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Chronologie der Kollaboration der Vichy-Regierung beim Holocaust

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Während der Zeit der deutschen Besatzung zwischen 1940 und 1944 wurden 76.000 Juden aus Frankreich nach Auschwitz deportiert. Sie waren französische und ausländische Staatsbürger in Frankreich. Die Verantwortung dafür trägt primär die deutsche Regierung mit ihrer Besatzungsarmee. Einen Teil der Verantwortung übernahm das Vichy-Regime (offiziell: État français, mit dem Regierungschef Pierre Laval und dem Präsidenten Ph. Pétain). Die Kollaboration mit dem Deutschen Reich ist bis heute ein umstrittener Punkt der französischen Geschichte bzw. der Wahrnehmung dieser Geschichte in Frankreich. In der kollektiven deutschen Erinnerung an den Holocaust haben diese Ereignisse in Frankreich bzw. Deutschland anders als in Frankreich bis heute noch keinen Platz gefunden. Frankreich war im Zweiten Weltkrieg als Teil des Kriegs im Westen im Bewußtsein des Nachkriegsdeutschlands ein „sauberer" Kampfplatz im Gegensatz zum „Osten".


Zwei Phasen der Verfolgung von Juden in Frankreich

Noch bevor das Vichy-Regime im Oktober 1940 ihr Juden-Statut erlassen konnte, setzten die deutschen Besatzer einen eigenen Befehl in Kraft. 1942 wurde der „Judenstern“ und weitere Judengesetze eingeführt noch bevor die Besatzer dies überhaupt gefordert hatten. Im Juli 1942 verhaftete die Pariser Polizei mit 9.000 Mann 20.000 überwiegend ausländische Juden (frz. „grand rafle“) und sperrte sie im Vélodrôme d'hiver (Radsporthalle) ein. Im gleichen Monat begann das Vichy-Regime mit der Deportation von 130.000 ausländischen und 70.000 französischen Juden aus der Südzone über das Sammellager Drancy in die Vernichtungslager des von Deutschen besetzten Ostens von Europa. „Deportation" ist dabei eigentlich ein verschleiernder Ausdruck für das Ziel der Todestransporte.

Historisch ist insgesamt die Kriegssituation in Frankreich zu bedenken. Nach der miltiärischen Niederlage versuchte ein Teil des Regierungsapparats durch Verhandlung und Kooperation mit der Besatzungsmacht eine Abmilderung der Lage des frz. Volkes zu erreichen. Die Résistance intensivierte 1941 im Gegensatz dazu ihre Attentate und Sabotageakte. Sie konnte sich auf die moralische und praktische Unterstützung großer Teile der Bevölkerung und auf ins Exil geflohene Regierungsteile (De Gaulle) stützen. Die deutsche Besatzungsarmee reagierte darauf zunächst mit Geiselerschießungen. Schnell erkannte der Militärbefehlshaber Otto von Stülpnagel die zwiespältige Wirkung dieser Maßnahmen: Sie schreckten fast niemanden ab, erhöhten zugleich das Ansehen der Résistance. Er bzw. sein Nachfolger forderten deshalb die Deportation von 1.000 Juden für jedes Attentat und die Einrichtung von Juden-Lagern. Wegen fehlender Eisenbahnkapazitäten verließ der erste Transport mit 1.112 jüdischen Gefangenen Frankreich dann erst am 27. März 1942 in Richtung Auschwitz. Es sollten weitere 78 Züge folgen. Bereits im Oktober 1942 waren 42.0000 Ausländer (überwiegend Polen und Deutsche) und Franzosen nach Auschwitz, die meisten von ihnen direkt in die Gaskammern, deportiert worden.

