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Benutzer:Cholo Aleman/DDR-Verlage

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Identität: Mein Leben als Sohn Was geschieht, wenn die Identität auf einer erschütternden Unwahrheit beruht? Ein Leben stürzt ein, jede Gewissheit wird brüchig, und die Angst hört vielleicht nie auf.



optimistisch war. Ich bin mir auch nicht mehr sicher, ob das Potenzial an Vernetzung, Selbstfindung, Awareness und Bildung links in der Waagschale wirklich mehr wiegt als die Zerrüttung, 

De-Empathisierung und latente Stalkerlogik, die von Social Media herausgebildet werden, gerade dann, wenn Posten als politischer Akt verstanden wird. Ich verstehe schon, dass analytische Kälte gepaart mit persönlichen Beleidigungen gegen Menschen in realen und angenommenen Machtpositionen auch ein Schrei gegen das Unrecht ist. Ich frage mich nur, ob der Preis nicht zu hoch ist.

Ein bekannter twitterkritischer Tweet lautet: "Twitter is just making up a person and then getting mad about it." Das andere unausgesprochene Angebot der Seite ist, mit wenigen Klicks Leute zu finden, die man zutiefst abscheulich finden kann, teils aus hehren, teils aus nichtigen Gründen, und ihnen das dann auch noch sagen kann.

Natürlich gibt es keine Cancel Culture: Fernsehkomiker, Rapstar, Hetzkolumnist und Edelmime sitzen alle noch bequem. Aber das Abkanzeln, das öffentliche Zerlegen von Leuten, die sogar irgendwie auf der eigenen Seite sind, aber die man einfach nicht ausstehen kann, ganz ohne Politik, ist auch Teil der Twitter-Kultur. So ist eben das Spiel, und natürlich gibt es Leute, die es schon als gemeine Zumutung verstehen, wenn von ihnen mal verlangt wird, dass sie ihren Job richtig machen sollen. Ablenkung ist das alles trotzdem, und es macht auch zu viel Spaß.

Daher gibt es zwei Grundsätze, glaube ich: Don’t call the cops on each other. Und: Be ruthless to systems, not people. Rufmord jedenfalls greift keine Strukturen an und ist deswegen kein emanzipatorisches Werkzeug, gerade dann, wenn er wie Content konsumiert wird. Er macht Twitter auch bestimmt nicht zu einer besseren Website.

Ich verstehe schon die erwartbare Ironie: Ein früherer Anprangerer prangert das Prangern an, als seine eigene Stunde in der Mitte des Dorfplatzes gekommen ist. Das nehme ich an.

Ich hoffe zwar, jeden Streit online nur deswegen eskalierend geführt zu haben, weil in diesem Land sehr gerne verleugnet wird, wie hoch die stakes eigentlich sind, und dass ich nur Sachen geschrieben habe, die ich Leuten auch ins Gesicht sagen würde. Was wiederum einfach heißen kann, dass ich auch im echten Leben nicht immer angenehm bin, es gibt immerhin genug solcher Momente, die ich bereue.

Alles andere wurde in Subtweets, also in Tweets ohne namentliche Erwähnung, verpackt. Das sind eben die Ausflüchte: Es waren nur Subtweets. Ich habe öfter "gedrukot" als "gedrükot". Andere Leute arbeiten sich doch richtig ab, mit Kommentaren "hinter Schloss", unentwegten Screenshots trotz Block oder mit geleakten privaten Infos. So weit bin ich wirklich auch nie gegangen. Das ist kein Verdienst, aber ich will es trotzdem festhalten, sicher aus Scham. Ich habe oft gesehen, was mit Freund*innen gemacht wurde, und ich kenne das Gefühl des Gestalktwerdens auch selbst.


