Evangelikalismus
Evangelikal (v. engl. evangelical) bezeichnet eine theologische Richtung innerhalb des Protestantismus, die sich auf die Bibel als einzige Glaubensgrundlage beruft. Evangelikale können verschiedenen protestantischen Konfessionen angehören, z.B. reformiert, lutherisch, baptistisch oder methodistisch.
Evangelikale sind der Überzeugung, dass zum Christentum eine klare persönliche Willensentscheidung (Bekehrung) und eine persönliche Beziehung zu Jesus Christus gehören. Im Allgemeinen beschränken Evangelikale (mit Ausnahme der charismatischen Evangelikalen) Transzendenz auf die Bibel, die ihrer Ansicht nach von Menschen geschrieben, aber von Gottes Geist inspiriert wurde.
Das im Deutschen relativ neue Wort ist von evangelisch zu unterscheiden.
Der Begriff „evangelikal“
Das relativ junge Wort evangelikal ist heute ein feststehender Ausdruck für ein in seinem Selbstverständnis auf besondere Weise bibeltreues protestantisches Christentum geworden, das sich von Traditionalismus, Liberalismus, Säkularismus, aber meist auch von liturgisch orientierten nichtprotestantischen Kirchen abgrenzt. Die Bezeichnung Evangelical wurde in den Vereinigten Staaten im 20. Jahrhundert immer mehr verwendet, um Christen zu bezeichnen, die in der Tradition der bibeltreuen Erweckungsbewegungen stehen. Nur in wenigen Fällen identifizieren sie sich selbst mit dem Begriff des christlichen Fundamentalismus; von anderen werden sie jedoch öfter so bezeichnet.
Im deutschen Sprachraum konnte die wörtliche Rück-Übersetzung evangelisch für den gleichen Begriff nicht verwendet werden, da der Begriff bereits seit der Reformation im 16. Jahrhundert besetzt ist (und beispielsweise in Österreich die Evangelische Kirche beinahe ein Rechtsmonopol auf die Bezeichnung beansprucht). Daher kam es zur Wortschöpfung evangelikal, vor allem nach dem Missionskongress in Berlin 1966. Dieser Begriff hat sich gegenüber ähnlichen Begriffen wie bibeltreu oder pietistisch durchgesetzt, da er vom Wort her die Verbindung sowohl zum Evangelium als auch zur internationalen Bewegung herstellt.
Achtung: Im Englischen hat evangelical zwei Bedeutungen: Zum einen wird es mit „evangelikal“ übersetzt, zum anderen (seltener) einfach mit „evangelisch“, wie beispielsweise in der „Evangelical Lutheran Church in America“ (ELCA), der evangelisch-lutherischen Kirche der USA, die keineswegs „evangelikal“ ist. Zur Beschreibung des deutschen „evangelisch“ wird im Englischen eher „protestant“ verwendet. Gemäß einer Faustregel tendieren Evangelikale in den USA eher dazu, evangelical mit einem kurzem e auszusprechen, wogegen Nicht-Evangelikale eher ein lang gezogenes „eevangelical“ intonieren.
Verbreitung der Evangelikalen
Weltweit
Zahlenangaben über die Evangelikalen haben immer eine gewisse Unschärfe und bleiben deshalb umstritten. Diese Unschärfe hängt auch damit zusammen, ob man Pfingstler und Charismatiker einberechnet oder nicht. Evangelikale verwenden oft pauschal die Angabe, dass etwa ein Drittel der Christenheit evangelikal sei. Der evangelische Theologieprofessor Werner Ustorf, selbst kein Evangelikaler, sondern einem liberalen Protestantismus verpflichtet, schätzt die Evangelikalen einschließlich der pfingstlerischen und charismatischen Kirchen auf „27,7 per cent of organised global Christianity“.[1] Auch der Zeitgeschichtler Martin Greschat hält diese Zahlen für zutreffend.[2] In Asien, Afrika, Südamerika und den Vereinigten Staaten ist die Bewegung im Wachstum begriffen[3], teilweise auf Kosten liberaler und traditioneller Kirchen.
