Zum Inhalt springen

Popliteratur

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Dies ist eine alte Version dieser Seite, zuletzt bearbeitet am 5. Dezember 2006 um 20:41 Uhr durch 84.160.108.58 (Diskussion) (Gegenwart, Modeströmung "Popliteratur"). Sie kann sich erheblich von der aktuellen Version unterscheiden.

Hinweis: Popliteratur bitte nicht verwechseln mit jenen Publikationen, die sich mit den Positionen von Popsongs in den nationalen und internationalen Hitparaden oder mit den Lebensläufen von Schlager- und Popsängern beschäftigen, wie z. B. Frank Laufenbergs "Pop Diary". Siehe Fanklubs und Fanmagazine.


Popliteratur ist eine nicht klar umrissene Literaturgattung. Zur Zeit ihrer Entstehung in den 1940er Jahren drückte sie literarisch verarbeitetes Aufbegehren gegen verkrustete Strukturen der US-Gesellschaft aus.

Vorläufer, Geschichte

Popliteratur geht auf die Beat Generation in den 1940er und 1950er Jahren in den USA zurück, in der sich Schriftsteller wie William S. Burroughs, Jack Kerouac und Allen Ginsberg zu einer mehr oder weniger lockeren Gruppe zusammenschlossen und zum ersten Mal das spezifische Gefühl Jugendlicher zum Ausdruck zu bringen versuchten.

Die so genannten Beatniks brachen mit den herkömmlichen dominanten Moral- und Lebensvorstellungen, versuchten durch Drogenkonsum ihr Bewusstsein zu erweitern und ihren unkonventionellen Lebensstil in einer möglichst realistischen Sprache darzustellen. Popliteratur stellte in dieser Phase den Versuch dar, Jugendlichen und ihrem subkulturellen Lebensstil eine authentische Sprache zu geben. Ein Stilmittel dafür war der Stream of Consciousness.


In Deutschland wurde die Popliteratur durch den in einer christlichen Zeitschrift und zeitgleich im Playboy veröffentlichten Aufsatz von Leslie Fiedler "cross the border, close the gap" bekannt. Er forderte die Ablösung der elitären Hochkultur durch eine Literatur, die auch den Alltag mit einbezieht. Hier war es vor allem der junge, zornige und rebellische Schriftsteller Rolf Dieter Brinkmann, der in den 1960er Jahren die Anthologie Acid herausbrachte und damit die amerikanischen Popliteraten in Deutschland vorstellte. Damit platzte Brinkmann in eine, durch die restaurative Nachkriegszeit sowie durch die "politisch korrekte" Literatur der Gruppe 47 dominierte Literaturszene: sein Auftreten wirkte extrem provozierend.

Brinkmann schreibt: "Enzensbergers ablehnende Haltung gegenüber dem Statement Kerouacs kann symptomatisch genommen werden für die bekannte Unsinnlichkeit des Denkens abendländischer Intellektueller [...]. Es ist tatsächlich nicht einzusehen, warum nicht ein Gedanke die Attraktivität von Titten einer 19jährigen haben sollte, an die man gerne faßt..." (Zitat: ACID S: 384)

"Der Tot-Stell-Reflex, der die deutschsprachigen Literaturprodukte weithin kennzeichnet, äußert sich in der praktizierten hemmungslosen Tabuisierung bestimmter "Wörter", anstatt auf Wörter oder Sätze so lange draufzuschlagen, bis das in ihnen eingekapselte Leben (Dasein, einfach nur: Dasein) neu daraus aufspringt in Bildern, Vorstellungen" (Zitat: ACID S: 399)

  • Beispiele:
    • "Keiner weiß mehr" (1968)
    • "ACID. Neue amerikanische Szene. hg. v. Rolf Dieter Brinkmann und Ralf-Rainer Rygulla. Reinbek (1969)
    • "Rom, Blicke" (1979)
    • "Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand: Reise Zeit Magazin (Tagebuch) (1987)

Die historische Bedeutung der Popliteratur in Deutschland hängt mit den gesellschaftlichen Entwicklungen der 1960er Jahre, den Studentenunruhen und der 68er-Bewegung zusammen. In dieser Stimmung wurde Popliteratur als eine Möglichkeit begrüßt, sich auch kulturell deutlich von der scharf kritisierten Elterngeneration abzugrenzen. Zum ersten Mal wird "Jugend" zu einem eigenständigen Lebensabschnitt mit nur ihr vorbehaltenen Subkulturen.

