Nahtoderfahrung

Unter einer Nahtod-Erfahrung (Todesnäheerfahrung, engl.: near-death experience, near death experience, NDE) versteht man ein Phänomen, das unter anderem bei Menschen auftritt, die für begrenzte Zeit klinisch tot waren – beispielsweise während einer Operation, in Folge eines Verkehrsunfalls oder in einem Zustand kurz vor dem Ertrinken. Diese Berichte werden sowohl wissenschaftlich interpretiert als auch religiös gedeutet. Nahtoderfahrungen sind Gegenstand von Untersuchungen im Rahmen der Transpersonalen Psychologie.
Abgrenzung
Nahtoderfahrungen lassen sich von Außerkörperlichen Erfahrungen (der Körper wird von außen wahrgenommen) abgrenzen. Nahtoderfahrungen sind in der Regel gekoppelt mit Zuständen eines sterbenden Körpers (Herzstillstand, starke Unterkühlung, massiver Blutverlust etc.). Maßgeblich für eine Nahtoderfahrung scheint auch die psychische Todesnähe zu sein, also das subjektive Gefühl zu sterben.
Außerkörperliche Erfahrungen hingegen werden berichtet von Personen, die sich entweder a) in psychischen Bedrohungssituationen oder b) in einem tief entspannten Zustand befunden haben. Nahtodberichte enthalten oft Elemente von außerkörperlichen Erfahrungen.
Als Auswirkung lässt sich nach Nahtoderfahrungen häufig eine starke Veränderung der Lebensgestaltung beobachten. Bei außerkörperlichen Erfahrungen lässt sich demgegenüber in der Regel kein großer Wandel im Lebensverlauf feststellen.
Berichte

Menschen, die nach einer Phase des klinischen Todes reanimiert wurden, berichten vom Fortbestehen des Gefühls der eigenen Identität, einem Gefühl des umfassenden Begreifens und der universalen Erkenntnis oder der Gewissheit, Teil des Universums zu sein, mitunter auch von Wahrnehmungen wunderbarer Landschaften, einem veränderten Zeit- und Schweregefühl oder dem Eindruck rasender Geschwindigkeit, der Vision einer Grenze und zuletzt einer Phase der "Rückkehr" ins reale Leben. Es gibt anekdotenhafte Berichte in denen von Details (z.B. Inhalt von Gesprächen, auf Schränken liegende Objekte) berichtet wird, deren Kenntnis dem betreffenden Menschen unmöglich wäre, wenn er nicht tatsächlich seinen Körper verlassen hätte.
Auch wird davon berichtet, dass man seinen Körper verlassen konnte, durch eine Art Tunnel einem hellen Licht entgegenschwebte, vormals nahestehenden Verstorbenen begegnete, wie in einem schnellen Film auf das ganze vergangene Leben zurückblickte und grenzenlose Liebe in Form einer Lichtgestalt erfuhr (unter Umständen identifiziert mit Christus, einem Propheten, einem Energieball oder Gott).
Die Wahrnehmungen erfolgen optisch, akustisch und auch über den Tast-, Geruchs- und Geschmackssinn. Ein spezielles Phänomen ist die so genannte Lebensbilderschau bzw. das panoramatische Erlebnis, bei dem das Leben vor dem inneren Auge im Zeitraffer vorbeizuziehen scheint.
Das Alter, das Geschlecht, die berufliche Laufbahn des Einzelnen, sein kulturelles Umfeld oder seine Religion können für die Nahtod-Erfahrungen eine Rolle spielen: So gibt es zum Beispiel Berichte über kulturell bedingt unterschiedliche Arten der Fortbewegung durch den Tunnel.
Bei Überlebenden mit Nahtod-Erfahrungen löst das transzendente Erlebnis oft einschneidende Veränderungen ihres Lebens aus. Sie sind fest davon überzeugt, dass das, was sie erlebt haben, real war. Daraus resultierend entwickelte sich besonders seit den 80er Jahren eine Art neue religiöse Bewegung, die glaubt, in den Nahtod-Erfahrungen einen Beweis für das Leben nach dem Tod gefunden zu haben.
Die Überlebenden mit Nahtoderfahrungen berichten häufig, dass diese Erfahrungen eine sehr lange Zeit – etwa mehrere Wochen – zu dauern schienen.
