Der Cinderella-Komplex
Der Cinderella-Komplex ist ein Sachbuch der amerikanischen Schriftstellerin Colette Dowling, das in der englischsprachigen Originalausgabe The Cinderella Complex: Women’s Hidden Fear of Independence im Jahre 1981 erschien.[1] Die Autorin erforschte in diesem Buch erstmals ein Phänomen, das unter dem Begriff „Cinderella-Komplex“, auch „Aschenputtel-Syndrom“ genannt, Eingang in die Psychologie fand.[2] In dem Buch beschreibt die Autorin den unbewussten Wunsch von Frauen, sich zu jeder Zeit beschützt und geborgen fühlen zu wollen. Der Cinderella-Komplex entsteht in der Kindheit und prägt die späteren Beziehungen und sozialen Bindungen.[3]
Einige Monate vor Erscheinen des Buches veröffentlichte Colette Dowling in der New York Times einen Artikel mit dem Titel The Cinderella Syndrome, der aus ihrem Buch übernommen wurde.[4] Die deutsche Erstausgabe des Buchs erfolgte im Jahre 1982.[5]

Inhalt
Die Sehnsucht nach dem Traumprinzen
Colette Dowling beschreibt in ihrem Buch Der Cinderella-Komplex – Die heimliche Angst der Frauen vor der Unabhängigkeit die unbewusste Angst von Frauen vor der eigenen Verantwortung und – wie im Märchen von Aschenputtel – die heimliche tiefverwurzelte Sehnsucht nach einem Traumprinzen, der sie rettet und versorgt.[6]
Neben Erkenntnissen aus rund 100 Interviews mit Frauen bezieht sich die Autorin immer wieder auf eigene biographische Erlebnisse.[7]
Die Panik der Frauen
Während sich Frauen danach sehnen würden, frei, unabhängig und ungebunden zu sein und sich selbst zu verwirklichen, bestehe gleichzeitig der – häufig nicht eingestandene – Wunsch in häuslicher Sicherheit umsorgt, behütet und beschützt zu werden sowie Schutz vor schwierigen und herausfordernden Situationen zu suchen. So kann eine Neigung zur Zurückhaltung und das exzessive Bedürfnis nach Liebe im Konflikt mit dem entgegengesetzten Drang zur Extravertiertheit, zu Konkurrenzverhalten stehen. Das Aufeinanderprallen gegensätzlicher Triebe kann dabei zu einer Neurose führen.
Untersuchungen haben laut Dowling gezeigt, dass der Intelligenzquotient bei Männern in relativ enger Beziehung zu den Leistungen stehe. Bei Frauen hingegen bestehe zwischen Intelligenzquotient und Leistung keine Beziehung. Frauen entschieden sich auch noch immer für schlechter bezahlte Berufe. Die Zunahme an Promotionen von Frauen zwischen 1966 und 1979 beschränkte sich zu 70 % auf den Bereich der traditionell weiblichen Fächer. Die volle Entfaltung von Potenzialen werde so verhindert.
Die Ursachen der Leistungs- und Erfolgsangst
Diese „Leistungsangst“, der tiefsitzende Zweifel an der eigenen Kompetenz, die Unterschätzung der eigenen Fähigkeiten und die Furcht vor Kritik, die in früher Kindheit und in langen Jahren der sozialen Konditionierung[A 1] entstanden sind, führten bei Mädchen zu der Überzeugung, dass sie beschützt werden müssen, um überleben zu können und dazu, dass zum Beispiel die Angst vor Tests bei Frauen oft ausgeprägter sei als bei Männern . Die Autorin schreibt Frauen „Erfolgsangst“ zu. Sie erwarten keinen Erfolg und dies fördere die Erfolglosigkeit.
Dowling führt Studien an, die zeigen, dass Frauen mit herausragendem Studienerfolg negative Konsequenzen damit verbanden und dass sie glaubten, dass der Erfolg im Beruf ihre Beziehungen zu Männern gefährden würde, die sie als größten Wunsch betrachteten. Denn „wir haben den starken Wunsch, für Männer attraktiv zu sein, unbedrohlich, liebenswürdig, feminin“.
Obwohl die Prüfungsleistungen von Frauen oft weit über dem Durchschnitt lagen, strebten in Studien Frauen mit großer Erfolgsangst häufig „typisch weibliche“ Berufe wie Krankenschwester oder Lehrerin an oder zogen sich als Hausfrau und Mutter ganz aus der bezahlten Berufstätigkeit zurück. Auch wenn sich die Frauen zu einer beruflichen Tätigkeit entschieden, rangierte dieser oft an zweiter Stelle. In erster Linie waren die Frauen Ehefrau und Mutter. Colette Dowling bezeichnet diese Beziehung zum Beruf als reaktiv.
