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Chicagoer Schule (Ökonomie)

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Der Ausdruck Chicagoer Schule bezeichnet ein im 20. Jahrhundert an der University of Chicago entstandenes ökonomisches Programm. Ausserdem gibt es die Chicagoer Schule für Anthropolgie und Soziologie, die sich u.a. mit Stadtsoziologie, Minderheiten- und Subkulturstudien befasst. Ein wichtiges Stichwort ist die Sozialökologie. Begründer der Chicagoer Schule ist Robert Park. Wesentliche weitere Vertreter dieser soziologischen Richtung sind u.a. William Thomas und Roderick D. Mc Kenzie.

Die volkswirtschaftliche Fakultät der University of Chicago gehört seit der Gründung zu den herausragenden Forschungsstätten in den USA und ist zunächst bekannt für Meinungsvielfalt und Methodenpluralismus: In der ersten Phase lehren – angezogen vom konservativen Dekan Laurence Laughlin – unter anderem so unterschiedliche Ökonomen wie Thorstein Veblen, Wesley C. Mitchell, Alvin Johnson, John Maurice Clark und Walton Hamilton.

Trotz der ursprünglichen Vielfalt der Ansätze steht „Chicago“ für ein definitives Programm. Die Wurzeln dieser Chicagoer Schule reichen in die 1930er Jahre zurück. In dieser Zeit lassen sich drei Gruppen innerhalb der Wirtschaftsfakultät identifizieren: Zunächst der sogenannte harte Kern der späteren Chicago-Schule – bestehend aus dem Trio Frank Knight, Jacob Viner und Henry Simons. Dann eine zweite Gruppe, die als Institutionalisten bezeichnet werden kann; und schließlich eine dritte heterogene Gruppe von quantitativ orientierten Ökonomen .

Aus dem Wechselspiel zwischen Frank Knight und Jacob Viner entwickelt sich ein Zirkel, zu dessen wichtigsten Mitgliedern Milton Friedman, seine spätere Frau Rose Director, George Stigler, Allen Wallis sowie die jüngeren Dozenten Aaron Director und Henry Simons gehören. Der intensive Austausch um den charismatischen Lehrer Frank Knight lässt die Gruppe zur Keimzelle einer eigenen Richtung innerhalb der Fakultät erstarken.

Ergänzend zu dieser eher spontanen und ungeplanten Genese einer Forschungsgruppe vollzieht sich in der wissenschaftlichen und öffentlichen Diskussion ab Mitte der 1940er Jahre ein zweiter Prozess, in dessen Verlauf die Chicagoer Schule zu einem Markennamen stilisiert wird. In der Literatur taucht die Chicagoer Schule erst nach 1950 auf und erst um 1960 wird sie zu einer unter Ökonomen weithin bekannten eigenständigen Schule.

Damit findet die Chicagoer Schule zu einem Zeitpunkt erstmals Erwähnung, als Emeritierungen, Todesfälle sowie Wegberufungen die Fakultät deutlich schwächen , und gerade Milton Friedman von der Columbia University als Professor nach Chicago zurückkehrt (1946). Zudem darf vermutet werden, dass sich Friedman, der „nur“ auf dem zweiten Platz der Berufungsliste gestanden hatte, besonders um den Aufbau einer eigenen Reputation bemühte . Friedman gilt heute als bekanntester „Chicago-Boy

Das Programm der Chicagoer Schule erschliesst sich aus der Wirkungsgeschichte und kann auf vier Postulate verdichtet werden:

1. Die Chicago-Schule zeichnet sich durch ein überzeugtes Eintreten für eine individualistisch ausgerichtete Marktwirtschaft aus. Stets werden vor allem die Vorzüge und Leistungen der marktwirtschaftlichen Ordnung wie z.B. die Wirksamkeit freier Märkte, Wirtschaftsfreiheit und Allokationseffizienz her-vorgehoben, während Verteilungsfragen weitgehend unbeachtet bleiben. Der Tendenz nach setzt dieser Ansatz den tatsächlichen Markt mit den Annahmen der Theorie gleich. Würde die Welt nach der Uhr der ökonomischen Modelle ticken, so wäre es aus der Chicagoer Sicht eine bessere Welt. Markt und Politik stehen in einem dualistischen Verhältnis: Der Markt wird mit einer freien Privatsphäre gleichgesetzt, der die politische Sphäre als Ort der Freiheitberaubung entgegensteht.

2. Die Chicago-Schule neigt zweitens dazu, die Resultate des Marktprozesses ungeachtet seiner Ausgangbedingungen zu akzeptieren. Wirtschaftspolitische Eingriffe werden dagegen mit Skepsis betrachtet. Die Politik hat sich aus der Privatwirtschaft herauszuhalten, weil sie sich entweder als unwirksam oder schädlich erweist. Beispielsweise entsteht Inflation aus einer diskretionären Geldpolitik.

3. Die Chicago-Schule tendiert drittens dazu, Machtkonzentrationen und Monopole vorrangig bei Regierung und Gewerkschaften zu erkennen. Das politische Monopol des Staates wird mit den gleichen Kategorien wie die marktbeherrschende Stellung eines Unternehmens gedeutet. Auch wenn sich mit Monopolen negative Effekte ergeben, so wird ihr Ausmaß aus Chicagoer Sicht in der wettbewerbspolitischen Diskussion weitgehend überschätzt. Hieraus ergibt sich für die Chicago-Schule eine weitgehende Abstinenz der Anti-Trust Politik. Stattdessen bedeutet Wettbewerbspolitik, die positive Anreizfunktion des Wettbewerbs in möglichst vielen Bereichen wirken zu lassen .

4. Die Chicago-Schule betont viertens die Relevanz und Brauchbarkeit der neo-klassischen Theorie, um wirtschaftliches Verhalten zu erklären. Die Wirtschaftstheorie besteht dem Chicagoer Ansatz folgend nicht aus einem abstrakten und vielfach mathematisch formulierten Gebäude von Lehrsätzen, sondern aus dem ökonomischen Analyseinstrumentarium, mit dem sich eine Vielzahl praktischer Probleme lösen lässt. Theoretische Verallgemeinerungen sind empirisch zu testen. In der Konfrontation mit der keynesianischen Theorie erweist sich die zentrale Stellung der Gleichgewichtskonzeption für den Chicagoer Bezugsrahmen. Rigiditäten, Schocks oder soziale Kosten werden als unbedeutend eingeschätzt.

Das Programm der Chicagoer Schule ist als ein wirtschaftswissenschaftliches Fundament des Neoliberalismus anzusehen. Politisch wirksam wird es vor allem seit den späten 1980er Jahren. Die Wirtschaftspolitik von Margaret Thatcher und Ronald Reagan berief sich auf das wissenschaftliche Fundament der Chicagoer Schule. Der Ökonom- und Sozialphilosoph Friedrich August von Hayek ist ideengeschichtlich mit dem Chicagoer Programm verwandt.