Weniger bekannt ist, dass ein Teil der klinisch Toten, die reanimiert werden konnten, nicht von Nahtoderlebnissen berichtet oder negative und angstvolle Wahrnehmungen erlebte. Einige Überlebende berichten, dass sie einen Blick in eine Art "Hölle" oder auf die Erde und das menschliche Elend getan hätten.
Medizinische Deutung
Die Medizin deutet die Erlebnisse als Halluzinationen, die in erster Linie durch die DMT-Ausschüttung im Gehirn des klinisch Toten hervor gerufen werden. Die Untersuchungen haben ergeben, dass Versuchspersonen, denen hohe Dosen von DMT intravenös zugeführt wurden, von Nahtodeserfahrungen und mystischen Erlebnissen berichteten[1]. Auch unter LSD-Einfluss kommt es zu vergleichbaren Halluzinationen. Weitere Untersuchungen an Piloten und Astronauten, die hohen Beschleunigungen ausgesetzt gewesen sind und dabei für kurze Zeit ihr Bewusstsein verloren haben, berichten von ähnlichen Wahrnehmungen.
Eine Theorie von Shawn Thomas (2004) schlägt vor, dass der Neurotransmitter Agmatin (((4-aminobutyl)guanidin) die Schlüsselsubstanz für Nahtod-Erfahrungen ist [2].
Derzeit werden Nahtod-Erfahrungen von der "International Association for Near Death Studies" (IANDS) untersucht.
Nahtoderfahrungen von Hirntoten (Pam-Reynolds-Fall)
Berichten zufolge können auch hirntote Menschen Nahtoderlebnisse haben. Als Beispiel sei der Fall Pam Reynolds angeführt (USA 1991). Während die Patientin einer Gehirnoperation unterzogen wurde, zeigten mehrere Messinstrumente eindeutig, dass im Gehirn medikamentenbedingt keinerlei Aktivität vor sich ging. Und obwohl die Augen der Patientin zugeklebt und die Ohren wegen der Hirnstrommessungen zugestöpselt waren, konnte Reynolds hinterher detailgenau berichten, was sie etwa zwei Meter über dem OP-Tisch schwebend erlebt hatte. Sie konnte die Gespräche während der Operation wiedergeben und von den Eingriffen an ihrem Gehirn berichten. Die Faktenlage dieses von der BBC und der ARD dokumentierten Falls ist allerdings umstritten. Eine kritische Auseinandersetzung findet sich in folgendem Artikel:
Michael Schröter-Kunhardt zur Abneigung der Schulmediziner
In einem Telepolis-Interview auf die Frage der unabhängigen Forschungsmittel und seine Reputation angesprochen sagt Dr. Schröter-Kunhardt:
Besonders von Schulmedizinern wird man schnell als Esoteriker abgestempelt – und noch mehr in der Psychiatrie, wo häufig alles, was religiös gefärbt ist, als krankhaft abqualifiziert wird. Einerseits fehlt es am Geld, andererseits hat die Wissenschaft geradezu Angst vor solchen Erfahrungen. Das Thema ist einfach zu heikel. Um ein Beispiel zu nennen: Der Heidelberger Ärzteschaft habe ich einmal diese Thematik als Fortbildung angeboten. Dabei wurde mir versichert, dass meine Offerte dem Vorstand unterbreitet werden würde. Doch gerade die psychotherapeutischen Mediziner lehnten dies mit dem Hinweis ab, dass das NDE-Phänomen letzten Endes reine Weltanschauung sei – was Bände gegen sie spricht. Aber auch in den Kliniken, in denen ich gearbeitet habe, wird das Thema grundsätzlich ignoriert. Es mangelt also sowohl an Geld als auch an wissenschaftlicher Förderung. Es gibt keine Kliniken, die dieses Phänomen ernsthaft untersuchen: Sterbeerfahrungen sind immer noch ein Tabu-Thema, obwohl diese einen geradezu sensationellen Erkenntnisgewinn versprechen.