Die Folgen der Leistungs- und Erfolgsangst
Die Angst vor der Selbstständigkeit und der eigenen Entwicklung sowie die Unbeständigkeit einer „angsteinflößenden Welt“ führen nach Dowling dazu, dass sich Frauen auf die Themen Haushalt und Kindererziehung zurückziehen. Ehe und Schwangerschaft werden als „Fluchtmittel vor der Welt“ und als „Vermeidungsstrategie“ und Kinder als gesellschaftlich anerkannte Methode, zu Hause zu bleiben, gesehen. Die eigenen Angstvorstellungen der Mutter werden dabei auf die Töchter übertragen und bringen das Kind dazu an den eigenen Fähigkeiten zu zweifeln. So werden Töchter zur Unabhängigkeit erzogen.
Die Bindung an den Partner hindere die Frauen an der Entfaltung ihrer Fähigkeiten zu produktiver Arbeit und führe dazu, dass Frauen nicht lernen, mit ihren Ängsten umzugehen, somit unbewusst ihre weibliche Rolle akzeptieren und auf dem „Beifahrersitz“ bleiben. Oft stehe laut Dowling das Selbstvertrauen der Frauen im umgekehrten Verhältnis zum Leistungsniveau ihrer Partner.
Lösungsvorschläge
Die Berufstätigkeit als „Basis für die eigene Individuation und Abgrenzung“ werde daher als „Trennung vom Partner“ erlebt (S. 204). Forderungen nach Gendergerechtigkeit sieht Dowling als „Verteidigungs- oder Tarnmechanismus für die eigene Unzulänglichkeit“ (S. 133). Das „Gefühl, Opfer zu sein“ und das System für die eigene Situation verantwortlich zu machen, wirke als „negative Verstärkung“ (S. 134). Die Lösung sieht die Autorin darin,
Sobald Frauen ihre Abhängigkeit aufgeben und die Verantwortung für die eigenen Probleme und Herausforderungen übernehmen, würde sich das Zentrum der Schwerkraft vom Anderen zum „Ich“ verlagern (S. 231).
Ausgaben
- The Cinderella-Complex – Women’s Hidden Fear of Independence. Summit Books, New York City 1981, ISBN 978-0-671-40052-1.
- Der Cinderella-Komplex – Die heimliche Angst der Frauen vor der Unabhängigkeit. Aus dem Amerikanischen von Manfred Ohl und Hans Sartorius, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1982, ISBN 3-10-015306-5.
Wirkung und Rezensionen
Innerhalb von nur drei Wochen nach Erscheinen des Buches wurden bereits 50 000 Exemplare verkauft und sorgten für einen Platz in den deutschen Bestsellerlisten. Das Buch wurde bereits in den ersten Jahren nach Erscheinen in 17 Sprachen übersetzt und verhalf der Autorin innerhalb kurzer Zeit zu internationaler Bekanntheit.[7]
Im Spiegel stellt Angela Gatterburg fest, es werde das „Aschenputtel-Syndrom“ beschrieben, dies sei „die Angst der Frauen vor Unabhängigkeit, Erfolg und Verantwortung und die heimliche Sehnsucht nach dem Traumprinzen.“[7]
Dass das von Colette Dowling erstmals beschriebene Phänomen auch im Jahre 2024 noch zumindest teilweise Gültigkeit hat, stellt Julia Ballerstädt in einem Artikel in der Zeitschrift Brigitte im Januar 2024 fest. So werde im Buch der unbewusste Wunsch von Frauen beschrieben, sich zu jeder Zeit beschützt und geborgen fühlen zu wollen. Die Wurzel dieses Verhaltens sei in der Erziehung zu suchen und im sozialen und religiösen Druck. Dahinter verberge sich die Angst vor Unabängigkeit.[3]
Anmerkungen
- ↑ Nach dem Zweiten Weltkrieg änderte sich die Einstellung zur Berufstätigkeit von Frauen, da sie nicht mehr in den Fabriken gebraucht wurden und man forderte sie auf wieder an den häuslichen Herd zurückzukehren. Die heranwachsenden Mädchen gewannen dabei ihre Definition der Weiblichkeit durch die Beobachtung der Frauen, die sie umgaben.
Einzelnachweise
- ↑ Colette Dowling: The Cinderella-Complex – Women’s Hidden Fear of Independence. Summit Books, New York 1981, ISBN 978-0-671-40052-1.
- ↑ Was ist der Cinderella-Komplex? Abgerufen am 2. März 2024.
- ↑ a b Julia Ballerstädt: Cinderella-Komplex. Darum solltest du deine Tochter nicht zur Prinzessin machen. Brigitte, 31. Januar 2024, abgerufen am 12. März 2024.
- ↑ The Cinderella-Syndrome. The New York Times Magazine, 22. März 1981, abgerufen am 2. März 2024.
- ↑ Colette Dowling: Der Cinderella-Komplex - Die heimliche Angst der Frauen vor der Unabhängigkeit. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1982, ISBN 978-3-10-015306-7.
- ↑ Cinderella-Komplex. In: Online-Lexikon für Psychologie & Pädagogik. Abgerufen am 2. März 2024.
- ↑ a b c Angela Gatterburg: Mama ist an allem schuld. Der Spiegel 19/1989, 7. Mai 1989, abgerufen am 2. März 2024.