International haben sich viele Evangelikale in der Evangelischen Allianz zusammengeschlossen. Bei der Evangelischen Allianz können Kirchen, diakonische und missionarische Werke und einzelne Christen Mitglieder sein. Die weltweite Evangelische Allianz gibt an, 420 Millionen Christen zu vertreten [4]
Angelsächsischer Sprachraum
In den USA gibt es laut Barna 20 Millionen Evangelikale, 9 % der Bevölkerung (2006).[5] Das Hartford Institute of Religion gibt für die USA 17 % Evangelikale an, bezogen auf evangelikale Lehre, und 26 % bezogen auf Mitgliedschaft in einer Kirche in evangelikaler Tradition.[6] Evangelikale finden sich sowohl in theologisch konservativen Kirchen wie z.B. den Southern Baptists, den Gemeinden Christi, den meisten Megachurches und vielen Pfingstgemeinden als auch in Mainline-Kirchen, wo sie zwar weniger in der Geistlichkeit und an den Universitäten vertreten sind, sich aber an der Basis in den letzten Jahren mehr und mehr im neo-evangelikalen Confessing Movement organisieren.
Deutscher Sprachraum
Freikirchen
Viele Freikirchen im deutschen Sprachraum sind unter den konservativen oder gemäßigten Evangelikalen einzuordnen, Georg Schmid zählt dazu z. B. traditionelle Freikirchen wie die Mennoniten, die Baptisten, die Evangelisch-methodistische Kirche, die Siebenten-Tags-Adventisten, die Gemeinde Christi, die Brüderbewegung, die Kirche des Nazareners oder die Heilsarmee.[7] Die meisten Pfingstgemeinden und neopfingstlichen Kirchen wie ICF Movement, Anskar-Kirche oder Vineyard werden ebenfalls zum evangelikalen Spektrum gezählt.
Landeskirchen der EKD
Auch in den evangelischen Landeskirchen gibt es Evangelikale, die nach Klöcker/Tworuschka zu den treuesten Gottesdienstbesuchern zählen. In der evangelikalen Bewegung sind die landeskirchlichen Evangelikalen gegenüber den Freikirchen in der Mehrheit.[8]
Schätzungen der Evangelischen Allianz
Nach Schätzungen machen Evangelikale in Deutschland ca. 1-3 % der Bevölkerung aus. Die Deutsche Evangelische Allianz vertritt nach eigenen Angaben rund 1,3 Millionen Evangelikale.[9][10]
Lateinamerika
Durch intensive Mission, insbesondere aus den USA, ist ein zunehmender Anteil der lateinamerikanischen Bevölkerung, die ehemals traditionell römisch-katholisch war oder indigenen Religionen angehörte, zu einer evangelikal geprägten Form des Protestantismus übergetreten. Mittlerweile gehören in Lateinamerika nach evangelikalen Angaben ca. 11 % der Bevölkerung einer protestantischen Kirche an.[11] Diese Größenordnung wird auch aus katholischen Quellen bestätigt.[12]
Gemeinsamkeiten von Evangelikalen
Wer als „evangelikal“ gilt und wer nicht, ist auch unter Evangelikalen umstritten. Daher sind folgende Gemeinsamkeiten eher als Tendenzen und Indikatoren zu verstehen und nicht als notwendige Bestandteile einer Definition. Individuelle Abweichungen oder Abweichungen von einzelnen Gruppen in einzelnen Punkten kommen häufig vor, wenn auch die Mehrzahl der Individuen und Gruppen in der Mehrzahl dieser Merkmale übereinstimmen. Ein Ansatzpunkt für eine Schnittmenge evangelikaler Gemeinsamkeiten sind die Veröffentlichungen der sog. „Lausanner Bewegung“[13]. Der erste Lausanner Kongress gilt unter Evangelikalen als ein wichtiger Meilenstein der evangelikalen Bewegung.[14][15]
- Die Bibel: Evangelikale sehen die Bibel als Gottes Wort, von Menschen aufgeschrieben, aber von Gottes Geist inspiriert. Über das genaue Verständnis der Inspiration besteht keine Einigkeit. Nicht alle Evangelikalen glauben beispielsweise an die Irrtumslosigkeit der Bibel und die Verbalinspiration. Die Bibel sei der verbindliche Maßstab des Glaubens und der Lebensführung, an dem sich alles andere messen müsse. Evangelikale sind sich bewusst, dass die Bibel ausgelegt werden muss, sind aber der Überzeugung, dass auch Nichttheologen die Bibel richtig verstehen können. Wörterbücher, Konkordanzen und Kommentare werden oft verwendet, und bestimmte Kommentare sind für manche evangelikale Richtungen recht maßgeblich, zum Beispiel der der Scofield-Bibel für Teile des Dispensationalismus. Den Methoden der nicht-evangelikalen Theologie, insbesondere der historisch-kritischen Methode, stehen sie ablehnend gegenüber.
