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Wolf von Baudissin

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Wolf Stefan Traugott Graf von Baudissin (* 8. Mai 1907 in Trier; † 5. Juni 1993 in Hamburg) war Militär- und Friedensforscher und verheiratet mit der Bildhauerin Dagmar Burggräfin und Gräfin zu Dohna-Schlodien. Er war maßgeblich am Aufbau der Inneren Führung und der Neuausrichtung der Streitkräfte am kritischen Staatsbürger beteiligt.

In Berlin studierte er Rechtswissenschaften, Geschichte und Nationalökonomie.

Im 2. Weltkrieg diente er auf Wunsch von Feldmarschall Erwin Rommel als Hauptmann i. G. im Afrikakorps und kam dort 1941 (bis 1947) in britisch-australische Gefangenschaft. Beförderung zum Major in absentia. Im Kriegsgefangenenlager Durringhile (Victoria, Australien) hatte er die Idee der so genannten „Kriegsgefangenenuniversität“. Dort unterrichteten die fachkundigen deutschen Kriegsgefangenen ihre Kameraden in Fächern wie Strategie, aber bereiteten sie auch auf ein Leben nach dem Krieg vor.

Im Oktober 1950 arbeitete Baudissin an der geheimen „Himmeroder Denkschrift“ mit. 1955 bis 1967 baute er als Oberst die Bundeswehr mit auf und war zuletzt als Generalleutnant in der Führungsebene bei der NATO in Frankreich und Belgien (SHAPE) tätig.

Seit 1967 Ruheständler, unterstützte Baudissin 1972 öffentlich den Wahlkampf von Willy Brandt (SPD).

Von 1971 bis 1984 Gründungsdirektor des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg. 1979 Ernennung zum Professor.

1980 bis 1986 Dozent für Sozialwissenschaften an der Universität der Bundeswehr in Hamburg.

Baudissin war Mitglied der 1981 im Rahmen der Friedensbewegung gegründeten Gruppe Generale für den Frieden, die sich später als vom Ministerium für Staatssicherheit (MfS) gesteuert herausstellte.


Zum "Programm" von Baudissin

Konservative Militaers haben Baudissin immer vorgeworfen, weltfremd zu sein und "nicht an der Ostfront gedient zu haben". Baudissin war tatsaechlich seit 1941 als Gefangener der Englaender bei Sydney interniert. In einer Studentenzeitung erschien er 1961 als "Graf Hautnichin". Damals waren der "Staatsbürger in Uniform" und die "Innere Führung" schon allbekannte Schlagwoerter, aber die Widerstaende gegen das neue Konzept waren noch grohss. Vgl. den Wiki-Artikel zur Geschichte der Bundeswehr

Um zu verstehen, was Baudissin wollte, muss man ihn im Zusammenhang mit Immanuel Kant, Karl Freiherr vom Stein, und Carl von Clausewitz sehen. Kant ermutigte als Aufklaerer die Menschen zum Gebrauch des eigenen Verstandes gegen Vormuender aller Art ("Was ist Aufklarung?" 1784)[1]. Stein forderte den fuer "seinen" Staat verantwortlich mitdenkenden Staatsbuerger anstelle des nur gehorsamen Untertans. Es passt dazu, dass Baudissin 1965 zusammmen mit seinen wichtigsten Mitstreitern, den Generalen Johann Adolf Graf von Kielmannsegg und Ulrich de Maiziere der "Freiherr vom Stein Preis" verliehen wurde. Clausewitz unterstellte das Militaer absolut der Politik, so dass eine Armee als Staat im Staate abzulehnen war. Baudissin machte die preussische Armeefuehrung fuer die Machtuebernahme der Nazis mitverantwortlich, weil die Armee ueberwiegend a-politisch oder auch autoritaer antidemokratisch gestimmt war und sich ausserhalb des Staates der Weimarer Republik verstand. Baudissin war daher bei Generalen wie Jorge Rafael Videla in Argentinien oder Augusto Pinochet in Chile und bei anderen "Caudillos" verhasst, deren Vorbild Francisco Franco war. Dagegen war in den USA das Prinzip des absoluten Vorranges der Zivilfuehrung immer anerkannt. Dass die USA eine Berufsarmee haben, widerspricht dem nicht, denn der Treueid pledge of allegiance verpflichtet alle Buerger der USA zum Wehrdienst, sofern sie dazu aufgefordert werden. Insofern gilt in den USA das Konzept vom Staatsbürger in Uniform seit dem Unabhaengigkeitskrieg von 1775. Besonders anschaulich ist dieses Konzept in der Verfassung der Schweiz verwirklicht, wo jeder Bürger seine Uniform und sein Gewehr im Schrank hat.

Baudissin war gegen eine Berufsarmee, weil diese wieder aus dem politischen Gemeinwesen aller Staatsbürger herausgelöst ist, also nicht zur Idee vom Staatsbürger in Uniform passt. Er hätte aber wohl akzeptiert, dass man heute Europa auch "am Hindukush" verteidigt, sofern das Parlament dies als Aufgabe sieht. Die Bindung an das zivile Parlament wäre dabei wichtig gewesen. Das wäre auch die Sicht der USA oder der Schweiz.

