusst gemacht hat, dass sie ebenfalls die Todesstrafe verdienen. Das passt zu den sonstigen Gebotsauslegungen Jesu. Eine direkte Aufhebung der Gebote, die die Todesstrafe fordern, ist es aber nicht.

Wie verhielt Jesus sich zu den Reichen und Mächtigen?

Jesus sah sich zu den Bettelarmen gesandt und verkündete Gottes Reich als Angriff auf die ungerechte Besitzverteilung. Damit stellte er die führenden Gesellschaftsschichten, die Landbesitzer und die Tempelpriester in Frage. So verlangte er vom reichen Großgrundbesitzer, dass er sein gesamtes Land und Vermögen den Armen schenkt und ihm nachfolgt: also ihm hilft, andere auch zu überzeugen, ihren Besitz für die Armen aufzugeben (Mk. 10, 17-27).

Warum ging Jesus nach Jerusalem?

Jesus verließ Galiläa, um sich Jerusalem und damit dem Zentrum des Glaubens zuzuwenden. Ob dieser Entschluss erst allmählich in ihm reifte oder von Beginn an vorgesehen war, ist ungewiss.

Vielleicht war Jesus enttäuscht, dass sich nach seiner Predigt nichts besserte, und sah sich in Galiläa gescheitert. Seine Weherufe über die Städte Galiläas lassen das vermuten (Mt. 11, 20-24/Lk. 10, 13-16).

Der Weheruf ist jedoch eine feste Gattung in der Gerichtsprophetie. Das Klagen "hättet ihr doch Buße getan..." nimmt die Klage über das Gericht vorweg, als sei es schon geschehen. Das kennzeichnet den letzten ultimativen Umkehrruf. Jesus vertraute die Städte Gottes Gericht an und zog weiter, wie er es seinen Jüngern auch befohlen hatte (Mt. 10, 14f).

Jesus zog von Galilea nach Jerusalem, nachdem er vom Ende des Täufers gehört hatte (Mt. 14, 12). Vielleicht wollte er dessen Werk zuende führen, ganz Israel zur Umkehr rufen und den jüdischen Gottesdienst reformieren.

Was wollte Jesus in Jerusalem?

Nach Mk. 11, 15-18 vertrieb Jesus bald nach seiner Ankunft die Händler aus dem Tempelvorhof, um alle Völker in den Tempel einzuladen. Er wollte den Opferkult abschaffen. Das Volk war davon so beeindruckt, dass die Sadduzäer nun planten, ihn festzunehmen. Laut Mk. 14, 1-2 hatten sie Angst, seine Festnahme könne einen Aufruhr auslösen.

Die Beschreibung, dass Jesus von den Römern als „König der Juden“ hingerichtet worden sei, bedeutet als Schuldspruch: Anzettelung von Aufruhr. Aber hat Jesus einen solchen Aufruhr geplant? Wollte er dazu anstiften? Dem widerspricht, dass er sich ohne jede Gegenwehr festnehmen ließ.

Hat Jesus einen Messiasanspruch erhoben?

Auf die Messiasfrage des Täufers Mt. 11, 2-6/Lk, 7, 18-23 verwies Jesus auf sein Handeln, in dem sich die Verheißungen der Propheten erfüllen.

Im ältesten Evangelium bezeichnete sich Jesus nirgends direkt als Messias. Außer dem "Ich bin es" in seinem Prozess vor Kaiphas, bei dem keiner seiner Anhänger anwesend war, gibt es keinen Beleg.

Petrus bezeichnete ihn als „Christus“ und wurde sofort gewarnt, Jesus nicht misszuverstehen: Der Menschensohn müsse vieles erleiden... (Mk. 8, 29-31).

Bei seinem Einzug in Jerusalem zeigte Jesus, in welchem Sinne er als Messias verstanden werden wollte: nicht als neuer David und Gewaltherrscher, sondern als macht- und gewaltloser Befreier der Armen. Er erhob keinen direkten Anspruch auf einen Thron oder ein Führungsamt. Er wollte Gottes Willen erfüllen und wurde gerade so allerdings zu einer echten Gefahr für die Amtsträger seines Volkes.

Warum wurde Jesus gekreuzigt?

Dass Jesus von den Römern als Messiasanwärter verurteilt wurde, heißt noch nicht, dass er dafür auch von den Juden verurteilt wurde, und auch nicht, dass er tatsächlich einen Umsturz wollte.

Aber es unterstützt die Annahme, dass er einen Messiasanspruch erhoben hat. Dann hat er bei der Anklage die Frage Bist du der Messias? wahrscheinlich bejaht.

Ein Messiasanspruch als solcher aber war für die jüdischen Autoritäten noch kein Grund für ein Todesurteil. Er wurde nicht bestraft, sondern man wartete ab, was aus dem Anspruch werden würde.

Die Steinigung, nicht die Kreuzigung, war die übliche jüdische Todesstrafe für Falschprophetie im Alten Testament. Als die Sadduzäer Todesurteile wieder selbst vollstrecken durften, wurde der Urchrist Stephanus gesteinigt.

Ernest Renan: La Vie de Jésus (engl. Übersetzung)