Schröter-Kunhardt spricht in seiner Forschung durchaus von neuronalen Reizen, die real verarbeitet werden und widerspricht damit nicht der herrschenden Gegenargumentation. Seine Forschungsansätze integrieren die Argumente beider Seiten. Unabhängig von einer wirklichen Auseinandersetzung mit dem Thema wird in westlichen wissenschaftlichen Kreisen das Phänomen jedoch noch immer belächelt, und Forscher, die sich damit befassen, müssen mit der Streichung ihrer Forschungsetats rechnen. Dies erklärt vielleicht die Zurückhaltung mancher Menschen, darüber zu berichten, sowie die geringe Bereitschaft auf universitärer Ebene, an der wissenschaftlichen Forschung mitzuarbeiten.
Nahtod-Erfahrung und Suizid
In den Anfängen der Nahtod-Forschung bestand immer wieder die Sorge, bei suizidgefährdeten Menschen könnten sich durch diese Berichte die Schwelle zur Suizidhandlung gesenkt werden. (Hierzu liegen allerdings keine Belege vor.) Deshalb wurde sozusagen als „Warnhinweis“ formuliert, dass Suizidanten keine solche angenehme Erfahrung des Überganges hätten. Nahtod-Forscher wie z. B. der US-amerikanische Psychologie-Professor Kenneth Ring (WP:en) (vgl. Ring, K.: Den Tod erfahren – das Leben gewinnen. Scherz-Verlag, Bern, 1985) haben schon früh nachweisen können, dass zwischen Menschen, die nach einem Suizidversuch gerettet werden konnten und denen, die aus einem anderen Grund „fast“ gestorben sind, kein wirklicher Unterschied hinsichtlich der NTEs besteht. Tatsächlich berichtet Ring, dass erlebte Nahtod-Erfahrungen eher einen suizidpräventiven Effekt haben.
Reaktion von Wissenschaftlern
Die Abneigung empirisch quantitativ arbeitender Wissenschaftler gegenüber dem Thema Nahtoderfahrungen hat verschiedene Gründe:
- Die subjektiven geschilderten Eindrücke sind praktisch nicht objektivierbar, somit eher unergiebig für quantitative Forschung.
- Der Psychologie, Neurologie und Psychiatrie (und anderen Fachgebieten) ist im Laufe ihrer Entwicklung immer bewusster geworden, wie leicht täuschbar das menschliche Gehirn ist und wie subjektiv eingefärbt alles Erleben ist, wobei weiterhin große Uneinigkeit über die Verfasstheit des "Bewusstseins" besteht.
- Als Tod gilt in der Biologie der unumkehrbar bleibende Zusammenbruch aller biologischen und neurologischen Funktionen. Das Weiterbestehen einer wie immer gearteten psychischen Funktion ohne funktionierendes Gehirn wird als unmöglich angesehen, da es allen bisherigen objektivierbaren Erfahrungen widerspricht.
- Das Thema wird von einigen Autoren dazu ausgenutzt, um mit zweifelhaften Buchveröffentlichungen und anderen medienwirksamen Auftritten viel Geld zu verdienen.
Prinzipiell eignet sich das Thema NDE jedoch für eine empirische wissenschaftliche Untersuchung, und es existieren bereits mehrere neurologische Thesen zu NDE. Kulturübergreifende Ähnlichkeiten der Erfahrungen und die Dokumentation von NDE auch in Fällen ohne messbare Gehirnaktivität lassen dabei als eine mögliche Schlussfolgerung auch die Möglichkeit zu, dass NDE Folge der Existenz eines von Gehirnaktivität getrennt vorhandenen Bewusstseins sind.
Generell besteht in den Naturwissenschaften große Zurückhaltung bei Aussagen über philosophische Fragen. Diese Zurückhaltung hat jedoch in den vergangenen Jahrzehnten wieder abgenommen. Die Urknall-Theorie wurde z. B. zunächst skeptisch betrachtet, da sie auch philosophische Fragen beantwortet. Später wurde die Theorie jedoch weitgehend akzeptiert. Der wissenschaftliche Nachweis der Existenz einer Seele durch NDE würde vermutlich zunächst auf ähnliche Skepsis stoßen.
Positronen-Emissions-Tomographie
Da man mittels PET mittlerweile dem Gehirn – wenn auch nur sehr grob – beim Denken zuschauen kann, kann es vielleicht sein, dass über diesen Weg neue objektivierbare Erkenntnisse über das sterbende Gehirn gewonnen werden können.