Kurz nachdem ich Erstunterzeichner eines offenen Briefes in Solidarität mit einer deutsch-palästinensischen Journalistin inmitten einer Hetzkampagne war, erfuhr ich, dass jemand Mitunterzeichnende und Leute aus der Community davor warnte, dass ich gar nicht jüdisch sei, auf Grundlage angeblicher privater Informationen. Mein Nichtjüdischsein war in dieser Warnung kaum mehr als Behauptung, aber als Authentizitätsnachweis wurde meine Grabrede für meine Mutter mitgeschickt. Inzwischen haben mich einige nach dem Grund dafür gefragt, und ich habe keine Antwort. In Sachen Familienbiografie steht in ihr nur das, was ich selbst immer erzählt und zu glauben gewusst habe.


Ich habe dann ein paar Dinge getan. Ich habe aufgehört, öffentlich allzu prononciert jüdisch und allzu kontrovers zu sprechen, ich habe Aufträge abgelehnt, wenn ich das Gefühl hatte, dass ich in erster Linie als jüdischer Autor angefragt wurde, ich habe offene Briefe nicht unterschrieben. Ich habe mit meinen Freund*innen gesprochen, von denen manche nur den Kopf schüttelten und manche sagten, dass sie offen gesagt auch schon so etwas vermutet hätten. Und ich habe viel geweint.


Ich hatte nichts, mit dem ich mich gegen diese Vorwürfe wirklich wehren konnte, sollten sie je öffentlich gemacht werden. Es gab ja nicht mehr als die Geschichte meiner Mutter und ein paar Hinweise, dass sie stimmen könnte. Die Botschaft meiner Freund*innen, manchmal mit großer Zuneigung, manchmal mit großer Härte, aus der ich die Zuneigung eher herauslesen musste, war: Du musst die Wahrheit herausfinden.


Einige schlugen mir eine DNA-Analyse vor. Das war für mich keine Option. Meine Jüdischkeit war nicht nur halachisch zu sehr an die matrilineare Kontinuität in meiner Familiengeschichte gebunden, als dass irgendeine Nachkommastelle, die dann im Datenpool eines undurchsichtigen Riesenkonzerns abgespeichert wird, eine echte Verankerung hätte sein können. Außerdem hatte ich noch Elizabeth Warren im Kopf: Die ehemalige Präsidentschaftskandidatin hatte jahrelang mit Vorwürfen zu kämpfen, dass sie sich auf Grundlage von mündlich überlieferter indigener Herkunft unverdient eine Identität konstruiert habe. Der Versuch, diese Vorwürfe mit einem (positiven) DNA-Test zu widerlegen, machte alles nur noch schlimmer.

Wie weit gestreut die Gerüchte über mich überhaupt sind, weiß ich nicht. Manchmal glaube ich, dass in ein paar Redaktionen Dossiers liegen, manchmal glaube ich, dass ich mit diesem Text einen ungezwungenen Fehler begehe, zu dem ich überhaupt erst gezwungen werden sollte. So oder so lebe ich in Angst, mit jedem zu lauten Wort einen Anlass zu liefern.

Ich musste die Angst dieser steten Bedrohung von einer anderen Angst entflechten und sie dann gegeneinander aufwiegen – die Angst nämlich, die mich davon abgehalten hatte, meine Familiengeschichte nicht einfach nur zu recherchieren, sondern zu recherchieren, ob sie vielleicht nicht stimmen könnte. Natürlich bedeutete schon der bloße Akt dieser Recherche, die Möglichkeit zu akzeptieren, dass meine Mutter nicht die Wahrheit gesagt hatte. Die Gefühle der Selbstauflösung, der Dissoziation, von

unwiederbringlichem Verlust nach ihrem Tod habe ich damit bekämpft, mich in der von mir erinnerten Realität und unseren gemeinsamen Erinnerungen zu verankern; nicht, indem ich auch diese hinterfragt habe. Genau so hatte ich gelernt, mit meiner Angst zu leben: indem ich sie gar nicht erst als berechtigt anerkenne und eben nicht noch einmal morgens zurückgehe, um zu schauen, ob die Tür verschlossen ist. Natürlich ist sie das.