Gegenwart, Modeströmung "Popliteratur"

In den 1990er Jahren sind vor allem Werke von Benjamin von Stuckrad-Barre, Christian Kracht, Thomas Brussig und Alexa Hennig von Lange für die Bewegung von Bedeutung, soweit man dem Feuilleton glauben mag. Häufig genannt wurden im selben Zusammenhang auch Judith Hermann, Sibylle Berg sowie die "Suhrkamp-Fraktion", namentlich Rainald Goetz, Andreas Neumeister sowie Thomas Meinecke. Als einer der Höhepunkte der Bewegung wird das Treffen von fünf Popliteraten im Berliner Hotel Adlon angesehen, die dabei geführten Gespräche wurden unter dem Titel Tristesse Royale - das popliterarische Quintett - in Buchform veröffentlicht. Die Mitwirkenden waren Benjamin von Stuckrad-Barre, Christian Kracht, Eckhart Nickel, Alexander von Schönburg und Joachim Bessing. Musik, Drogenkonsum, Reisen sowie die Verarbeitung sekundärer Lektüren aus den Bereichen Fernsehen, Musik, Internet, Popkultur im allgemeinen oder aktueller Lifestyle finden Eingang in die literarischen Werke der genannten Autoren. Die klassische Definition von Pop als das Aufgreifen von literarischen bzw. hauptsächlich außerliterarischen Themen und Fragmenten sowie das Implementieren derselben in eine neue prosaische Form und die Darstellung eines Ausschnitts der Welt mittels einer Oberflächenbeschreibung findet in der neuen deutschen Popliteratur ihre Fortsetzung, allerdings abweichend von den popliterarischen Ansätzen eines Hubert Fichte oder eines Rolf Dieter Brinkmann: Zwar bildet die Entstehungszeit weiterhin den Anker für die Entstehung und die einfache Rezeption (nach Diedrich Diederichsen eines der prominentesten Merkmale von Popliteratur; der in diesem Zusammenhang oftmals beschriebene Zeitgeistbezug von Popliteratur bleibt weiterhin nicht zu leugnen), aber der subversive Grundcharakter scheint in dem Moment verloren, da die Protagonisten einer dandyhaften, vermögenden Oberschicht zu entspringen scheinen. Andere, durchaus subversive Ansätze einer neueren Popliteratur, etwa eines Justin Larutan (Das Attentat), wurden freilich vom Feuilleton auch kaum beachtet.[1] Dass die Ahnung eines Verlusts der subversiven Potenz des neueren literarischen Pop - ein frühes Vorurteil der feuilletonistischen Erstrezensenten - mittlerweile ohnehin nur noch schwer haltbar ist, lässt sich folgendermaßen belegen: In dem Moment, da sich die Anhänger der ehemals subversiven und teilweise auch politisch linken Subkultur etabliert haben - so ein nicht unerheblicher Teil der Feuilletonisten - ist schlicht kaum noch von einer subkulturellen Strömung, sondern von einem meinungsbildenden Etablishment zu sprechen. Diese polemisch "Gutmenschenfraktion" genannten Kritiker setzten sich gegen die aufkommende neue Popliterur energisch entgegen, ohne dabei die aufgestellten Fallen - man ziehe hierzu Faserland von Christian Kracht zu Rate - zu bemerken bzw. zu sehen, dass hinter dem 'neuen Konservatismus' und dem politischen Desinteresse ein klares Ziel steht: Das verspätete Aufbegehren gegen die Meinungsmacht der 1968er und deren politischen Nachfolgeorganisationen (Die Grünen, ATTAC u.s.w.). Offensichtliche Provokationen wurden für bare Münze gehalten, wissenschaftliche Grundsätze (v. a. die Differenzierung zwischen Erzähler und Autor) vernachlässigt. Erst neuere wissenschaftliche Arbeiten [2] belegten eindeutig, dass sich die Popliteratur der 1990er Jahre bei genauerer Betrachtung und bei aller angebrachten Kritik als neuartige, notwendige und mithin keineswegs anspruchslose Literaturströmung entpuppt. Nach dem kurzfristigen Höhepunkt am Ende der 1990er Jahre und der gleichzeitigen medialen Präsenz der Autoren und ihren Kritikern wurde es zeitgleich mit dem Erscheinen der ersten wissenschaftlichen Bearbeitungen still um die deutschen Politeraten. Als weitere Formen popkultureller Genres in der älteren Begriffsbestimmung können weiterhin Social Beat oder Poetry Slam gewertet werden.