Baudissin galt wegen seiner offenen Unterstuetzung fuer Willy Brandt 1969 als "links", was er aber nicht mehr war als etwa Helmut Schmidt, dessen Nachruestungsplaene 1982 er unterstuetzte (>NATO-Doppelbeschluss). Mit der linken und studentischen Friedensbewegung der 1960er Jahre und danach hatte Baudissin nichts im Sinne. Ueber Leute wie Franz Alt oder Luise Rinser schuettelte er nur den Kopf. Als "Friedensbewegter" wird niemand Leiter des NATO Defence College in Paris (seit 1966 in Rom) oder drei-Sterne-General im NATO-Hauptquartier SHAPE Supreme Headquarters Allied Powers Europe (seit 1966 bei Brüssel, vorher bei Paris). Seinem eigenen Denkstil entsprachen vielmehr Henry Kissinger, Richard Nixon, Robert McNamara und Herman Kahn, die er kannte und (mit genauen Einschraenkungen) schaetzte. Sie alle waren bei der Linken verhasst. Aber sie waren rational. Und die Leute vergleichbaren Ranges, mit denen er in der UdSSR oder in China und Japan und auf den Treffen der Pugwash-Conference sprach, dachten ja ebenso. Das waren Expertengespraeche, die zwar viel mit Rüstungskontrolle, aber nichts mit der Friedensbewegung zu tun hatten. Das ist kein Widerspruch, denn der Gedanke dahinter war, dass man einander ernst nehmen muss. "Frieden" ist eine verschwommene Vorstellung, aber Abruestung, "vertrauensbildende Maßnahmen" und Vertraege sind etwas Greifbares. Baudissin war daher auch kaum ueberrascht, als Michail Gorbatschow und Ronald Reagan auf Grund eines ähnlichen Denkstils bei den SALT II und START I Verhandlungen gut zusammenarbeiteten. Da war die gleiche nuechterne Sachlichkeit am Werke, die Baudissin selbst schaetzte.

Dabei war Baudissin zugleich sehr kritisch gegen blohsse Technokraten. Es waren diese Technokraten auf beiden Seiten der Fronten des Kalten Krieges, die er fuerchtete. Seine Vermutung war, dass die Aufruestung der UdSSR, die dann Anlass fuer die Nachruestung im Westen wurde, mehr eine Folge von Gedankenlosigkeit als von boeser Absicht war. Da hatten irgendwelche Militaers in der UdSSR nur ein paar Raketen modernisieren wollen und dabei nicht bedacht, dass der Westen sich bedroht fuehlen musste. Das war eine aehnliche Situation wie in der Kuba-Krise von 1962. "Empathie", sich in den Gegner hineindenken und seine Befuerchtungen verstehen, darauf kam es an. Fuer diese Faehigkeit bewunderte Baudissin auch Nixon. Mangelndes Verstaendnis fuer die berechtigten Aengste der Gegenseite und damit ein unnoetiges Aufschaukeln der wechselseitigen Bedrohungspotentiale und dumme Kraftmeierei war sein Hauptvorwurf gegen viele Generale und Politiker auf beiden Seiten. Daher lehnte er auch die von Ronald Reagan eingeleitete Strategic Defense Initiative als unnoetig ab. Wer sich unangreifbar macht, wird auch dadurch zu einer Bedrohung fuer den Gegner. Mit "Friedensbewegtheit" hatte das alles aber nicht zu tun.

Zeitweilig war Baudissin Mitherausgeber einer Zeitschrift fuer Gruppendynamik. Das erklaerte sich aus dem Interesse fuer die Soziologie von Bomberbesatzungen und Fuehrungsstaeben ebenso wie fuer die von Kompanien und Spezialkommandos. Von diesem Sinn fuer das Technische und Praktische ist auch das Konzept des Staatsbuergers in Uniform deutlich bestimmt. Moderne Kampfgruppen sind auf die gute Zusammenarbeit hochspezialisierter Techniker angewiesen, die oft mehr Sachverstand haben als die Gruppenleiter. Statt nur zu kommandieren muss ein solcher koordinieren, ueberzeugen und führen können. Das war immer ein Hauptargument für die "Innere Führung" neben der Loyalitaet für den zivilen Staat.