- Sündhaftigkeit und Schuld setzen den Menschen Gottes Zorn und Verdammnis aus. Die Erlösung hieraus könne nur durch einen Gnadenakt Gottes erfolgen und setze den Glauben an Jesus Christus, seinen stellvertretenden Opfertod und seine Auferstehung sowie die Bekehrung und Wiedergeburt durch den Heiligen Geist voraus.
- Die persönliche Glaubensentscheidung: Christentum basiert für Evangelikale auf einer persönlichen, bewussten Entscheidung für den christlichen Glauben und einer persönlichen Beziehung zu Jesus Christus, die auch im Alltag Auswirkungen auf das persönliche Handeln haben müsse. Kirchenmitgliedschaft allein genüge nicht, es bedürfe einer persönlichen Abkehr vom alten Leben und einer Hinwendung zu Jesus Christus (Bekehrung). Diese bewusste Entscheidung wird in Form eines persönlichen Gebets vollzogen, das als Lebensübergabe bezeichnet wird. Aufgrund der Vorstellung einer persönlichen Beziehung zu Gott rechnen Evangelikale mit dem direkten Eingreifen Gottes in ihr Leben. Wunder halten sie für möglich oder zumindest nicht ausgeschlossen, entdecken aber Gottes Wirken auch in alltäglichen Begebenheiten.
- Das allgemeine Priestertum der Laien spielt bei den Evangelikalen eine wesentliche Rolle. Jeder Einzelne soll persönlich mit der Bibel umgehen, sie privat und in Kleingruppen studieren, auslegen und auf sich wirken lassen. Daher finden sich unter Evangelikalen viele Laien mit beträchtlicher Bibelkenntnis. Für Leitungs- und Schulungsaufgaben ist eine formelle theologische Ausbildung nicht unbedingt erforderlich. Die mit dem allgemeinen Priestertum verknüpfte Frage, inwieweit Frauen an Leitungsaufgaben und geistlichen Ämtern innerhalb der Gemeinde beteiligt werden sollen, wird unter Evangelikalen sehr unterschiedlich beantwortet.
- Kirchen und Konfessionen sind von eher untergeordneter Bedeutung. Die meisten Evangelikalen sehen sich als Teil der weltweiten Christenheit und fühlen sich ungeachtet ihrer Kirchen- oder Gemeindezugehörigkeit mit anderen Evangelikalen verbunden.
- Absolutheitsanspruch: Andere Religionen (wozu für radikale Vertreter auch die katholische und die orthodoxe Kirche oder der liberale Protestantismus zählt) werden als Irrwege abgelehnt, da das Bekenntnis und die Hinwendung zu Christus unbedingte Vorbedingung für eine Erlösung sei. Nicht-evangelikale Christen werden von manchen Strömungen im evangelikalen Spektrum als Namenschristen bezeichnet, die neu evangelisiert werden müssten. Eine zwangsweise Evangelisation kommt für die Evangelikalen nicht in Frage. Die Entscheidung für Jesus Christus sei heilsrelevant, aber freiwillig.
