Schwach koordinierende Ionen
Als schwach koordinierende Ionen bezeichnet man in der Chemie Ionen, die nur sehr schwache Wechselwirkungen mit anderen Molekülen oder Ionen eingehen. Diese Wechselwirkungen beziehen sich vor Allem auf die Bildung von koordinativen Bindungen. Während solche, auch als frei oder nackt bezeichnete Ionen in der Gasphase seit langem bekannt sind, werden zunehmend auch Verbindungen hergestellt, die vergleichbare Eigenschaften in Lösung oder im Festkörper aufweisen.
Für die Wissenschaft sind schwach koordinierende Ionen von zunehmender Bedeutung, da sie die Untersuchung von hochreaktiven Verbindungen mit einer Vielzahl von physikalischen und chemischen Methoden ermöglichen, die in der Gasphase nicht angewendet werden können.
Praktische Anwendungsgebiete von schwach koordinierenden Ionen sind beispielsweise die Herstellung von neuartigen Katalysatoren in der koordinativen Polymerisation, die Entwicklung von Ionischen Flüssigkeiten als Lösungsmittel für chemische Reaktionen oder die Anwendung in der Elektrochemie.
Grundlagen
Koordination
- siehe auch: Komplexchemie

Unter einer koordinativen Bindung versteht man im Allgemeinen eine chemische Bindung, bei der die Bindungselektronen nur von einem Bindungspartner bereitgestellt werden. Die bekanntesten Vertreter dieser Verbindungen sind ionische Komplexe. Dabei gruppieren sich mehrere negativ geladene Anionen um ein positiv geladenes Kation. Die Anionen nutzen ein freies Elektronenpaar, um als Ligand an das Kation, das Zentralatom, zu binden. Hierbei ist die Anzahl der umgebenden Ionen die Koordinationszahl und die räumliche Anordnung wird durch das Koordinationspolyeder dargestellt.
In festen Zustand sind Ionen in einem Ionengitter angeordnet. Dabei werden sowohl Kationen als auch Anionen von mehreren gegensätzlich geladenen Teilchen (den Gegenionen) umgeben.
Eine "schwache" Koordination bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die Bindungsenergie der koordinativen Bindung sehr gering ist. Da stets das Anion die Bindungselektronen beisteuert, ist die Koordinationsfähigkeit meist von der Beschaffenheit des Anions abhängig. Es ist allerdings (besonders in Festkörpern) auch möglich, die Stärke der Bindung durch die Eigenschaften des Kations zu beeinflussen.
freie Ionen in der Gasphase
- siehe auch: Ionisation
Im Vakuum erzeugte Ionen gelten aufgrund der großen räumlichen Abstände zu jeglichen weiteren Atomen als frei im Raum schwebende Ladungsträger. Sie werden häufig in einer Ionenquelle durch gezielten Beschuß mit Elektronen (Stoßionisation) oder Ladungsübertragung durch ein anderes ionisiertes Gas (chemische Ionisation) erzeugt und hauptsächlich massenspektrometrisch untersucht.
In der Lebensmittelindustrie beispielsweise wird ionisierte Luft zur Pasteurisierung von Getränken verwendet. Hierbei wird die hohe Reaktivität der Ionen ausgenutzt. Dieser Umstand zeigt jedoch, dass solche Ionen meist nur sehr kurze Lebensdauer haben und praktisch direkt nach ihrer Erzeugung zerfallen oder weiter reagieren. Dadurch ist es nicht möglich, längerwierige spektroskopische Untersuchungen (NMR, IR, Raman, UV/VIS) durchzuführen. Durch die Beschränkung auf die Gasphase sind auch Beugungsexpermiente wie Röntgenbeugung oder Neutronenstreuung unmöglich.
"freie" Ionen in Lösung und im Festkörper
Die Definition von flüssigen und festen Aggregatzuständen bedingt, dass Teilchen stets untereinander wechselwirken. Daher kann es in diesen Zuständen keine "freien" Ionen geben.
Einfluß des Lösungsmittels

In Lösungen werden Ionen durch das Lösungsmittel umgeben und solvatisiert. Das Lösungsmittel wirkt dabei als Dielektrikum (Isolator), indem es sich umgekehrt zur Ladung des Ions anordnet und so das elektrische Feld um das Ion abschwächt. Das Maß für diese Abschwächung ist die Polarität des Lösungsmittels, die sich durch seine Dielektrizitätskonstante (εr) ausdrückt.
In einem stark polaren Lösungsmittel wie etwa Wasser (εr = 80) zeigen gelöste Ionen kaum Wechselwirkung untereinander. Die Wechselwirkungen mit dem Lösungsmittel sind jedoch um so stärker, was sich am Beispiel von Lithium-Ionen veranschaulichen läßt: Aufgrund seiner großen Hydrathülle zeigt Li+ eine wesentlich geringere Beweglichkeit als das viel größere Natrium oder Kalium.
Beim Übergang zu unpolaren Lösungsmitteln wie Dichlormethan (εr = 9) oder Diethylether (εr = 4,3) zeigt sich, dass viele Ionen stark aneinander koordinieren, was sich vor Allem darin ausdrückt, dass die meisten Salze in solchen Lösungsmitteln unlöslich sind: Sie bilden starke Bindungen in Form eines Kristallgitters aus.
Ionen im Festkörper
- siehe auch: Gitterenergie