Mit der Dialektik dieser Situation – aus dieser Angst trete ich heraus, indem ich anerkenne, dass sie begründet ist – muss ich selbst umgehen, und das ohne die Hoffnung, dass jetzt alles gut wird. Im Gegenteil, ich weiß, dass es jetzt wohl richtig scheiße wird. Aber ich hoffe, dass das dieser Text ist: ein Schritt heraus aus der Angst. Wie jemand Weises mal gesagt hat: Lass dich nie erpressen.

Ich setzte mir eine Grenze. Ich würde den Namen meiner Ur-Urgroßmutter herausfinden, die, der Erzählung nach, Stern hieß oder einen anderen Galizien-gerichteten Namen hatte. Wenn sie das nicht tat, so sagte ich anderen und mir selbst, dann stimmte die ganze Geschichte nicht, aus

welchen Gründen auch immer, dann war meine Großmutter nicht jüdisch. Die nächsten Schritte würden keinen Raum für "vielleicht doch" lassen. Ich sah sonst ein Leben vor mir, in dem ich nichts anderes täte als zu versuchen, die Wahrheit jenseits der Wahrheit herauszufinden und zu beweisen. Keine eindeutige Typologie und auch kein vollständiger Index

Auf der Geburtsurkunde meiner Großmutter aus dem Stadtarchiv Leipzig war keine Religion angegeben, das passte zur linken Ausrichtung meiner Familie, und auch kein Vater, das passte ebenfalls zur Geschichte, wie meine Mutter sie erzählt hatte. Es sagte aber letztlich nichts Beweisendes aus. Die Geburtsurkunde enthielt zwar den Namen meiner Urgroßmutter, aber ohne Geburtsdatum und Geburtsort wäre eine beauftragte Archivrecherche in Leipzig nicht nur langwierig gewesen, sondern vielleicht auch erfolglos.

Ich hatte die Idee, den Eintrag meiner Großmutter in der Meldekartei im Staatsarchiv zu beantragen. Der Termin im April 2022 zur Einsicht war schon ausgemacht, meine beste Freundin wollte mit mir nach Leipzig fahren, als ich mich auf einer Beerdigung mit Corona ansteckte. Die Kopien kamen ein paar Wochen später weniger dramatisch mit der Post. Das

Beamtensütterlin war schwer zu entziffern: Für meine Großmutter war keine Religion angegeben, für meine Urgroßmutter eine ehemalige Zugehörigkeit zur evangelischen Kirche. Das war ein klareres Bild, aber ließ immer noch Raum für Aushandlungen – schließlich hatten sich seit dem 19. Jahrhundert viele Jüdinnen und Juden taufen lassen, ohne wirklich ihre Jüdischkeit zu verlieren – und genau diese Aushandlungen mit mir selbst und anderen wollte ich vermeiden. Jetzt wusste ich immerhin ihr Geburtsdatum und ihren Geburtsort.

Die Geburtsurkunde meiner Urgroßmutter beantragte ich im Sommer 2022, die Post erhielt ich im Herbst. Auf ihr steht der Name ihrer Mutter. Es ist ein anderer Name, ein Name, der nicht passt. Und hier bin ich also.

7.

Ich weiß, dass Leute reden werden, sie tun es ja schon jetzt. Die Frage, was Jüdischsein heißt, hat viele Antworten, dem pluralen Klischee nach so viele Antworten, wie es Jüdinnen und Juden gibt. Daneben gab es in den vergangenen Jahren einige Anlässe, um öffentlich die Frage zu verhandeln, was Nichtjüdischsein ist und warum jemand jüdisch sein möchte, ohne es zu sein. Manchmal wurden diese Anlässe auch erzwungen.

