Odyssee

Die Odyssee (altgriechisch Oδύσσεια, Odysseía) ist neben der Ilias das zweite dem griechischen Dichter Homer zugeschriebene Epos. Im späten 8. Jahrhundert v. Chr. niedergeschrieben, gehört die Odyssee zu den ältesten und einflussreichsten Werken der abendländischen Literatur. Sie schildert die Abenteuer des Königs Odysseus von Ithaka und seiner Gefährten auf der Heimkehr aus dem Trojanischen Krieg. In vielen Sprachen ist der Begriff „Odyssee“ zu einem Synonym für lange Irrfahrten geworden.
Der Inhalt der Odyssee
Mit der Anrufung der Muse beginnt die – nach Homers Ilias – älteste Dichtung der abendländischen Literatur:
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In der Übersetzung von Johann Heinrich Voss aus dem Jahr 1781 lauten die gesamten Eingangsverse der Odyssee so:
- Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes,
- Welcher so weit geirrt, nach der heiligen Troja Zerstörung,
- Vieler Menschen Städte gesehn und Sitte gelernt hat,
- Und auf dem Meere so viel unnennbare Leiden erduldet,
- Seine Seele zu retten und seiner Freunde Zurückkunft.
- Aber die Freunde rettet' er nicht, wie eifrig er strebte;
- Denn sie bereiteten selbst durch Missetat ihr Verderben:
- Toren! welche die Rinder des hohen Sonnenbeherrschers
- Schlachteten; siehe, der Gott nahm ihnen den Tag der Zurückkunft.
- Sage hievon auch uns ein weniges, Tochter Kronions.
In 12.200 solcher Hexameterverse, die in 24 Gesänge unterteilt sind, erzählt die Odyssee, wie der König der kleinen Insel Ithaka nach zehn Jahren Krieg weitere zehn Jahre umherirrt. Nach vielen Abenteuern kehrt er schließlich als Bettler unerkannt heim und findet sein Haus voller Fremder, die sein Eigentum aufzehren. Sie reden seiner Frau Penelope ein, er sei tot, und wollen sie zwingen, einen von ihnen zu heiraten. In einem letzten Abenteuer muss Odysseus den Kampf gegen diese Freier bestehen. Eine Parallelhandlung, die „Telemachie“, erzählt, wie sich Telemachos, der Sohn von Odysseus und Penelope, auf die Suche nach dem vermissten Vater macht.
Die 24 Gesänge

Um die Spannung stets aufrecht zu halten, bedient sich Homer einer sehr komplexen Erzählweise. Er arbeitet zum Beispiel mit Parallelhandlungen, Rückblenden, Einschüben, Perspektiv- und Erzählerwechseln. Die Handlung wird nicht chronologisch erzählt, sondern setzt kurz vor der Rückkehr Odysseus' nach Ithaka ein. Sie gliedert sich wie folgt:
Erster bis vierter Gesang
Der Rat der Götter beschließt, Odysseus die Heimkehr zu ermöglichen. Der Götterbote Hermes fordert die Nymphe Kalypso auf, Odysseus, den sie sieben Jahre lang auf ihrer Insel zurückgehalten hat, ziehen zu lassen. Unterdessen begibt sich die Göttin Athene in Odysseus Heimat Ithaka, wo seine Frau Penelope von zahlreichen Freiern bedrängt wird, einen von ihnen zu heiraten. In Gestalt des väterlichen Freundes Mentor überredet Athene Odysseus' Sohn Telemachos, sich auf die Suche nach dem vermissten Vater zu machen.
Fünfter bis achter Gesang
Auf einem selbstgebauten Floß verlässt Odysseus Kalypsos Insel Ogygia. Doch sein Widersacher, der Meeresgott Poseidon, erregt einen Sturm, in dem das Floß untergeht. Als Schiffbrüchiger rettet sich Odysseus mit letzter Kraft auf die Insel Scheria. In der Heimat der Phaiaken, einer Nachbarinsel Ithakas, wird er von der Königstochter Nausikaa gastfreundlich aufgenommen.