- Mission: Evangelikale sehen es als wichtig an, ihren Glauben gegenüber allen Nicht-Christen in ihrem Sinne zu bezeugen und die biblische Erlösungsbotschaft zu verbreiten - das Wie kann Großevangelisationen, entsprechend ausgerichtete Freizeiten oder persönliche Gespräche einschließen.
In der evangelikalen Theologie sind England und Amerika führend. Bekannte evangelikale Theologen sind John Stott, J.N.D. Kelly, Donald Carson, Bruce Metzger, Norman Geisler, Craig Blomberg, William L. Craig, J.P. Moreland, Gary Habermas, Francis Schaeffer und N.T. Wright. Einige ihrer Werke wurden ins Deutsche übersetzt (siehe unten: Literatur), von den meisten findet man auch Online-Artikel in englischer Sprache.
Richtungen innerhalb der Evangelikalen im deutschen Sprachraum
Trotz der vielen Gemeinsamkeiten sind die Evangelikalen nichts weniger als eine homogene Gruppe. Im deutschen Sprachraum lassen sich die Evangelikalen grob in drei theologische Hauptrichtungen einteilen:
- die Bekenntnis-Evangelikalen, denen die Autorität traditioneller kirchlicher Bekenntnisse wichtig sind. Sie finden sich besonders in konservativen lutherischen Freikirchen;
- die charismatischen Evangelikalen, hauptsächlich in charismatischen Kreisen der Landeskirchen und in den Gemeinden der Pfingstbewegung;
- die Evangelikalen in pietistischer Tradition, hauptsächlich im landeskirchlichen Pietismus und in traditionellen Freikirchen.
Seit den 1990er Jahren sind neben diesen Richtungen unabhängige evangelikale Gruppen entstanden, die zwar eine strenge evangelikale Lehre vertreten, sich aber keiner dieser Richtungen zugehörig fühlen. Dazu gehören beispielsweise die russlanddeutschen mennonitischen Aussiedlergemeinden und die Konferenz für Gemeindegründung. [16]
Ebenso unterscheiden sich Evangelikale stark bezüglich ihrer Offenheit gegenüber Andersdenkenden:
- separatistische Evangelikale (Fundamentalisten): biblisch-konservative Kreise, die sich betont gegen alle Gruppierungen abgrenzen, die ihre spezifische Sicht des Christentums nicht teilen. Sie halten streng an der Irrtumslosigkeit der Bibel fest, haben oft gruppenspezifische Auslegungen oder einen gruppenspezifischen Lebensstil. Im deutschen Sprachraum sind das eher kleine Gruppen, beispielsweise der Evangelische Brüderverein, die Freunde konkordanter Wortverkündigung, die Holic-Gruppen, Adullam oder der „geschlossene“ Flügel der Brüderbewegung.[17]
- konservative Evangelikale: Sie halten an der Irrtumslosigkeit der Bibel fest, die einige, aber nicht alle, durch die Chicago-Erklärungen definieren, sind aber offen im Kontakt mit Andersdenkenden. Diese Richtung wird beispielsweise von den meisten Bibelschulen, der Freien Theologischen Akademie in Gießen[18] oder auch der Staatsunabhängigen Theologischen Hochschule in Basel (Schweiz)[19] vertreten. Unter den Freikirchen sind die Brüdergemeinden und viele unabhängige freikirchliche Gemeinden hier einzuordnen, Angehörige dieser Gruppe finden sich aber auch in vielen Freikirchen sowohl pietistischer als auch baptistischer und charismatischer Richtung, weniger in den Landeskirchen.
- offene Evangelikale oder Neo-Evangelikale: Diese Gruppe steht der Bibelkritik distanziert gegenüber, ist aber bereit, bestimmte Ergebnisse zu übernehmen. Diese Richtung ist insbesondere unter den Evangelikalen in den Landeskirchen zu finden, in den Freikirchen insbesondere bei den Mennoniten und in der Evangelisch-methodistischen Kirche, in der es aber auch nicht-evangelikale Christen gibt, und im liberaleren Flügel anderer Freikirchen.
Siehe auch: Deutsche Evangelische Allianz
Evangelikale und Politik
In Europa variiert die politische Orientierung von Evangelikalen, zwischen rechtskonservativ (z.B. die Eidgenössisch-Demokratische Union oder die Partei Bibeltreuer Christen) und linkskonservativ (z.B. die Evangelische Volkspartei). So gut wie alle europäische Evangelikale tendieren zu einer wertekonservativen Haltung in Fragen wie Abtreibung, Homosexualität, oder Sterbehilfe; in sozialen oder die Umwelt und Bildung betreffenden Fragen stehen aber manche Evangelikale eher links. Spätestens seit dem Irak-Krieg gibt es auch unter den politisch Konservativen eine deutliche Skepsis gegenüber den USA, die teilweise auch bei 'Evangelisationen' thematisiert wird, etwa durch Ulrich Parzany; diese Kritik umfasst auch die Einstellung der Evangelikalen zu wirtschaftlich-sozialen Verhältnissen.
Generell positionieren sich die evangelikalen Führer in der Dritten Welt in sozialen Fragen eher „links“ (soziale Gerechtigkeit, Armutsbekämpfung usw.); bei Themen wie Bildung, Ehegesetze oder Homosexualität bleiben sie entschieden konservativ.
In Nordamerika sind die Evangelikalen gemäß verschiedenen Umfragen politisch ziemlich einheitlich rechtskonservativ und stimmen in der Regel republikanisch. Die große Mehrheit ist gegen Liberalisierung der Abtreibung, gegen pluralistische Lebensstile, für Todesstrafe und gegen staatliche Sozialmaßnahmen (soziale Hilfe wird als Aufgabe der Kirchen gesehen). Ihre Einstellung ist nicht rassistisch, sondern vorwiegend ethnozentristisch: Einwanderer bedrohen durch ihre fremden Kulturen die amerikanischen Werte. Vom Sozialprofil her ist allerdings eine deutliche Parallele zu rassistischen und antisemitischen Bevölkerungsteilen der USA festzustellen. Evangelikale Christen haben wie diese einen unterdurchschnittlichen formalen Bildungsgrad und sind vorwiegend im Süden der USA in ländlichen Gebieten und kleinen Städten anzutreffen. [20] Anhänger islamischen Glaubens werden feindlich betrachtet (verschärft durch die Entwicklung des Irakkrieges und den Terroranschlag in New York).
Die christliche neue Rechte der USA, die eine einflussreiche politische Position einnimmt, besteht mehrheitlich aus Evangelikalen. Vertreter sind beispielsweise James Dobson, Franklin Graham, Pat Robertson, Charles Colson oder George W. Bush.
Neben der christlichen Rechten gibt es in den USA auch die so genannte evangelikale Linke, die deutlich liberalere Positionen einnimmt, aber eher zur politischen Mitte zählt. Sie ist weniger organisiert und politisch wesentlich weniger einflussreich. Als Vertreter werden oft Jimmy Carter, Stanley Hauerwas, Jim Wallis oder Philip Yancey angeführt.
Kritik und die Antwort der Evangelikalen
Kritik
Da die evangelikale Bewegung ein sehr weites Spektrum umfasst, sind die meisten Kritikpunkte nur für Teile der Bewegung zutreffend.
- Mission: Kritiker werfen manchen evangelikalen Gemeinschaften vor, dass sie bei der Mission keine Rücksicht auf die kulturellen Eigenheiten von Völkern und Ländern nähmen. In Israel hätten einige Gruppen durch ihren aggressiven Missionierungsdrang und/oder durch ihren ausgeprägten „christlichen Zionismus“ dem Ruf der ganzen Bewegung geschadet. Von verschiedenen Seiten wird ihnen Kritik an anderen Religionen vorgeworfen.