Es gibt diese und ähnliche Fälle unwahrer, falscher und gefälschter Zugehörigkeit auf der ganzen Welt, oft auch unter ganz anderen ethnischen Vorzeichen. Deutsche Pathologie allein kann also nicht die Antwort sein. Auch Schuldabwehr, Opfersehnsucht, Kompensierung real erlebter Gewalt und Neid greifen als Erklärung nicht immer oder nicht ausschließlich.

Teilweise werden in dem, was nach solchen Enthüllungen dann Diskurs genannt wird, auch Tendenzen und Schicksale vermischt, die nichts miteinander zu tun haben. In einigen Fällen sind Lügen oder Verwirrung auch geerbt oder einfach ein ehrlicher Fehler.

Was jetzt folgt, ist also keine eindeutige Typologie und auch kein vollständiger Index. Vielleicht stehen diese Fälle für mehr als für sich selbst, vielleicht nicht. Ich kann nur sagen, dass ich mich bei jedem und jeder von ihnen schon gefragt habe, ob ich so bin wie sie.

An den populären Wendehals, der sich selbst einen neuen und aufregend klingenden Vornamen gegeben hat, werden sich nicht mehr viele erinnern, aber er war einen kurzen Moment lang die große ostdeutsche Hoffnung. Er stand der DDR-SPD vor und hatte eine schillernde Biografie. Er behauptete, als jüdisches Waisenkind von Adoptiveltern aufgezogen worden zu sein und im Stasi-Knast gesessen zu haben. Ersteres war unwahr, Zweiteres auf denkbar falsche Art wahr: Tatsächlich hatte die Stasi ihn kurzzeitig

verhaftet, weil er Spitzelprotokolle gefälscht hatte. Ein Nachrichtenmagazin machte im Frühling 1990 seine IM-Tätigkeit öffentlich, er zog sich aus der Politik zurück, ohne etwas zurückzunehmen. Es war die erste Enthüllung ostdeutscher Lebenslügen, von gefälschten Widerstandsbiografien vor 45 hin zu falschen Dissidenzbiografien nach 45. Vielleicht ist die DDR dabei die größte Lebenslüge von allen. (Meine Mutter hat mal erzählt, dass sie ihn in den Achtzigern kannte, schon unter seinem neuen Vornamen, weil er das Kulturhaus in der Breiten Straße leitete, und ihn widerlich fand.)

Nur etwas jünger ist der ehemalige Terrorist aus Frankfurt, der Ende der Siebziger ein prominenter Aussteiger und Kritiker der Szene wurde, auch weil ihn die Separierung jüdischer und nichtjüdischer Geiseln bei einem Hijacking geschockt hatte. Seine Mutter hatte sich mit der Dienstwaffe seines Vaters

erschossen, als er kaum fünf Monate alt war. Sie war in Ravensbrück gewesen, aber erst als Erwachsener fand er durch eigene Recherchen heraus, dass sie nicht selbst jüdisch war, sondern wegen "Rassenschande"

im KZ inhaftiert war. Sein lebenslanger enger Freund, ein Löwe der jüdischen Linken Europas, half ihm beim Ausstieg aus dem Terrorismus und trat in einem späteren Prozess unter Tränen als Entlastungszeuge auf. 25 Jahre hatte der Aussteiger im Untergrund gelebt, von seinen neun Jahren Haft musste er zwei absitzen. Erst beim Nachschlagen seines Namens habe ich gesehen, dass er letztes Jahr in Frankreich gestorben ist.

Es gibt den ehemaligen Vorsitzenden einer jüdischen Gemeinde in Norddeutschland. Er hatte Vorstrafen wegen Unterschlagung und Betrug und hatte über Jahrzehnte verschiedene Namen und Familiengeschichten angenommen, die oft um Auschwitz, aber auch linken jüdischen Widerstand kreisten. Auch sein außergemeindliches politisches Wirken drehte sich um diese Erinnerungspole. Er wurde vor ein paar Jahren

durch ein Nachrichtenmagazin enthüllt und verlor natürlich sein Amt. Zu seiner Geschichte gehörte, dass sein Großvater Anarchist im Spanienkrieg gewesen sein soll, was statistisch gesehen noch einmal unwahrscheinlicher als kommunistischer Interbrigadist ist. (Umgekehrt habe ich herausgefunden, dass ein Onkel meiner Großmutter entgegen meinen Kindheitserzählungen eben nicht als Kommunist in Spanien war, sondern tatsächlich als Anarchist, und nicht von den Faschisten ermordet wurde.)

Der Fall wurde damals mit dem der Vorsitzenden einer jüdischen Gemeinde in der DDR verglichen. Sie hatte als junge Frau in den Fünfzigern kurz die DDR verlassen und sich dann nach ihrer Rückkehr als jüdische Lagerüberlebende ausgegeben. Sie wurde die Sekretärin des zweiten jüdischen Verbandsvorsitzenden der DDR, der erste war in den Westen geflohen, ein Rabbiner erkannte ihren jüdischen Status an. (Von diesem Rabbiner wird heute angenommen, dass er keine ordentliche Smicha hatte und somit gar nicht dazu autorisiert gewesen war.) Als Gemeindevorsitzende war sie umstritten, weil sie selbst ihren Vorgänger

abgesetzt hatte, weil sie ihren nicht jüdischen Ehemann zum Mitglied erklärte und weil sie ihren NS-Wachtmeister-Vater auf dem jüdischen Friedhof bestatten ließ. Auch ihre enge Zusammenarbeit mit den staatlichen Behörden wird kein Geheimnis gewesen sein und hat sie geschützt. Es bleibt zu recherchieren, warum schließlich die Stasi selbst ihre Absetzung gefördert und einen jüdischen Historiker beauftragt hat, die Wahrheit zu recherchieren. Kurz darauf ist sie gestorben. Ihr Sohn singt heute in Gaststätten und auf YouTube. In einem seiner jüngsten Clips singt er etwas aus dem Lohengrin, das Video heißt "Wir Deutsche lieben unser Vaterland und verabscheuen widerwärtige Verräter!"

Expert*innen verbinden diese Fälle zu einem Syndrom, das nach einem Schweizer Klarinettisten benannt ist. Er hatte Mitte der Neunziger in einem deutschen Verlag poetische Memoiren über seine Kindheit im Holocaust veröffentlicht, die begeistert aufgenommen wurden, er sprach auch oft als Zeitzeuge. Das Buch stellte sich einschließlich seines Namens als

komplette Fälschung heraus, die er sich über Jahrzehnte langsam aufgebaut hatte. Dabei soll er auch, bewusst oder unbewusst, reale Erfahrungen als adoptiertes Kind eingearbeitet haben, und dass seine leibliche Mutter ein Verdingkind gewesen war. Seine Enthüllung wurde auch akademisch rezipiert. Es ist bezeichnend, wofür das nach ihm benannte Syndrom alles herhalten muss, von falschen Erinnerungen über falsches Jüdischsein hin zu Konversionen. Es wird nicht deutlich, ob er in seinem Konstrukt versucht hat, jüdisch zu leben. Interessanter finde ich, dass nicht nur für ihn, sondern auch für die, die sich auf seinen Fall berufen, die Gleichung Jude=Holocaust unauflösbar scheint, dass jüdisch zu sein wollen auch immer heißen muss, Opfer sein zu wollen.

Einen so großen Skandal hat der skandinavische Starregisseur noch nicht verursacht, was ihn vielleicht ärgert. Er ist ein Ekel, aber ich finde es gut, dass es seine Filme gibt. Sie sind amorph und unhandlich, und in ihnen steckt alles, wofür er sich gerade interessiert, auch seine Herkunft. Erst mit über 30 erfuhr er, dass nicht sein jüdischer Ziehvater sein leiblicher Vater war, sondern stattdessen ein bedeutender Minister und Widerstandskämpfer. Der Starregisseur wurde dann eine Art Katholik,

soll mit seinen Darstellerinnen oft grausam umgegangen sein und erhielt später wegen eines schlechten Witzes über Hitler Festivalverbot. Die männliche Hauptfigur in einem seiner Filme ist ein schwedischer antizionistischer Jude, aber ich habe ihn nicht gesehen, weil ich seine Filme nicht sonderlich mag. (Einmal wurde mir erzählt, dass meine Großmutter väterlicherseits während des Krieges in Schweden gewesen sein soll, aber ich kenne keine Details und habe jetzt natürlich Hemmungen, zu recherchieren.)

Hätte meine Recherche über mich ein anderes Ergebnis gehabt, dann hätte ich den gleichen halachischen Status wie der weiße King of Rock 'n' Roll, über dessen Ururgroßmutter mütterlicherseits es heißt, sie sei jüdisch gewesen. Sowohl der King als auch seine Mutter scheinen an die Geschichte geglaubt zu haben, und er hat ihr neben einem Kreuz einen magen david auf den Grabstein eingraviert. Vielleicht ist es ein

bisschen wie bei dem großen irischen Dichter, dessen Mutter einfach irgendwann beschlossen hat, dass ihre Vorfahren aus Italien kamen, oder dem großen deutsch-jüdischen Philosophen, der glaubte, von venezianischen Dogen abzustammen. Innerhalb der Familie des Kings gibt es jedenfalls Streit, ob das nicht alles ein Missverständnis sei. Die letzten genealogischen Funde kenne ich nicht. Laut Totenschein war er übrigens unbeschnitten.

Über den Fall der Dichterin habe ich damals selbst für Heeb geschrieben: "Als Alibijüdin ist sie das ganze Paket, bis auf eine kleine Ausnahme. Ihre Mutter war in Auschwitz – 'ich bin mit der Nummer auf ihrem Arm aufgewachsen', ihr Vater war ein tzadik, der nach England floh. Sie selbst kämpfte im Libanonkrieg 1982 in der IDF. Heute lebt die 'deutsch-jüdische Dichterin' sechs Monate im Jahr in Israel, wo sie einen arabisch-jüdischen Kindergarten leitet. Die anderen sechs Monate ist sie hazzan in

ihrer Gemeinde und schickt Geigen nach Gaza." "Deutschland misst seinen Erfolg am Zustand seiner jüdischen Gemeinde"

Nichts davon stimmte, aber der Skandal rührte eigentlich daher, dass sie auf Facebook eng mit dem damaligen Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses vernetzt war, der sich in Diskussionen über Israel oft auf sie bezog. In mehreren Artikeln in einem rechten Blog wurde ihre echte Geschichte enthüllt, sie zog alles zurück. Ich beendete den Text mit: "Was lernen wir daraus? Es gibt nur eine Sache, die schlimmer als ein Alibijude ist – ein Alibijude, der noch nicht mal jüdisch ist." Eine Weile später starb ihre Mutter, und im Blog wurde triumphierend die Traueranzeige mit christlichem Bezug verlinkt. Schon damals fand ich, dass das too much ist.

Und dann gibt es noch die Historikerin, die gefälschte Dokumente über ausgedachte ermordete Familienmitglieder bei Yad Vashem eingereicht hat. Über sie gibt es letztlich und schließlich nur eine Sache zu sagen: Sie hat sich umgebracht.


8.

Ich selbst habe es nie erlebt, aber ich weiß, dass chabadniks in Amerika Passanten auf der Straße mit "Hey, are you Jewish?" ansprechen. Ich habe früher gerne den Witz gemacht, dass deutsches kiruv hingegen "Aber bist du wirklich jüdisch?" ist.

Natürlich verstehe ich den Unterschied zwischen den zwei Ländern. In den vergangenen fünfzehn Jahren war es zwar mein Anliegen, für mich selbst und teilweise auch für den größeren Kontext in diesem Land diesen Unterschied zwischen beiden zu verwischen – aber das nur, weil jüdisches Leben in den USA mir nun einmal besser als das in Deutschland erscheint: selbstbewusster, wilder, selbstverständlicher und dabei biografisch und kulturell genauso an die Shoah gebunden.

Das jüdische Leben und die jüdischen Ideale, die ich vor Augen hatte, waren darauf ausgerichtet, die Deutschen zu nerven, sogar zu verärgern, damit sie, so die Hoffnung, lange in den Spiegel schauen und sich fragen, ob ihre Kultur wirklich so weltoffen und kosmopolitisch ist, ob sie wirklich so viel wissen, wie sie vorgeben. Deutsche sollten das tun, eben weil unsere historische Verantwortung so groß ist und weil die Heuchelei in diesem Land so unerträglich ist. Auch wenn sich inzwischen gezeigt hat, dass unverheuchelter offener Hass nicht besser ist.

Deutschland misst seinen Erfolg am Zustand seiner jüdischen Gemeinde. Also liegt der Gedanke nicht fern, dass mein Wunsch, Deutschland möge etwas mehr wie die USA sein, eigentlich nur ein Projekt der Normalisierung verdecken sollte, um Schuld hinter sich zu lassen. Das stimmt zwar nicht, aber ich kann niemanden, der sich zu solchen Auslegungen berufen fühlt, von ihnen abbringen.

Ich wurde nicht so erzogen, mich als Opfer zu sehen, und meine Jüdischkeit basierte auch nicht auf Opfertum, nicht historisch, nicht in der Gegenwart, auch wenn ich mich von Antisemitismus immer mitgemeint gefühlt habe. Aber ich denke darüber nach, dass ich zwar nicht mit einer Opferidentität aufgewachsen bin, mein Verhältnis zu deutscher Geschichte sich jedoch immer in klarer Abgrenzung und Opposition zur Täterkategorie befand. Was meine Mutter sich bei dieser Prägung konkret gedacht hat, weiß

ich nicht, aber im größeren Kontext deutscher Geschichte gibt es hier mit Sicherheit auch eine Schuldabwehr: Die Familie meiner Großmutter war klar links, kommunistisch und anarchistisch, aber ich weiß nicht genau, was sie genau zwischen 1933 und 1945 getan hat. Meine Mutter hat die Familie meines Großvaters immer als brutal und deutschnational beschrieben. Sein Weg vom Wehrmachtssoldaten zum Kommunisten nach 1945 wurde in der DDR ohne Weiteres begrüßt.

Die Eltern meines Vaters, falls das noch wichtig ist, waren keine Kommunisten, aber schlugen sich etwas besser. Meine Großmutter kam aus einer liberalen hanseatischen Familie mit internationalen Bezügen, die, wenn überhaupt, philosemitisch war; laut meiner Mutter hatte die Mutter meines Großvaters meine

Großmutter einmal "dreckige Halbjüdin" genannt. Einmal im Jahr poste ich eins der wenigen Fotos, die ich von meinem Vater und mir habe. Er sah wie Art Garfunkel aus, deswegen schreibe ich immer von seinem Jewfro, aber meine Identität habe ich darauf nicht aufgebaut. Mein Großvater väterlicherseits hat einen Eintrag im Lexikon Berliner Widerstand 1933-1945, was ich aber für übertrieben halte.

Ich war mir der Spannungen zwischen diesen Geschichten und Konstellationen immer bewusst. Ich habe mich mehr mit der vermeintlich jüdischen Seite identifiziert, weil meine Mutter da war und mein Vater nicht und weil ich wusste, dass das Leben meiner Mutter wiederum von niemandem so geformt worden war wie von ihrer Mutter. Ich könnte noch anmerken, dass in Deutschland ein Auch-jüdisch-Sein kaum zu haben ist, aber die Wahrheit ist, dass ich eh nichts anderes als Jude sein wollte.