Neunter bis zwölfter Gesang
Im zentralen Teil des Epos erzählt Odysseus zwei Nächte hindurch im Haus des Phaiakenkönigs Alkinoos die Geschichte seiner Irrfahrten (siehe unten: Die Irrfahrten des Odysseus).
Dreizehnter bis sechzehnter Gesang
Nun werden die beiden Handlungsstränge, die „Telemachie“ und die eigentliche „Odyssee“ zusammengeführt. Odysseus kehrt mit Hilfe der Phäaken nach Ithaka heim, muss sich aber im Haus des treuen Sauhirten Eumaios verbergen, bis er den Kampf mit den Freiern wagen kann. Hier begegnet er auch dem von seiner erfolglosen Suche zurückgekehrten Telemachos.
Siebzehnter bis Zwanzigster Gesang
Zu seinem Schutz verleiht Athene Odysseus die Gestalt eines Bettlers. Als solcher kehrt er nach 20 Jahren in sein Haus zurück, wo ihn zunächst nur sein alter sterbender Hund Argos wiedererkennt, später dann auch die alte Magd Eurykleia. Insgeheim bereitet sich Odysseus auf den Kampf mit den Freiern vor.
Einundzwanzigster und zweiundzwanzigster Gesang
Bei einem Bogenkampf gibt sich Odysseus zu erkennen und tötet mit Hilfe von Telemachos und Eumaios die Freier sowie die Mägde und Knechte, die sich als untreu erwiesen haben.
Dreiundzwanzigster und vierundzwanzigster Gesang
Odysseus sieht nach 20 Jahren seine Frau Penelope wieder. Doch erst nachdem sie ihn mit einer List auf die Probe gestellt hat, erkennt sie in ihm den Gatten. Anschließend besucht Odysseus seinen alten Vater Laërtes. In der Unterwelt preisen Achilles und Agamemnon, Odysseus Mitkämpfer vor Troja, dessen siegreiche Heimkehr. Die Göttin Athene schlichtet den Streit zwischen Odysseus und den Verwandten der erschlagenen Freier.
Die Irrfahrten des Odysseus
Im Zentrum des Epos steht in den Gesängen 9 bis 12 Odysseus' eigene Schilderung seiner Abenteuer bis zu seiner Landung auf der Insel der Phaiaken. Dieser, eher märchenhafte Teil wird von vielen Forschern für das ursprüngliche Epos gehalten, das später um die einleitende Telemachie und die ausführliche Schilderung des Freiermords am Ende erweitert wurde.
Kikonen, Lotophagen und Kyklopen
Nachdem die Ithaker Troja auf zwölf Schiffen verlassen haben, überfallen Odysseus und seine Männer zunächst die mit den Trojanern verbündeten thrakischen Kikonen, werden von diesen aber vertrieben. Dann verschlägt ein Sturm ihre Schiffe weit über Kap Malea, die Südspitze der Peloponnes und die Insel Kythera hinaus ins Land der Lotophagen, der Lotosesser. Einige Männer kosten von der Frucht, die süchtig macht und sie ihre Vergangenheit und ihre Heimat vergessen lässt. Sie müssen daraufhin mit Gewalt auf die Schiffe gebracht werden.
Anschließend landen Odysseus und seine Gefährten auf einer Insel, die von je allein lebenden einäugigen Riesen bevölkert ist, den Kyklopen. Der Kyklop Polyphem sperrt sie in seiner Höhle ein und droht, sie nacheinander zu verspeisen. Odysseus stellt sich ihm listig als „Niemand“ vor (gr. Oυτις, transkribiert oudeís oder Outis; lat. Nemo). Dies ist zugleich ein Wortspiel, da oudeís auch ein Kosename Odysseus' ist. Es gelingt ihm, Polyphem betrunken zu machen und ihn dann mit einem glühenden Pfahl zu blenden. Als andere Kyklopen auf Polyphems Gebrüll hin herbeieilen, ruft dieser ihnen zu, „Niemand“ habe ihm etwas angetan, so dass sie wieder umkehren. Um seine Schafe auf die Weide zu lassen, muss Polyphem den Stein vor seiner Höhle weg wälzen. Indem sie sich am Bauchfell der Schafe festklammern, können Odysseus und seine Gefährten entkommen. Als Polyphem ihre Flucht bemerkt, schleudert er Felsen in die Richtung, in der er die Schiffe vermutet, verfehlt sie aber. Hochmütig enthüllt Odysseus Polyphem seinen wahren Namen. In seinem Zorn bittet dieser seinen Vater Poseidon, Odysseus auf dem Meer umkommen zu lassen oder seine Heimkehr zu verhindern.