Herzschrittmacher
Interessant sind auch Erfahrungen von Patienten mit Herzschrittmachern. Sind diese Patienten völlig schrittmacherabhängig und haben keine eigene Herzaktion, kann man im Rahmen der Herzschrittmacherkontrolle einen circa 10 – 15 sekündigen Herzstillstand auslösen, ohne dass der Patient Schaden leidet. In dieser Phase kann man dann die auftretenden Körper- und Gehirnreaktionen messen. Allerdings sind dabei sehr schnelle Messmethoden notwendig und eine längere Ausdehnung des Herzstillstandes ist ethisch nicht zu rechtfertigen.
Es kommt in dieser Phase zu einem maximalen Adrenalinausstoß im Körper. Es wird dem Betroffenen sehr heiß, dann wird ihm schwarz vor Augen. Ein Helligkeitserlebnis und die typischen Nahtoderfahrungen werden nicht berichtet. Nach so einer Schrittmacherpause kann es durch das freigesetzte Adrenalin zu einem erhöhten Blutdruck kommen.
Literatur
- Johann Christoph Hampe: Sterben ist doch ganz anders. Erfahrungen mit dem eigenen Tod. 10. Auflage. Kreuz Verlag, Stuttart 1990, ISBN 3783104696
- Hubert Knoblauch: Berichte aus dem Jenseits. Mythos und Realität der Nahtod-Erfahrung. Herder, Freiburg im Breisgau 2002, ISBN 3451052164
- Raymond A. Moody: Leben nach dem Tod. 34. Auflage. Rowohlt-Taschenbuch-Verlag, Reinbek bei Hamburg, ISBN 3-4980-42521
- Kenneth Ring: Den Tod erfahren - das Leben gewinnen. 2. Auflage. Scherz-Verlag, München 1986, ISBN 350213619
- Elisabeth Kübler-Ross: Geborgen im Leben: Wege zu einem erfüllten Dasein. Droemer Knaur, München 2003, ISBN 342677593X
- Johann-Cristoph Student (Hrsg.): Sterben, Tod und Trauer – Handbuch für Begleitende. 2. Auflage. Herder, Freiburg im Breisgau 2006, ISBN 3451283433
- Evelyn Elsaesser-Valarino: Erfahrungen an der Schwelle des Todes. Wissenschaftler äußern sich zur Nahtodeserfahrung. Ariston Verlag, Genf/München 1995, ISBN 3720518892
- Joachim Faulstich: Das Innere Land. Bewusstseinsreisen zwischen Leben und Tod, Knaur-Verlag, März 2006, ISBN 3426872749
- Wissenschaftliche Literaturliste zu Nahtodes-Erfahrungen, außerkörperlichen Erfahrungen und Reinkarnations-Berichten erstellt von der Gesellschaft für Anomalistik e.V.
Quellen
</references>
Weblinks
- Berichte, Literatur, allgemeine Informationen und Links zum Thema Sterbeforschung.net
- Berichte, Literatur und Links zum Thema Nahtod.de
- Thema »Tod und Sterben« TV-Stream Interview im ZDF bei Johannes B. Kerner
- Interview mit dem Kardiologen Pim van Lommel, NL zu seiner prospektiven Nahtodesstudie und seiner Publikation in der med. Fachzeitschrift THE LANCET
- Telepolis: Auf wissenschaftlicher Spurensuche nach dem Jenseits Interview mit Dr. Michael Schröter-Kunhardt der Forschungsgruppe IANDS
- Grenzerfahrung auf dem Operationstisch Telepolis-Artikel aus der skeptischen Sicht eines Anästhesisten
- Informationen zur ARD/arte-Dokumentation über Nahtod-Erfahrungen allgemein und dem Pam-Reynolds-Fall im Speziellen
- IANDS Deutschland Netzwerk Nahtoderfahrung. e.V.
- Nahtodforschung und NTEs SpiritualWiki
- Liste wissenschaftlicher Studien zum Thema Gesellschaft für Anomalistik e.V.
Weblinks (englisch)
- Informationen zum Fall der hirntoten Pam Reynolds
- Hunderte von Berichten zu Nahtod-Erfahrungen
- Berichte und Auswertungen von NTEs
- ↑ Für die Untersuchungen sieh http://www.powells.com/cgi-bin/biblio?isbn=0892819278
- ↑ http://www.neurotransmitter.net/neardeath.html