Kritische Betrachtung

In Deutschland wurde der Terminus Popliteratur 1968 ursprünglich für literarische Strömungen bekannt, die aus Protest gegen ihre nationalsozialistische Vätergeneration einen Weg zur Befreiung suchten.

Heutige „selbsternannte“ Vertreter können jedoch kaum noch zur Nachkriegsgeneration gezählt werden, die gegen eine ältere faschistische Generation, gegen herrschende gesellschaftliche Strukturen protestieren. Meist sind es etablierte Außenseiter der 1990er und der beschreibenden Medienwelt eng verbunden. Einerseits wollen sie den Medienbetrieb bewusst bloßstellen, andererseits tragen sie zu seiner Aufrechterhaltung und Fortentwicklung bei, indem sie die Medien zur Verbreitung ihres Bekanntheitsgrades benötigen.

Erkennbar ist ihr Bemühen, sich einer Gruppe zuzuordnen, die sich ständig auf der Höhe der Zeit befindet, „in“ sein will.

Im Fokus stehen weniger ihre Gegenstände, respektive ihr Erschaffenes, sondern meist sie selbst als Person. Somit entsteht ein Druck sich ständig selbst zu übertreffen. Was als Protest– oder Oppositionsbewegung begann, endet im verkrampften Versuch sich von den anderen (dem Establishment, der Masse) abzusetzen. Inhalte spielen dabei kaum mehr eine Rolle.

Die Autoren der 90er sind der Ansicht, dass sie mittels einer am Alltag orientierter Sprache das Lebensgefühl einer gesellschaftlichen Gruppe wiedergeben. Angesprochen werden sollen diejenigen, die zwischen Adoleszenz und Familiengründung stehen.

Literatur

  • Heinz Ludwig Arnold, Jörgen Schäfer (Hrsg.): Pop-Literatur. München: Ed. Text + Kritik, 2003. ISBN 3883777358.
  • Moritz Baßler: Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten. München: C.H. Beck, 2002. ISBN 3406476147.
  • Thomas Ernst: Popliteratur. Hamburg: Rotbuch, 2001. ISBN 3434535195.
  • Thomas Newhouse: The beat generation and the popular novel in the United States 1945-1970. Jefferson/NC: McFarland, 2000. ISBN 0786408413.
  • Katharina Rutschky: „Wertherzeit. Poproman - Merkmale eines unerkannten Genres“, in Merkur Heft 646, Nr. 2/2003
  • Johannes Ullmaier: Von Acid nach Adlon. Eine Reise durch die deutschsprachige Popliteratur. Mainz: Ventil-Verlag, 2000. ISBN 3930559838.
  • Christian Weigand: Die neue deutsche Popliteratur. Eine vergleichende Stiluntersuchung anhand der Erzählung Rave (Rainald Goetz) und des Romans Faserland (Christian Kracht). Trier 2006.

Anmerkungen

  1. Vergleiche die Liste in Johannes Ullmaier: Von Acid nach Adlon. Eine Reise durch die deutsche Popliteratur. Mainz 2001, S. 208
  2. Hervorzuheben sind v.a. die Schriften von Arnold, Baßler und Weigand (siehe Literaturverzeichnis)

Siehe auch: