Geschichte Sierra Leones
Die Geschichte Sierra Leones ist die Geschichte des modernen Staates Sierra Leone und seiner kolonialen Vorläufer, also der britischen Kronkolonie und des Protektorats, aus denen dieser Staat entstanden ist sowie die vorkoloniale Geschichte der dort lebenden Völker. Da Keimzelle Sierra Leones eine Kolonie befreiter Sklaven aus drei Kontinenten war, spielt auch die Geschichte der Sklaverei und ihrer Abschaffung eine entscheidende Rolle in der Geschichte des Landes.
Frühe Besiedelungsgeschichte des Gebietes von Sierra Leone
Um 1000 n. Chr. war das spätere Staatsgebiet von Sierra Leone von den Vorfahren der heutigen Bullom bzw. Sherbro, den Limba und Loko besiedelt. Die größte heutige Ethnie Sierra Leones, die Temne, wanderten im 14. Jahrhundert hier ein. Im 15. Jahrhundert folgten die Mani, im 17. Jahrhundert schließlich die Mende und die Sussu.
Sierra Leone war damals wie heute überwiegend von Regenwald bedeckt. Es lag abseits der großen Handelsrouten, die bereits vor der Ankunft der Europäer durch Westafrika verliefen.
Traditionelle Machtstrukturen: Der Poro-Bund
Im Gegensatz zu der weiter nördlich gelegenen Sahelregion bestanden im Gebiet des heutigen Sierra Leone keine Großreiche. Parallel zu bestehenden staatlichen oder protostaatlichen Strukturen gab es hier aber über Jahrhunderte hinweg verschiedene religiös-politische Vereinigungen, die Macht über das Leben der Menschen in ebenso großem Maße ausübten, wie anderswo Könige und Häuptlinge. Die mächtigste dieser Vereinigungen war der Poro-Bund. Diesem Bund traten (außerhalb der islamischen Gebiete) sämtliche angesehenen erwachsenen Männer nach einer Phase der Unterrichtung in die Gesetze des Bundes und des Gemeinschaftslebens bei. Prinzipiell demokratisch strukturiert, wurden die höchsten Ränge des Bundes von wohlhabenden Männern und Häuptlingen eingenommen. Die Macht des Bundes erstreckte sich auf das Alltagsleben, aber auch auf politische und militärische Entscheidungen und die Kontrolle des Handels. Umstritten ist, wieweit der Bund auch ethnische Grenzen überschritt. Sicher ist, dass sofern staatliche Gebilde ethnische Grenzen überschritten, es auch der jeweilige Poro-Bund tat. Die Existenz dieses Bundes ist bei allen folgenden Ausführungen zur Geschichte insbesondere des Inlandes zu beachten, auch wenn seine Macht erst 1898 im sogenannten Mende-Temne-Krieg gegen die Kreolen in einer Art deutlich wurde, der den Bund als treibende Kraft in die Geschichtsbücher brachte.
Kontakte mit den Europäern und Einwanderungswellen aus dem Norden: 1440 – 1787
1440 erreichte der erste Europäer, der portugiesische Seefahrer Gil Eanes die Küste Sierra Leones. 1462 benannte der Portugiese Pedro de Cintra die Gegend „Serra Lyoa“, also „Löwenberge“, woraus in der spanischen Variante „Sierra Leone“ später der Name des heutigen Staates entstand. Es gibt unterschiedliche Hypothesen, wie er auf diese Bezeichnung gekommen ist. Löwen dürfte er dort wohl nicht gesehen haben. Nach einer Variante hat er in einem „derart wilden Land“ einfach Löwen vermutet, eine andere Variante besagt, dass die Form der Berge, die er dort sah ihn zu diesem Namen inspiriert haben. Die Portugiesen bemühten sich um die Bekehrung der Einheimischen zum Christentum, 1459 bereits schickten sie einen Priester an diese Küste, der hier wahrscheinlich die erste katholische Kirche Westafrikas südlich der Sahara errichtete. Im 16.und 17. Jahrhundert konkurrierten die portugiesischen Händler hier mit französischen, niederländischen, spanischen und britischen Händlern und Seeräubern verschiedener Nationen.
Seit 1562 der englische Sklavenhändler John Hawkins die ersten Sklaven von den einheimischen Temne erwarb, dominierten die Engländer, ab 1672 die British Royal African Company den Sklavenhandel an dieser Küste. Die Company errichtete befestigte Stützpunkte bzw. Faktoreien auf den küstennnahen Inseln Bunce und Sherbro, das wichtigste Fort war das 1640 auf der Insel Bunce Island geründete Fort Bunce, wichtigstes Handelsgut waren Sklaven. Gleichzeitig wanderten große Gruppen von Temne, Mani, Mende und Sussu in das Gebiet ein. Diese Wanderungsbewegungen verstärkten sich Anfang des 18. Jahrhunderts, als sich im nördlich gelegenen Gebiet des heutigen Guinea eine kriegerische und missionarische Form des Islam ausbreitete und das Reich Fouta Djallon entstand. Der Norden Sierra Leones wurde zunehmend islamisiert, während die missionarischen Bemühungen der Europäer an der Küste nur geringe Erfolge zeitigten. 1728 wurde Fort Bunce durch Jose Lopez da Moura, einen afroportugiesischen Sklavenhändler, überfallen und eingenommen. Bis Mitte der 40er Jahre des 18. Jahrhunderts blieb die Insel verlassen.
"Province of Freedom": 1787 - 1789

1786 hatten Granvillle Sharp und andere Abolitionisten in England eine Gesellschaft zur Abschaffung der Sklaverei gegründet und den Plan entwickelt, befreite Sklaven in einem afrikanischen Land anzusiedeln. Das gerade die Küste Sierra Leones von den Sklavereigegnern zu dieser "Provinz der Freiheit" auserwählt wurde, war das Ergebnis der Erzählungen eines englischen Insektenforschers namens Henry Smithman. Smithman hatte einige Jahre Ameisen an dieser Küste studiert und schilderte sie nun als überaus angenehmen Landstrich. Zur Ansiedlung auserwählt waren die aufgrund des sogenannten Somersetprozesses 1772 frei gelassenen Sklven auf der britischen Insel. In diesem Prozess war dem damaligen Sklaven James Somerset bestätigt worden, dass die Sklaverei in England auf keiner legalen Grundlage beruhte. Sämtliche Sklaven Englands mußten daraufhin freigelassen werden - im Gegensatz zu den Sklaven in den britischen Kolonien, an deren Los sich nichts änderte. Im Ergebnis des Somersetprozesses lebten Ende 18. Jahrhunderts 5000 - 7000 Schwarze als freie Menschen, aber unter häufig elenden Umständen in England. Das britische Schatzamt erklärte sich bereit, die Kosten des Transportes der ehemaligen Sklaven von England nach Sierra Leone zu übernehmen. Der Andrang für dieses Unternehmen hielt sich in Grenzen, aber 1786 hatten 600 Schwarze eingewilligt, den Weg nach Sierra Leone anzutreten.
Am 10. Mai 1787 erreichten 380 freie englische Schwarze die Mündung des Flusses Sierra Leone. Die Engländer erwarben von einem lokalen Herrscher ("King Tom") ein Stück Land zur Besiedlung und nannten den Ort Granville Town. Nach Ansicht der Engländer hatten sie damit dieses Land gekauft, die Afrikaner sahen in dem Abkommen allerdings eher eine Art Pachtvertrag. Die Gegend erwies sich als bei weitem nicht so einladend, wie von Henry Smithman geschildert, die meisten Neuankömmlinge verstanden zudem nichts von tropischer Landwirtschaft und tropische Krankheiten forderten viele Opfer. Etliche Siedler verschwanden als Sklaven in dem nahegelegene Zentrum des Sklavenhandels auf der Insel Bunce. 1789 kam es zudem zum Konflikt mit dem Nachfolger von "King Tom". Das britische Schiff Pomona unter dem Captain Henry Savage griff in diesen Konflikt ein, der mit der Zerstörung von "Granville Town" und dem Abzug der letzten Siedler an Bord der Pomona endete.
Die "Sierra Leone Company": 1791 -1808
Die Idee einer Kolonie für freigelassene Sklaven in Sierra Leone überlebte diesen Rückschlag. 1791 wurde die "Sierra Leone Company" zwecks Gründung einer Kolonie ehemaliger Sklaven in Sierra Leone gegründet. Zielgruppe waren diesmal die sogenannten "Nova Scotians". Dabei handelte es sich um Schwarze, die für das Versprechen der Freilassung im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg auf Seiten der Briten gekämpft hatten und anschließend in der kanadischen Provinz Nova Scotia angesiedelt worden waren. Unzureichen ausgerüstet und mit schlechtem Land versehen hatten viele dieser ehemaligen Kämpfer auf seiten der Briten die harten Winter Nova Scotias nicht überlebt. Zwischen 1200 und 2000 Nova Scotians traten unter diesen Umständen und mit großzügigen Versprechungen gelockt die Reise nach Sierra Leone an und gründeten dort die spätere Hauptstadt des Landes, Freetown.
Auch diese 2. Siedlergruppe war nicht in der Lage, sich unter den hier herrschenden widrigen Umständen selbst mit Lebensmitteln zu versorgen und war auf Lebensmittelimporte aus England angewiesen. Die Napoleonischen Kriege unterbrachen diese Lieferungen und verschärften die Situation zusätzlich. 1794 wurde Freetown zudem durch die französische Marine zerstört. 1800 rebellierten große Teile der Nova Scotians und erließen einen Gesetzescode, der de facto die Unabhängigkeit von England bedeutet hätte. Obwohl die Rebellion nicht von allen Siedlern getragen wurde, wäre ihr wohl Erfolg beschieden gewesen, wenn im selben Jahr nicht ein SChiff mit neuen Siedlern und einer Escorte britische Soldaten eingetroffen wäre.
Diese Siedler waren sogenannte Maroons und hatten die tatsächlich die Überführung nach Afrika verlangt hatten. Es handelte sich um Aufständische von der Insel Jamaika, die 1796 ebenfalls nach Nova Scotia verbracht worden waren, aber gegen eine Ansiedlung dort rebelliert hatten. Die Maroons waren (und sind) eine Gruppe von Nachfahren entlaufener Sklaven, die auf Jamaika eine eigene unabhängige Gemeinschaft gegründet hatten. Die nun deportierten jamaikanischen Maroons waren Gefangene des 2. Marron-Krieges von 1795/96, in dem die Briten das Gemeinwesen der Marroons hundert Jahre nach seiner Entstehung endgültig erobert hatten. Die Begleitescorte dieser ehemaligen Rebellen schlug den Aufstand der Nova Scotians nieder.
Bis 1807 waren insgesamt 3000 schwarze Siedler nach Freetown verschifft worden, von denen die Hälfte in diesem Jahr noch lebte. Die übrigen waren den harten Lebensbedingungen erlegen. Die Siedlungskolonie bestand unter großen inneren Problemen und der Leitung der Sierra Leone Company weiter bis zum Jahr 1808, in dem sie zur Kronkolonie erklärt wurde.
Besiedelungsgeschichte der Kronkolonie und Entwicklung des Kreolentums bis 1898
1808 bestand die kleine Kolonie aus 2000 Siedlern und etwa 30 - 40 weißen Beamten und Händlern. Mit dem Verbot des Sklavenhandels durch Großbritanien 1807 und dem Beginn der regelmäßigen Kontrollfahrten britischer Kriegsschiffe vor der westafrikanischen Küste zur Unterbindung dieses Handesl wuchs die Bevölkerung der Kronkolonie Sierra Leone beträchtlich. Befreite Sklaven ("recaptives") aus aufgebrachten Sklavenschiffen wurden in die Kolonie gebracht. Da diese für die meisten tausende Kilometer von ihrer Heimat entfernt war, hatten sie kaum eine Möglichkeit zurückzukehren und blieben dort. 1825 lebten daher 25 000 Menschen hier und 1850 bereits 40 000. Neben die ursprünglichen drei Siedlergruppen, "Arme Schwarze" aus Großbritannien, "Nova Scotians" und verbannte Maroons, traten nun Zehntausende von Schwarzen aus sämtlichen Ländern der Westküste Afrikas, von Senegal bis Angola. Diese Menschen sprachen die unterschiedlichsten Sprachen und hatten verschiedene religiöse und kulturelle Hintergründe.
Charles Mccarthy, von 1814 - 1824 Gouverneur der Kronkolonie, sah die Chance, westliche Kultur und Christentum unter diesen Entwurzelten zu verbreiten. Systematisch siedelte er die "recaptives" in Dörfern an, in denen die Kirche und die Schule die herausragendsten Plätze erhielten. Die Dörfer erhielten zumeist typisch englische Namen wie Charlotte, Kent, Wellington oder York. Als sich Gruppen entlassener schwarzer Soldaten der britischen Armee aus Westindien hier ansiedelten, wurden ihre Dörfer nach Ereignissen britischer Militärgeschichte benannt: Waterloo und Hastings entstanden so an der Küste Westafrikas (zu den wenigen Ortsbezeichnungen, die auf die afrikanischen Heimatländer der Angesiedelten verwiesen gehörte der Ort "Congo Town"). Obwohl die Neuangekommenen häufig Kenntnisse der tropischen Landwirtschaft mitbrachten, blieben viele nicht in den Dörfern, da die Gegend um Freetown für die Landwirtschaft kaum geeignet war. Viele zogen nach Freetown und arbeiteten als Handwerker. Andere begannen bald mit großem Erfolg mit den Völkern des Hinterlandes Handel zu treiben. 1839 bereits waren zwei Ex-Sklaven so wohlhabend geworden, dass sie beschlagnahmte Sklavenschiffe aufkaufen konnten und mit diesen an der Küste Handel zu treiben begannen. Viele gelangten über den Handel zu Wohlstand und schickten ihre Kinder auf weiterführende Schulen in Freetown oder sogar auf Universitäten in England. Die Bildungsoffensive Gouvberneur Maccarthys war insofern außerordentlich erfolgreich. 1860 besuchte ein höherer Prozentsatz der Kinder der Kronkolonie eine Schule, als der Kinder im "Mutterland". 1827 wurde eine Ausbildungsstätte für Lehrer hier gegründet, das 1876 Universitätsstatus errang, in den 40er Jahren folgten weiterführende Schulen für Jungen und für Mädchen. Bildung hatte einen außerordentlich hohen Stellenwert unter den recaptives und Siedlern der Koloni.
Allerdings entwickelte die ehemals Entwurzelten und die ursprünglichen Siedler bald eine eigene Kultur und Sprache, in der sich jeweils Afrika und Europa verbanden. Diese kreolische Kultur war ab der zweiten Hälfte zwar z.B. überwiegend christlich, aber mehr als die Kopie des anglikanischen oder methodistischen Christentums, das Maccarthy im Sinn hatte. Der Einfluß afrikanischer Religionen war etwa in der großen Bedeutung von Übergangsriten oder der Beibehaltung der Beschneidung sichtbar. Die kreolische Küche enthielt französische, westindische und afrikanische Elemente. Die Kreolen entwickelten ihre eigene Sprache, das Krio. Krio ist eine englisch basierte Kreolsprache, mit deutlichen afrikanischen Elementen, insbesondere der Yorubasprache aus dem heutigen Nigeria. Daneben finden sich Lehnworte aus dem Französischen, Spanischen und Portugiesischen.
Siehe auch
Literatur
- Joseph Ki-Zerbo: Die Geschichte Schwarzafrikas, Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main 1993, ISBN 3-596-26417-0.
- Basil Davidson: A History of West Africa 1000–1800, überarbeitete Auflage, Longman 1978, ISBN 0582603404.
- J.B. Webster, A.A. Boahen: Revolutionary Years: West Africa Since 1800 (Growth of African Civilisation), Longman 1984, ISBN 0582603323.
- Walter Schicho: Handbuch Afrika. In drei Bänden. Band 2: Westafrika und die Inseln im Atlantik, Brandes & Appel, Frankfurt am Main 2001, ISBN 3-86099-121-3.
Weblinks
- Simon Schama, The Guardian, 31. August 2005, "Death on the Grain Coast" Buchauszug, über den ersten Siedlungsversuch 1787
- [1] Geschichte Sierra Leones im Überblick
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