- Politik: Als problematisch gilt in den Augen der Kritiker die Gleichsetzung von evangelikaler Glaubenshaltung und rechtsgerichteter Politik, die in den USA weit verbreitet ist und in Europa als nicht gewollte "Amerikanisierung" empfunden wird.[21] [22]
- Überbewerteter Okkultismus: Die meisten Evangelikalen bewerten aufgrund des biblischen Weltbilds okkulte Phänomene bis zu einem gewissen Grad als Realität. In einigen Gruppen spiele jedoch, so die Kritiker, der Kampf gegen okkulte Phänomene oder das, was dafür gehalten wird, eine so große Rolle, dass andere Ursachen für Probleme ausgeblendet würden. Außerdem gibt es Gruppen mit einer Neigung zu Verschwörungstheorien (Rom, Ökumene, Illuminaten, Kommunismus).
- Verhältnis zu den Landeskirchen: Den in den Landeskirchen organisierten Evangelikalen wird von Kritikern vorgeworfen, von einem System zu profitieren, das sie im Grunde ablehnen. Sie würden die Vorteile, die die Landeskirchen bieten, ausnutzen (kirchliche Dienstleistungen, Gebäudenutzungen, die Anstellung der eigenen Pfarrer durch die Landeskirche und nicht zuletzt die Legitimierung als „offizielle“ Spielart des Protestantismus), obgleich sie nur eine Minderheit unter den landeskirchlichen Christen darstellen.[23] Die Evangelikalen scheinen aber, so die Kritiker weiter, nach wie vor der klaren Trennung zwischen „gläubigen“ und „Namenschristen“ den Vorzug zu geben. Zum Teil wird den evangelikalen Hilfsorganisationen vorgeworfen, Angehörige des eigenen Glaubens zu bevorzugen.
- Partikularismus: Anhänger von religiösem Pluralismus oder Inklusivismus interpretieren den Partikularismus, den die meisten Evangelikalen im Einklang mit der kirchlichen Tradition vertreten, als Widerspruch zur vom Neuen Testament geforderten bedingungslosen Nächstenliebe oder als mangelnde Toleranz.
Reaktionen
- Verhältnis zu den Landeskirchen: Evangelikale antworten auf diese Vorwürfe, dass sie als „pietistisch-erweckliche“ und konservative Christen das verkörpern, was vor den 1960er Jahren legitimes Christsein bedeutete, zum Teil sogar dem Mainstream entsprach. Es seien die Linken gewesen, die evangelikale Positionen von der kirchlichen Mitte an den Rand gedrängt hätten. Dass evangelikale Gruppen Parallelsysteme zu den bestehenden Strukturen der Landeskirche aufbauten (z.B. Hilfe für Brüder e.V. im Gegensatz zu Brot für die Welt), sei das Ergebnis dieser Ausgrenzung durch modern-liberale Kreise gewesen, die im Zuge der „1968er-Revolution“ ihren „Marsch durch die Institutionen“ antraten. Viele offizielle kirchliche Einrichtungen wie Missionswerke, diakonische Institutionen oder kirchliche Hochschulen hätten, so die Evangelikalen, bis in die Nachkriegszeit ein pietistisch-konservatives Gepräge gehabt, seien aber ab den 1970er Jahren einer derart starken Liberalisierung ausgesetzt gewesen, dass Parallelgründungen unvermeidbar gewesen seien.