Aiolos, Laistrygonen, Kirke und Hades
Der Windgott Aiolos, dessen Insel er als nächste anläuft, schenkt Odysseus einen Lederschlauch, in dem alle Winde eingesperrt sind, bis auf den, der seine Schiffe sicher nach Ithaka treiben soll. Doch als Odysseus' ahnungslose Gefährten kurz vor dem Ziel den Schlauch aus Neugier öffnen, entweichen alle Winde und ihre Schiffe werden zur Insel des Aiolos zurückgetrieben. Dieser verweigert daraufhin jede weitere Hilfe.
Als nächstes gelangen Odysseus und seine Leute zu den Laistrygonen, einem menschenfressenden Riesenvolk, das elf ihrer zwölf Schiffe vernichtet. Mit seinem letzten Schiff kommt Odysseus zur Insel Aiaia, wo die Zauberin Kirke (auch: „Circe“ oder „Zirze“) einige seiner Gefährten in Schweine verwandelt. Ihm selbst gelingt es mit Hilfe des Götterboten Hermes, dem Zauber zu entgehen und seine Gefährten zu befreien. Schließlich gewinnt er sogar Kirkes Liebe, die ihn überzeugen will, für immer bei ihr zu bleiben. Die betreffende Zeile ist ein Beispiel für Homers kunstvolle Wortmusik. Indem er sich des Stilmittels der Onomatopöie, der Lautmalerei, bedient und zahlreiche Vokale und Diphthonge einsetzt, zeigt er schon allein durch den Wortklang, wie Kirke Odysseus bezirzt:
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- (ímmer jedóch mit weíchen schmeíchelnden Wörtchen ...
- bezaubert sie)
Trotz Kirkes Liebeswerben beschließt Odysseus nach einem Jahr, die Heimreise fortzusetzen. Die Zauberin rät ihm, zuvor den toten Seher Teiresias im Hades, der griechischen Unterwelt, nach seinem weiteren Schicksal zu befragen.
Im Hades trifft er auch seine inzwischen verstorbene Mutter, Mitkämpfer aus dem Trojanischen Krieg und seinen verunglückten Gefährten Elpenor, den er glaubte, gesund bei Kirke zurück gelassen zu haben. Der Seher Teiresias gibt ihm Ratschläge für die Weiterfahrt.
Seeungeheuer, Helios' Rinder, Kalypso
Nach dem Besuch in der Schattenwelt segelt Odysseus zunächst an der von Klippen umgebenen Insel der Sirenen vorüber. Mit ihren betörenden Gesängen locken die Sirenen alle Schiffe in Hörweite ins Verderben. Um diese Gesänge dennoch hören zu können, lässt sich Odysseus an den Mast fesseln, während seine Gefährten sich die Ohren mit Wachs verschließen müssen. Anschließend passieren sie mit knapper Not die Meerenge, an deren Rändern zwei Seeungeheuer drohen: die sechsköpfige, menschenverschlingende Skylla und die Charybdis, die einen Strudel verursacht, in dem ganze Schiffe versinken. Dazu segeln sie in möglichst großer Entfernung von Charybdis nahe an Skylla vorbei, die sechs von Odysseus Gefährten verschlingt.

Ermattet und ausgehungert erreichen sie die Insel des Sonnengottes Helios. Trotz Odysseus' Warnung schlachten die Gefährten dessen heilige Rinder. Zur Strafe kommen sie nach ihrer Abreise allesamt in einen Sturm um. Nur Odysseus kann sich auf die Insel Ogygia der Nymphe Kalypso retten. Diese hält Odysseus sieben Jahre auf ihrer Insel fest und lässt ihn erst auf Geheiß der Götter wieder ziehen. Er baut ein Floß und gelangt trotz eines Sturms, den Poseidon entfacht, nach Scheria, der Insel der Phaiaken, wo die Königstochter Nausikaa ihn nackt am Strand findet.
An zwei aufeinanderfolgenden Abenden erzählt Odysseus den Phaiaken und ihrem König Alkinoos seine Geschichte. Anschließend beschenken sie ihn reich und bringen ihn heim nach Ithaka.
Die Homerische Frage
Die Frage nach Entstehung, Autorenschaft und realen Hintergründen der Odyssee beschäftigt die altphilologische Forschung seit zwei Jahrhunderten.
Entstehung des Großepos
Da die Handlung der Odyssee unmittelbar an die Ilias anschließt, könnten erste mündliche Fassungen des Epos bereits kurz nach den kriegerischen Ereignissen am Ende der Bronzezeit (um 1150 v. Chr.) entstanden sein, die den realen Hintergrund zum Sagenkreis um den Trojanischen Krieg bilden. Mit Sicherheit wurden verschiedene Urfassungen der Odyssee jahrhundertelang durch Sänger, so genannte Rhapsoden, mündlich überliefert und dabei immer wieder verändert. Der metrische Rhythmus der Verse diente dem vortragenden Sänger als Gedächtnisstütze.

In der Forschung wird heute allgemein angenommen, dass verschiedene Kurzepen zur Odyssee dichterisch zusammengefasst wurden. Ursprünglich dürften mindestens zwei verschiedene Geschichten existiert haben: zum einen die des Troja-Heimkehrers Odysseus, der die Freier tötet, welche die Zeit seiner Abwesenheit ausgenutzt haben; zum anderen die abenteuerlichen Seefahrergeschichten, die ihrerseits aus verschiedenen Quellen stammen und erst später Odysseus zugeschrieben wurden. In einer vor-homerischen Urfassung schilderte die Odyssee vermutlich in einfacher zeitlicher Abfolge die Irrfahrten des Helden, seine Heimkehr und den Freiermord.
Die Niederschrift der Odyssee, auf welche die heute bekannte Form des Epos zurück geht, erfolgte nach weitgehender aber nicht unumstrittener Forschungsmeinung um 720 v. Chr. Erst dabei könnte der dritte Handlungsstrang hinzugefügt worden sein: die einführenden Gesänge der Telemachie, die Geschichte von der Suche des Telemachos nach seinem Vater. Sie diente dem Zweck, die Spannung zu erhöhen und - durch die Schilderung der Zustände auf Ithaka – Odysseus’ spätere Rache an den Freiern als gerechtfertigt hinzustellen.
Die Frage des Autors
Mit der Veröffentlichung des Werks Prolegomena ad Homerum des Hallenser Altphilologen Friedrich August Wolf im Jahr 1795 setzt die moderne Homer-Forschung ein. Die so genannten Homerischen Fragen, die sich seither stellen, sind bis heute nicht zufriedenstellend beantwortet worden: Hat Homer dem gesamten Epos seine heutige Form gegeben oder bereits Vorhandenes lediglich redigiert? Hat er nur die Telemachie hinzugefügt? Ist er überhaupt der Dichter der Odyssee gewesen?
Einige Forscher weisen auf den zeitlichen Abstand zwischen der um 750 v. Chr. entstandenen Ilias und der Odyssee hin sowie auf die inhaltlichen Diskrepanzen – hier Kriegsepos mit realistischem Hintergrund, dort märchenhafte Abenteuer – um zu begründen, warum Homer nicht gleichzeitig der Autor beider Werke gewesen sein kann. Andere halten es auf Grund der stilistischen Ähnlichkeiten zwischen beiden Epen durchaus für möglich, dass die Odyssee ein Alterswerk des Ilias-Dichters ist.