Zunächst sprach die deutsche Militärverwaltung von der „Evakuierung der Juden nach dem Osten", von „Arbeitseinsatz" und „Zwangsarbeit", aber schon nach dem siebten Transport im Juli 1942 wurde die Bestimmung, dass nur arbeitsfähige Männer deportiert werden sollten, aufgeweicht und später ganz fallen gelassen. Denn gleichzeitig versuchte Deutschland für seine Kriegsproduktion "freiwillige Fremdarbeiter" aus Frankreich anzuwerben bzw. Zwangsarbeiter zu rekrutieren. Als dann auch alte Menschen, Frauen und seit August 1942 selbst Kinder jeden Alters in die Güterwaggons verfrachtet wurden, war klar, dass es nicht mehr um Arbeitseinsätze sondern um die Vernichtung der jüdischen Deutschen und Franzosen aus Frankreich ging. An die Verabredung mit dem Vichy-Regime, keine französischen Juden zu deportieren, hielt sich die Besatzungsmacht immer weniger, ab Mitte 1943 gar nicht mehr. Spätestens zu diesem Zeitpunkt hatte die Kollaboration eine andere Qualität angenommen. Damals begann das Sonderkommando Alois Brunner eine regelrechte Menschenjagd auch in dem noch unbesetzten Süden Frankreichs.

Auf deutscher Seite waren im besetzten Norden hauptsächlich drei deutsche Institutionen, die zum Teil etwas unterschiedliche Ziele verfolgten und in ihren Zuständigkeiten nur unzulänglich voneinander abgegrenzt waren, aktiv an der Judenverfolgung beteiligt: die Militärverwaltung, die SS und der deutsche Botschafter. Dieser besonders in seiner Funktion als Verbindung zur von den Nazis anerkannten Regierung. Von der SS (Reichssicherheitshauptamt) wurde im September 1940 das Judenreferat in Paris unter Theodor Dannecker als Chef zur Organisation der Deportation errichtet, dem Helmut Knochen, der Leiter der Sicherheitspolizei (Sipo), und Carl-Albrecht Oberg, der Höhere SS- und Polizeiführer, unterstellt waren.

Auf französischer Seite gab es dafür das Generalkommissariat für Judenfragen der Vichy-Regierungsstellen. Seine Politik war es, die Durchführung in Frankreich in der Hand zu behalten. Dies machte tausende französische Polizisten und Regierungsbeamte zu Handlangern der deutschen Haupttäter.

Chronologie einer Kollaboration

Die folgende Chronologie der Gefangennahme und Transporte folgt im Wesentlichen dem Buch von François und Renée Bédarida, La persécution des juifs (Die Verfolgung der Juden) aus dem Jahr 1993.

Ereignisse im Jahr 1940

  • Juli – Deutschland weist über 20 000 jüdische Franzosen aus dem besetzten Elsaß-Lothringen nach Frankreich aus, das sie weiter in Lager im unbesetzten Süden deportiert (Zusammenhang mit der Wagner-Bürckel-Aktion – diese beiden SS-Funktionäre handeln als Chef der Zivilverwaltung).
  • 27. September : Befehl deutschen Besatzungsmacht zum Judenstatut im besetzten frz. Gebiet. U. a. waren die Geschäfte mit Jude zu bezeichnen, deren Inhaber jüd. Glaubens waren.
  • 27. September : Ein neues Gesetz des Vichy-Regime ermöglicht es, jeden arbeitslosen Ausländer zu internieren
  • 3. Oktober – Erstes Judenstatut (frz: Lois sur le statut des Juifs). Jüdische Franzosen werden von öffentl. Ämtern, der Armee, dem Unterricht und der Presse, aus Radio und Kino ausgeschlossen. Beschränkungen in den freien Berufen sind möglich.
  • 4. Oktober – Die Präfekten dürfen Ausländer „jüdischer Rasse “ internieren.
  • 7. Oktober - In der besetzten Zone: Arisierung (frz. "aryanisation") aller Betriebe.
  • * Jüdischen Franzosen aus Algerien wird die Staatsangehörigkeit (Erteilt nach dem Crémieux-Gesetz von 1871) aberkannt.