Evangelikale und Fundamentalisten
Evangelikale werden oft mit so genannten Fundamentalisten gleichgesetzt. Der Wortgebrauch ist problematisch, da mit Fundamentalisten oft gewaltbereite Islamisten gemeint sind. In der folgenden Tabelle sind die grundsätzlichen Unterschiede zwischen (christlichen) Fundamentalisten und Evangelikalen dargestellt:
| Fundamentalisten | nicht-fundamentalistische Evangelikale |
|---|---|
| misstrauen wissenschaftlicher Arbeit, lehnen manchmal Forschung grundlegend ab | sind prinzipiell offen für wissenschaftliche Arbeit |
| glauben streng an die Verbalinspiration der Bibel | bejahen die menschliche und kulturelle Dimension der Bibel und berücksichtigen diese Zusammenhänge bei der Bibelauslegung |
| legen die Bibel buchstäblich aus | Auslegung muss erarbeitet werden, kulturelle Zusammenhänge, Sprachformen der Texte etc. werden berücksichtigt |
| sehen wahres Christentum nur dort, wo nur die Bibel im Mittelpunkt steht, distanzieren sich von der Ökumene insbesondere mit Verweis darauf, dass die römisch-katholische und die orthodoxe Kirche nicht christlich seien | sind aufgeschlossener gegenüber anderen Christen und können sich in der ökumenischen Bewegung engagieren |
Literatur
Geschichte der evangelikalen Bewegung
- Friedhelm Jung: Die deutsche Evangelikale Bewegung. Grundlinien ihrer Geschichte und Theologie. Biblia et Symbiotica 8. Verl. für Kultur und Wissenschaft, Bonn 1994 (Diss. Marburg 1991) ISBN 3-926105-34-8
- Derek J. Tidball: Reizwort Evangelikal. Entwicklung einer Frömmigkeitsbewegung. Ed. Anker, Stuttgart 1999. (engl. 1994) ISBN 3-7675-7058-0. Evangelikaler Theologe aus England beschreibt Geschichte und Lehre der Bewegung detailliert und nicht unkritisch.
- Werner Beyer (Hrsg.): Einheit in der Vielfalt. Aus 150 Jahren Evangelischer Allianz. Brockhaus, Wuppertal; Zürich 1995. ISBN 3-417-24135-9. Knappes Büchlein über die Anfänge der ev. Allianz in Deutschland im 19.Jh. und heutige Initiativen.
- Harold Fuller: People of the Mandate. The story of the World Evangelical Fellowship. Paternoster, Carlisle / Baker, Grand Rapids 1996 ISBN 1-900890-00-3
Bücher von evangelikalen Theologen
- John Stott: Christsein in den Brennpunkten unserer Zeit (Ein führender Theologe in der europäischen evangelikalen Bewegung nimmt Stellung zu Zeitfragen)
- LaSor, William Sanford / Hubbard, David Allan / Bush, Frederic William: Das Alte Testament. Entstehung - Geschichte - Botschaft. 3. Aufl. Brunnen, Gießen; Basel 1992. (engl. 1982) ISBN 3-7655-9344-3 (Evangelikales Standardwerk über das Alte Testament)
- Craig L. Blomberg: Die Gleichnisse Jesu, ihre Interpretation in Theorie und Praxis (Evangelikaler amerikanischer Neutestamentler über Gleichnisforschung)
- Eckhard J. Schnabel: Sind Evangelikale Fundamentalisten?, Brockhaus, Wuppertal; Zürich 1995. ISBN 3-417-29067-8. Evangelikaler Theologe betont einerseits die Notwendigkeit von Glaubensfundamenten, warnt aber auch vor lieblosen Engstirnigkeiten.
- Jahrbuch für Evangelikale Theologie 1ff. (1987ff.), Brockhaus, Wuppertal.
- European Journal of Theology 1ff. (1992ff.), Paternoster, Carlisle.