Fest steht nur, dass der Odyssee-Dichter sich stilistisch eng an der Ilias orientiert und viele ihrer Formulierungen übernommen hat, so dass er zumindest dem Umfeld Homers zuzuordnen ist. Auch Forscher, die Ilias und Odyssee für Werke zweier verschiedener Autoren halten, bezeichnen beide als "homerische Epen".
Goethe spottete schon 1795 über die Versuche, Ilias und Odyssee textkritisch zu zergliedern:
- "Die Idee mag gut sein, und die Bemühung ist respektabel, wenn nur nicht diese Herren, um ihre schwachen Flanken zu decken, gelegentlich die fruchtbarsten Gärten des ästhetischen Reichs verwüsten und in leidige Verschanzungen verwandeln müssten. Am Ende ist mehr Subjektives, als man denkt, in diesem ganzen Krame."
Lokalisierungsversuche
Seit Heinrich Schliemanns Ausgrabungen in Troja gilt als erwiesen, dass die Ilias einen realen Hintergrund hatte, auch wenn es in der Forschung weiterhin Diskussionen um Troja gibt. Alle Versuche, auch der Odyssee reale Schauplätze zuzuweisen, waren dagegen stets umstritten, da ihr Stoff über weite Passagen märchenhafte Züge trägt. Aus diesem Grund hat sich schon im 3. Jahrhundert v. Chr. der Geograph Eratosthenes über Versuche einer exakten Lokalisierung einzelner Schauplätze lustig gemacht. Andere Gelehrte, wie Herodot, haben es dennoch versucht. Außer bei wenigen Textstellen, in denen der Dichter tatsächlich existierende Landschaften und Orte nennt - zum Beispiel Thrakien, Kap Malea, Kythera, Ithaka - blieben solche Versuche aber stets Spekulation.
So wurde schon in der Antike die Tunesien vorgelagerte Insel Djerba mit dem Land der Lotosesser identifiziert. Sizilien sollte sowohl die Heimat der Kyklopen als auch die Insel Thrinakia des Sonnengottes Helios gewesen sein. Ustica, eine Insel nördlich Siziliens, wurde dem Windgott Aiolos zugeordnet. Die Seeungeheuer Skylla und Charybdis hätten demnach an der Meerenge von Messina und die Laistrygonen an der Südspitze Korsikas gehaust. In der maltesischen Insel Gozo wollten manche Gelehrte das Ogygia der Nymphe Kalypso erkennen. Ein Vorgebirge bei Neapel trägt bis heute den Namen Kap Circeo, aber welche der vorgelagerten Inseln diejenige der Zauberin Kirke gewesen sein soll, ist ebenso umstritten wie alles andere.
In jüngster Zeit vermuten einige Forscher, der Dichter habe die Reise des Odysseus in seine eigene Gegenwart übertragen und als Umschiffung Süditaliens geschildert, das zu seiner Lebenszeit gerade von griechischen Kolonisten besiedelt wurde.
Zur Textüberlieferung
Die Überlieferung des Texts, so wie ihn der Dichter der Odyssee Ende des 8. Jahrhunderts v. Chr. abgefasst hat, ist schon für die Antike nicht ganz sicher. Von der Odyssee wie von der Ilias dürften schon kurz nach der Niederschrift viele von einander abweichende Kopien im Umlauf gewesen sein. Die hohe Wertschätzung, die den homerischen Texten schon früh zuteil wurde, führte aber dazu, dass immer wieder textkritische Rekonstruktionen der Urfassung angefertigt wurden; im Athen des Tyrannen Peisistratos Ende des 6. Jahrhunderts v. Chr. geschah dies sogar auf Staatskosten. Bis in frühhellenistische Zeit weisen Papyri jedoch voneinander und von der Athener Version abweichende Textfassungen auf.