Ereignisse im Jahr 1941

  • 29. März – Bildung des Generalkommissariat für Judenfragen (frz: Commissariat général aux questions juives , CGQJ). Xavier Vallat wird sein erster Kommissar.
  • 13. Mai – In der besetzten Zone: erste Razzia nach ausländischen Juden (3 747 der 6 494 Gesuchten werden im Lager Pithiviers et Beaune-la-Rolande, unter frz. Verwaltung, eingesperrt[1].
  • 2. Juni - Zweites Judenstatut : es verschärft die Definition des Judenbegriffs und verlängert die Berufsverbote des ersten Statuts, ein numerus clausus für alle Universitäten (3 %, Studiumsbeschränkung) und die Freiberufler (2 %). Im unbesetzten Süden müssen sich alle Juden als solche registrieren lassen.
  • 21. Juli - „Arisierung" der Betriebe in der unbesetzten Zone.
  • August - In der besetzten Zone: 3 200 ausl. Juden und 1000 franz. Juden werden in versch. Lagern, darunter Drancy, interniert.
  • Dezember - In der besetzten Zone: 740 jüd Franzosen (Intellektuelle, Freiberufler) werden in Compiègne (Le camp de Royallieu) interniert.

Ereignisse im Jahr 1942

  • 20. Januar - Auf der Wannseekonferenz kamen unter Vorsitz von SS-Obergruppenführer Heydrich hochrangige Vertreter von nationalsozialistischen Reichsbehörden und Parteidienststellen zusammen, um grundsätzliche Fragen des Völkermordes an den Juden Europas zu klären und die Zusammenarbeit aller Instanzen sicherzustellen.
  • 27. März – Der erste Zug mit jüd. Deportierten fährt von Compiègne (Frontstalag 122), in Richtung Vernichtungslager mit 1.112 Deportierten, davon überlebten bis 1945 nur 19 Personen.
  • 20. Mai 1942 - In der besetzten Zone: Das Tragen des Judensterns wird Pflicht. (verbindlich ab dem 7. Juni).
  • 5. Juni - Von Compiègne fährt der 2. Zug nach Auschwitz. Von 1.000 Deportierten überlebten 32 bis 1945.
  • 2. Juli - Vereinbarung Bousquet-Oberg über die Zusammenarbeit zwischen frz. und dt. Polizei, in Anwesenheit von R. Heydrich (evtl. unter dem Druck von R. H.?).
  • 16./17. Juli 1942 - Die französische Polizei verhaftete mit 9.000 Mann 20.000 überwiegend ausländische Juden in Paris („grand rafle“) und sperrte 12 884 „heimatlose Juden" im Vélodrôme d'hiver ein (3.031 Männer, 5.802 Frauen und 4.051 Kinder).
  • 22. Juni : Zug Nr. 3 fährt vom Lager Drancy nach Auschwitz : 1000 Deportierte, 24 davon überlebten bis 1945.
  • 25. Juni: Zug Nr. 4 fährt vom Lager Pithiviers nach Auschwitz : 1000 Deportierte, 24 davon überlebten bis 1945.
  • 28. Juni - Zug Nr. 5 fährt vom Lager Beaune-la-Rolande nach Auschwitz. Von 1004 Deportierten überlebten bis 1945 nur 35 Personen.
  • 17. Juli - Zug Nr. 6 fährt vom Lager Pithiviers nach Auschwitz : 928 Deportierte, 18 davon überlebten bis 1945.
  • 3. August - Zug Nr. 14 fährt vom Lager Pithiviers nach Auschwitz : 1.034 Deportierte, nur 4 davon überlebten bis 1945.
  • 26. – 28. August 1942 – In der unbesetzten Zone: Razzien führen zur Deportation von 7 000 Personen.
  • 11. November - Zug Nr. 45 fährt vom Lager Drancy nach Auschwitz: Von 745 Deportierten überlebten bis 1945 nur 2 Personen.

Ereignisse im Jahr 1943

  • Januar: In einer seither Bataille de Marseille genannten Aktion werden fast 2 000 Marseiller im alten Hafenviertel verhaftet und deportiert.
  • Februar 1943 - Razzien in Lyon - in den Räumen des Judenrats (l'UGIF).
  • 9. Februar - Zug Nr. 45 fährt vom Lager Drancy nach Auschwitz: Von 1000 Deportierten überlebten bis 1945 nur 21 Personen.
  • 8. September – Nach der italienischen Kapitulation wird Nizza besetzt, wo es dann auch Razzien gibt.
  • April - Razzien in Nîmes und Avignon
  • September - Razzien in Nizza und seinem Hinterland
  • 17. Dezember - Zug Nr. 64 fährt vom Lager Drancy nach Auschwitz: Von 1000 Deportierten überlebten bis 1945 nur 42 Personen.