Siehe auch
Weblinks
Evangelikale Dokumente
- Glaubensbasis der Evangelischen Allianz von 1846, der Grundkonsens der Evangelikalen
- Die Lausanner Verpflichtung von 1974 vom Lausanner Kongress für Weltevangelisation
- Das Manifest von Manila von 1989 beschreibt die wesentlichen Anliegen der Evangelikalen Bewegung
- Chicago-Erklärung zur Irrtumslosigkeit der Bibel
- John Stott: Evangelikale Grundlagen
Wissenschaftliche Artikel
- Friedhelm Jung: Die deutsche evangelikale Bewegung
- Evangelikalismus und Fundamentalismus in den USA Eine Arbeit aus nicht-evangelikaler Sicht
- Evangelikalismus von Relinfo Neutrale Beschreibung eines Religionswissenschaftlers
- Stephan Holthaus, Geschichte und Erscheinungsbild des Protestantischen Fundamentalismus Sicht der konservativen Evangelikalen
Kritik
- Evangelikale Christen und das Feindbild Islam
- Evangelikalismus und Fundamentalismus in den USA
- Diskussion um die These des Sektenbeauftragten Richard Ziegert, die Evangelikalen in Deutschland seien Teil eines Versuchs des 'US-Kapitalismus', Europa zu unterwandern
- Walter Russell Mead, God's Country? ("Foreign Affairs", im Druck: Sept./Okt. 2006)
Gruppierungen
- Weltweite Evangelische Allianz
- Deutsche Evangelische Allianz
- Schweizerische Evangelische Allianz
- Österreichische Evangelische Allianz
- Arbeitsgemeinschaft für evangelikale Theologie der Deutschen Evangelischen Allianz
Referenzen
- ↑ Hugh McLeod/Werner Ustorf (Hg.), The Decline of Christendom in Western Europe 1750-2000. Cambridge 2003, S. 219
- ↑ So Martin Greschat, Kirchliche Zeitgeschichte. Versuch einer Orientierung. Leipzig 2005. (ThLZ.F 16), S. 45
- ↑ siehe z.B. Patrick Johnstone, Gebet für die Welt, Hänssler-Verlag, 2003, in den jeweiligen Artikeln Asien, Afrika, Lateinamerika und USA
- ↑ http://www.worldevangelicalalliance.com/wea/index.htm World Evangelical Alliance, Introduction
- ↑ Barna Group: Evangelical Christians
- ↑ Encyclopedia of Religion and Society
- ↑ Georg Schmid, Kirchen - Sekten - Religionen
- ↑ Klöcker/Tworuschka, Handbuch der Religionen, II-2.2.3.2
- ↑ aus [1]: "Die Deutsche Evangelische Allianz ist Teil einer weltweiten Bewegung von 380 Millionen evangelikalen Christen in 124 nationalen und 7 regionalen/kontinentalen Evangelischen Allianzen. [Sie] vertritt schätzungsweise ca. 1.300.000 Christen aus vielen Kirchen und Freikirchen in Deutschland" sowie [2] "Die Allianz vertritt nach eigenen Angaben rund 1,3 Millionen Evangelikale in Landes- und Freikirchen", beides Texte von der Webpräsenz der Deutschen Evangelischen Allianz
- ↑ http://zeus.zeit.de/text/2005/22/Evangelikale
- ↑ Patrick Johnstone, Gebet für die Welt, Hänssler-Verlag, 2003, S. 85: 7,11 % Protestanten und 4,58 % „Unabhängige“
- ↑ http://www.providence.edu/las/Statistics.htm
- ↑ http://lausannerbewegung.de/index.php?p=30
- ↑ Jung, Die deutsche Evangelikale Bewegung, S. 75-80
- ↑ http://www.afet.de/ueber/geschichte.htm
- ↑ Die Richtungen sind genauer beschrieben bei Friedhelm Jung
- ↑ Einen Überblick über die christlichen Fundamentalisten findet man bei Holthaus, Fundamentalismus in Deutschland, VKW, 2003
- ↑ Siehe das Leitbild der FTA
- ↑ Siehe die Grundlage der STH
- ↑ Michael Minkenberg, Die neue radikale Rechte im Vergleich, Opladen 1998, ISBN 3-531-13227-X, S. 198 ff.
- ↑ http://www.ekd.de/aktuell/2005_03_24_rv_sz_kirche_staat_usa_brd.html
- ↑ http://bs.cyty.com/kirche-von-unten/archiv/kvu103/evangelik.htm
- ↑ http://www.aref.de/news/mission/2006/ekd_evangelikale_amerikanisierung.htm