Baudissin lehnte es ab, als "links" eingeordnet zu werden. Dass er sich fuer die SPD einsetzte, hatte einen ganz einfachen Grund : Alle Buerger eines Staates sollten sich im Sinne des Freiherrn vom Stein fuer "ihren" Staat mitverantwortlich fuehlen, und es ging daher einfach nicht an, dass die Adenauer-CDU sich anmahsste, die eine Haelfte der Bevölkerung fuer politisch unmündig zu erklären. Aus diesem Grunde trat er 1966 demonstrativ der Gewerkschaft ÖTV bei, als einige Soldaten wegen ihrer Zugehörigkeit zu dieser Gewerkschaft relegiert werden sollten. Das war nur folgerichtig : Wenn es mit der Rolle des Staatsbuergers in Zivil vereinbar ist, einer Gewerkschaft anzugehoeren, dann ist es (jedenfalls im Grundsatz) automatisch auch mit der Rolle eines Staatsbuergers in Uniform vereinbar. Es gibt in der Bundeswehr nur wenige und genau festgelegte Ausnahmen von dieser Regel. Entsprechendes galt fuer die Mitgliedschaft eines Generals in der SPD, der er daher 1968 beitrat, um sie fuer einige unsichere Konservative wählbarer zu machen. Hier kam hinzu, dass er der SPD hoch anrechnete, sich dem Ermächtigungsgesetz Hitlers 1933 verweigert zu haben. Um die Einbindung des Militaers in die Demokratie zu betonen, wurde schon frueh (1956) ein Wehrbeauftragter als Vermittler zwischen dem zivilen Staat und der Armee eingeführt.

Baudissin war zwar glaeubiger Lutheraner und als solcher mit dem gleichaltrigen lutherischen Militärbischof Hermann Kunst auch persönlich befreundet, aber das ist ein Nebenaspekt, in dem die lutherische Achtung fuer den Staat als einer Friedensordnung zum Ausdruck kommt. Zentral fuer Baudissins politisches Denken war das Luthertum nicht, und die Achtung anders Denkender verstand sich fuer ihn von selbst. Sein Trauspruch fuer die Ehe mit Dagmar Graefin zu Dohna drueckt aber einen wichtigen Grundgedanken seines Lebens aus : "Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit" (2.Kor.3,17). Luthers Sendbrief von 1520 ueber die Freiheit eines Christenmenschen [2] stand ihm vor Augen, aber auch die Bedeutung von Augustinus.

Die Aufkleber "links, friedensbewegt, lutherisch" passen alle nicht zu Baudissin. Statt derer sollte man bei Baudissin an Kant, Stein, und Clausewitz denken. Klarheit im Denken und Handeln war sein Stil. Menschen wie George F. Kennan, Marion Gräfin Dönhoff und Gerd Bucerius, Kurt Sontheimer und Helmuth Plessner, Fritz Stern, Hannah Arendt und Manes Sperber, Richard und Carl-Friedrich von Weizsäcker, Helmut Schmidt, Carlo Schmid und Fritz Erler, dessen zu fruehen Tod er oft beklagte - solche Leute entsprachen seinem Denken, nicht linke oder lutherische Gestimmtheiten.

Baudissin war allgemein stark historisch-politisch interessiert, wurde aber durch seine Frau, die Bildhauerin, auch sehr vertraut mit der kuenstlerischen und literarischen Szene der Nachkriegszeit, zumal in Frankreich. Kuenstler wie Georges Braque, Picasso, Max Ernst, oder Henri Matisse waren wichtig, und natuerlich viele moderne Bildhauer. Viel bedeutete beiden Baudissins die moderne Architektur in ihren herausragenden Werken, etwa von Mies van der Rohe, Le Corbusier, oder Frank Lloyd Wright. Dagegen hatte Musik fuer sie keine grohsse Bedeutung, wobei er besonders J.S.Bach schaetzte und Wagner nicht mochte. Auch hier also wieder der Vorrang von geistiger Klarheit vor dunkel wogendem Pathos.


Ehrungen

  • 1965 Verleihung des "Freiherr vom Stein Preises" der Koerber-Stiftung zusammen mit den Generalen Graf von Kielmannsegg und Ulrich de Maiziere
  • 1967 bekam er den Theodor-Heuss-Preis und das Große Bundesverdienstkreuz mit Stern und Schulterband verliehen
  • Am 19. April 1994 wurde der Aula des Hörsaalgebäudes des Zentrums für Innere Führung der Bundeswehr in Koblenz der Name „Forum Wolf Graf v. Baudissin“ verliehen.
  • Am 7. Juni 1994 wurde die „General-Schwartzkopff-Kaserne“ in Hamburg-Osdorf in „Generalleutnant-Graf-von-Baudissin-Kaserne“ umbenannt.

Literatur

  • Soldat für den Frieden. Entwurf für eine zeitgemäße Bundeswehr. Beiträge 1951-1969. Von Wolf Graf von Baudissin. 335 Seiten, Piper Verlag GmbH, Neuauflage 1982 (EA 1969), ISBN: 3492017924
  • Nie wieder Sieg. Programmatische Schriften 1951-1981. Von Wolf Graf von Baudissin, herausgegeben von Cornelia Bührle und Claus von Rosen, 328 Seiten, Piper Verlag GmbH 1984, ISBN: 349200542X
  • ...als wären wir nie getrennt gewesen. Briefe von Wolf Graf von Baudissin und Dagmar Gräfin zu Dohna. Hg. E.Knoke, Bonn (Bouvier) 2001, ISBN 3416029879. Darin auch (S.258 ff) Baudissins Abschiedsrede 1986 im Hamburger Institut, die einen guten knappen Ueberblick ueber seine Problemsicht gibt. Ebenfalls dort eine kurze aber lebendige Darstellung des Familien- und gesellschaftlichen Hintergrundes von Baudissin und seiner Frau.