Ereignisse im Jahr 1944

Menschenleben - Zahlen

Hinter statistischen Zahlen sind Geschichten von einzelnen Personen versteckt. Die Täter, die in unheimlich großen Zahlen mordeten, zwingen uns mit ihrer Handlungsweise, Menschenleben in Zahlenkolonnen auszudrücken. Das widerspricht der menschlichen Denkweise. Man kann sich vorstellen, wieviele Menschen in einer Straße, einem Viertel oder einem Ort leben. Danach mßte man rechnen, wie oft geht diese Zahl in die Gesamtzahl der Opfer, um sich eine Vorstellung des Leids einzelner und deren Angehörigen, Nachbarn etc. überhaupt machen zu können.

Deshalb werden hier mit allem Respekt die Gesamtzahlen der Opfer, soweit bekannt, zusammengefasst:

  • Aus Frankreich waren es 75 721 Deportierte, davon:
42 655 im Jahr 1942
17 041 im Jahr 1943
16 025 im Jahr 1944

Altersgruppen:

  6 012 waren noch nicht 12 Jahre alt
13 104 zwischen 13 und 29 Jahre
  8 687 über 60 Jahre

Nach franz. Schätzungen waren etwa 1 Drittel der Deportierten Franzosen:

Die Ausländer unter den aus Frankreich Deportierten stammten aus:

26 300 aus Polen
  7 000 aus Deutschland
  4 500 aus Russland
  3 300 aus Rumänien
  2 500 aus Österreich

Nur 2 500 haben die Deportation überlebt. 3 000 Tote gab es bereits in den französischen Sammel- und Transitlagern.

Zu den Opfern gehören auch die etwa 1000 als Geiseln in Frankreich hingerichteten oder erschossenen Juden.


Siehe auch

Siehe auch den Artikel: Kollaboration der Vichy-Regierung, Sammellager Drancy, das Lager Gurs, Wannseekonferenz

Literatur

  • François Bédarida, Renée Bédarida: La persécution des juifs. In La France des années noires, Tome 2, Le Seuil, 1993
  • Bernd Kasten: "Gute Franzosen" - Die französische Polizei und die deutsche Besatzungsmacht im besetzten Frankreich 1940 – 1944. Sigmaringen: Thorbecke, 1993 (auch: Diss. Univ. Kiel 1990) ISBN 379955937X (Reihe: Kieler historische Studien ; Bd. 37)
  • Serge Klarsfeld: Vichy-Auschwitz: die Zusammenarbeit der deutschen und französischen Behörden bei der Endlösung der Judenfrage in Frankreich. Nördlingen, Greno, 1989. ISBN 3891909586. Original: Vichy, Auschwitz : le rôle de Vichy dans la solution finale de la question juive en France. t. 1, Paris, Fayard, 1983; t. 2, 1943-1944, Paris, Fayard. 1985. ISBN 2-213-60183-6
  • Maurice Rajsfus: La Police de Vichy. Les forces de l'ordre françaises au service de la Gestapo. 1940/1944. Le Cherche Midi éditeur.1995. ISBN 2-86274-358-5 (frz.)
  • Rita Thalmann: Gleichschaltung in Frankreich: 1940 – 1944. Aus dem Franz.: Eva Groepler. Hamburg, Europäische Verlagsanstalt, 1999 (Original: La mise au pas). ISBN 3434500626

Liste der Transporte nach Monaten in der
Frz. Kategorie:Convois de la déportation des Juifs de France, Wikipedia


Frz. Artikel ohne entspr. Übersetzung aus der Wikipedia:fr


  1. Rapport de la préfecture de police du 14 mai 1941. Archives, page 29-30. Cité par Serge Klarsfeld in Vichy-Auschwitz, tome I, p.15.