Dies änderte sich erst nach der Gründung der Bibliothek von Alexandria durch Ptolemaios I. Soter im Jahr 288 v. Chr. Die Gelehrten Zenodot von Ephesus, Aristophanes von Byzanz und vor allem Aristarchos von Samothrake, der sechste Vorsteher der Bibliothek, erstellten durch Vergleiche und textkritische Methoden, wie sie noch heute angewandt werden, kanonische Fassungen beider Epen, die wahrscheinlich den Athener Versionen entsprachen. Zwar gingen im Laufe der Jahrtausende auch die Schriften der drei Bibliotheksvorsteher weitgehend verloren. Doch gehen die Abschriften beider Epen bis zum Ende der Antike und ihre heutige Textgestalt mit einiger Sicherheit auf deren Arbeiten zurück.
Dies hat vor allem mit der bereits erwähnten Verehrung Homers in der gesamten antiken Welt zu tun. Odyssee und Ilias gehörten zum Kern des antiken Bildungskanons, und seit der Tätigkeit der alexandrinischen Bibliothekare wurde auf eine getreue Weitergabe der Texte geachtet. Komplette Abschriften beider Werke aus der Antike sind allerdings nicht erhalten. Zu den ältesten Textzeugnissen gehören der Londoner Homer-Papyrus aus der ersten Hälfte des 2. sowie der Berliner Homer-Papyrus aus dem 3. Jahrhundert.
Die älteste erhaltene Handschrift des ganzen Homer wurde im Konstantinopel des 12. Jahrhunderts angefertigt. Inkunabeln, Erstdrucke, der Odyssee stammen aus dem 15. Jahrhundert. Zwischen der ersten schriftlichen Fixierung der homerischen Epen und ihrer ältesten bis heute erhaltenen, vollständigen Abschrift liegen also 2000 Jahre. Dennoch geht die Forschung davon aus, dass die heutigen Fassungen dank der Vorarbeit der antiken Gelehrten im wesentlichen den Texten des 8. Jahrhunderts v. Chr. entspricht.
Nachwirkungen
Die Odyssee ist nicht nur eines der ältesten, sondern auch eines der meist bearbeiteten Werke der abendländischen Literatur- und Kulturgeschichte. Sowohl der Stoff - phantastische Irrfahrten und Abenteuer - als auch der Held - der listenreiche aber einsame Dulder, der nach langen Jahren heimkehrt und seine vertraute Welt nicht wiederfindet - sind in literarischen, dramatischen oder musikalischen Werken, bis hin zum modernen Film, immer wieder aufgegriffen worden.
Der Philosoph Theodor W. Adorno sah in Odysseus den ersten modernen Menschentyp in der Literaturgeschichte: Er sei der erste Charakter, der sich nicht den Göttern und dem Schicksal ergebe, sondern - manchmal unter Leugnung seiner Identität - erfolgreich gegen beide ankämpfe und damit zum Herrscher über sein eigenes Geschick werde. Die Leugnung der Identität ist laut Adorno insofern revolutionär, als damit erstmals der schamanistische, identitätsstiftende Charakter des eigenen Namens überwunden werde. Der moderne Mensch müsse wie Odysseus fähig sein, seine Identität aufzugeben, um sie zu erhalten.
Literarische Bearbeitungen
Die Reihe der Werke, die sich von der Odyssee inspirieren ließen, beginnt schon in der Antike. Der römische Dichter Vergil - zuweilen als "zweiter Homer" bezeichnet - nahm sie sich zum Vorbild, als er das römische Nationalepos, die Aeneis, schuf. Er schildert darin das Schicksal des trojanischen Helden Aeneas, den es nach der Zerstörung der Stadt ebenfalls in aller Herren Länder verschlägt, bevor er sich in Italien niederlässt und zum mythischen Stammvater der Römer wird.
Einflüsse der Odyssee sind auch in den arabischen Märchen von Sindbad dem Seefahrer erkennbar.
Die Gestalt des Odysseus wurde von vielen Dichtern als Urbi