Im Festkörper ist das Maß für die Stärke der Wechselwirkungen zwischen den Ionen die Gitterenergie. Je größer dabei der Abstand von entgegengesetzt geladenen Ionen ist, um so kleiner wird die Gitterenergie. Der Abstand ist dabei direkt proportional zum Volumen der beteiligten Ionen. Dies läßt sich anhand der folgenden Tabelle demonstrieren:
Name | Formel | Ionenradius der einwertigen Alkalimetall-Kationen X+ in pm |
Gitterenthalpie in kJ pro mol |
---|---|---|---|
Lithiumfluorid | LiF | 74 | 1039 |
Natriumfluorid | NaF | 102 | 920 |
Kaliumfluorid | KF | 138 | 816 |
Rubidiumfluorid | RbF | 149 | 780 |
Cäsiumfluorid | CsF | 170 | 749 |
Konzepte
Der Ansatz zur Entwicklung schwach koordinierender Ionen besteht darin eine geringe Ladung über ein möglichst großes Volumen zu verteilen. Dadurch wird die Gitterenergie im Festkörper (und damit die Wechselwirkung zwischen entegengesetzt geladenen Ionen) minimiert. Darüber hinaus muß das Ion eine geringe Polarisierbarkeit aufweisen, damit ein in der Nähe befindliches Gegenion oder Lösungsmittelteilchen keine Ladungsschwerpunkte erzeugen kann. Diese würden sonst widerum Dipol-Dipol-Kräfte bewirken und so zu einer Koordination führen.
Der leichte Polarisierbarkeit ist der Grund, warum große einatomige Ionen wie etwa Iodid oder Caesium nur begrenzt als schwach koordinierende Ionen wirken. Heutzutage konzentriert sich die Forschung daher auf die Herstellung von sehr großen einwertigen (einfach positiv oder negativ geladenen) Molekülen.
schwach koordinierende Anionen

Schwach koordinierenden Anionen (engl. weak coordinating anions, abk. WCA) werden hauptsächlich auf zwei unterschiedliche Herangehensweisen verwirklicht.
kovalent gebundene Gerüstanionen
Eine Möglichkeit ist der Aufbau eines vielatomigen, negativ geladenen Gerüsts, das eine möglichst kugelförmige Oberfläche besitzt, auf der die Ladung verteilt wird. Die Atome des Gerüsts werden durch starke kovalente Bindungen zusammengehalten.
Hauptvertreter dieser Klasse sind negativ geladene Carborane wie etwa [CB11H12]−. Durch die Substitution aller H-Atome konnte das noch stabilere Carborat [1-R-CB11F11]− (R = Me, Et) erhalten werden, das als bislang bestes schwach koordinierendes Anion gehandelt wird [1].
Stabile Lewis-Säure-Base-Komplexe

Die zweite Herangehensweise ist der Aufbau von besonders stabilen Komplexanionen aus starken Lewis-Säuren und Lewis-Basen. Aus einem Kation mit der Ladung X sowie X+1 negativ geladenen Liganden entsteht ein Komplex mit einer Gesamtladung von -1. Wichtig für die Stabilität des Komplexes ist eine starke koordinative Bindung der Liganden an das Zentralatom. Bislang werden hierfür hochgeladene Kationen wie B3+, Al3+, As5+, Sb5+, Nb5+, Y5+ oder La3+ eingesetzt.
Für die Ausbildung einer starken Bindung eignen sich als Liganden besonders Atome mit einer hohen Elektronegativität wie Fluor oder Sauerstoff. Anionen wie Tetrafluoroborat ([BF4]−), Chlorat ([ClO4]−) oder Hexafluoroantimonat ([SbF6]−) werden bereits vielfach in der Industrie verwendet. Es ist jedoch erwiesen dass auch solche Anionen in unpolaren Lösungsmitteln vergleichsweise stark an Kationen koordinieren. [2]
In der Forschung werden daher zunehmend Liganden eingesetzt, die über voluminöse Substituenten und eine chemisch inerte Oberfläche verfügen. Bedeutende Vertreter sind Alkyl- und Arylliganden wie das bekannte [BPh4]−(Kalignost). Von den entsprechenden Alkoholen abgeleitet ergeben sich die Alkoxi- und Alkyloxiliganden, die über den Sauerstoff an das Zentralatom gebunden sind. Um die Oberfläche der Ionen chemisch unangreifbar (inert) zu machen werden perfluorierte Varianten der Liganden eingesetzt (s. Fluorcarbone und Fluorkohlenwasserstoffe). So ist beispielsweise das mit perfluorierten tert-Butanolliganden gebildete Anion [Al[OC(CF3)3]4]− in seinen Eigenschaften vergleichbar mit dem bislang industriell häufig eingesetzten [SbF6]−.
schwach koordinierende Kationen
Thermodynamische Eigenschaften
Durch Messungen und Berechnungen unter Zuhilfenahme des Born-Haber-Kreisprozesses ist es möglich, interessante thermodynamische Eigenschaften von Verbindungen mit großen und schwach koordinierenden Ionen zu bestimmen. Der Vergleich der Eigenschaften für unterschiedliche Ionen ist ein Maß für die Güte eines bestimmten Ions.
Pseudogasphasenbedingungen
Literatur
- Ingo Krossing, Ines Raabe: Nichtkoordinierende Anionen - Traum oder Wikrlichkeit?. In: Angewandte Chemie, 2004, 116, S. 2116-2142.
- Römpp Basislexikon Chemie, Georg Thieme Verlag Stuttgart, 1999 (Grundlagen und Definitionen)
Quellen
- ↑ D. Stastko, C.A. Reed, J. Am. Chem. Soc., 2002, 124, 1148
- ↑ W. Beck, K. H. Sünkel, Chemical Review, 1988, 88, 1405