Was einst eine charmante Anekdote über verlorene und wiedergefundene jüdische Identität war, liest sich jetzt wie kompensierende Fantasterei. Wertschätzung und versuchte Fortschreibung einer wertvollen intellektuellen und literarischen Tradition wirken jetzt wie philosemitische Überidentifikation. Eine grundsätzliche ungerührte Feindseligkeit gegenüber Deutschen, öffentlich und manchmal auch im direkten Umgang, konnte vorher wenigstens von Außenstehenden als irgendwie Teil der belastenden deutsch-jüdischen Beziehung entschuldigt werden, hatte als Ehrlichkeit darin sogar seinen Wert, aber wird heute einfach als unverdiente Abfälligkeit aufgenommen. Eine ehemals aufopfernde jüdische Mutter wird wohl jetzt als irre Deutsche verschrien werden. Und ein Essay, der einst als Aufruf für ein stärkeres neues jüdisches Leben in der Diaspora und mehr Ehrlichkeit über das gegenwärtige diskutiert wurde, wird jetzt vermutlich einfach als Antisemitismusv

erharmlosung verstanden werden.

Andererseits wurde er das ja vorher auch schon.

Aber einer der glücklichsten Momente in meinem Leben ist weiterhin diese eine halbe Stunde, in der ich im Wartebereich eines Nagelstudios in den Poconos ein Buch über Heine und die Geschichte deutscher Juden gelesen und einfach den Sturm der Geschichte, die Tragödie, die Wut, die Trauer, die Dankbarkeit und das Geschenk gespürt habe. Das wird nicht vergessen.


9.

Neulich ist Jerry Springer gestorben. In einem Interview vor ein paar Jahren sprach der Talkshowmoderator und ehemalige Bürgermeister von Cincinnati über sein Leben, über Reue und Empathie. Springer wurde in London geboren, seine Eltern waren deutsch-jüdische Flüchtlinge. Die Mutter seiner Mutter wurde in Chełmno ermordet, die Mutter seines Vaters starb in Theresienstadt im Krankenhaus. Er sprach es nicht direkt aus, aber es wurde deutlich, dass er zwar versuchte, mit den Krawalldramen seiner Gäste bis zu einem gewissen Grad mitzufühlen, aber sie im Vergleich mit der Shoah und seiner eigenen Familiengeschichte eben doch verblassten.

Wenn die Sendung einen kleinen Reset brauchte oder er mal kurz nicht zugehört hatte, dann wusste Jerry, dass eine Frage bei seinen Gästen immer funktionierte, nämlich ein ungläubiges: "You did what?"

Wäre ich einer dieser Gäste, deren Schicksal nichts ist im Vergleich mit dem seiner Familie, dann wüsste ich erst einmal keine Antwort, weil ich nicht genau weiß, was ich getan habe. Ich weiß aber, dass alle, die das hier lesen, eine eigene Antwort haben, und ich bin nicht auf der Welt, um ihnen zu sagen, ob sie recht haben oder nicht. Das steht mir gar nicht zu.

Ich weiß aber, was ich tun werde: Ich werde trauern und daran glauben, dass alles etwas besser sein könnte, und diese kleinen Zen-Momente annehmen, die das Leben manchmal auf einen wirft. Ich werde zu meinen Freund*innen stehen, ich werde ihre Kämpfe unterstützen. Ich werde mich weiter für die Sachen interessieren, die mich interessieren, und auch über sie schreiben, wenn es die Möglichkeit dazu gibt. Aber wer mich danach fragt, etwas zu schreiben und zu sagen, sollte das alles hier wissen.

Und ich weiß, was ich nicht tun werde. Ich werde nicht aus der Position eines Juden in Deutschland sprechen, weil ich das nicht kann und weil ich das nicht bin.

Ich schreibe diesen Text für die Kultur und für die Geschichte, die mir so viel bedeuten, und weil der große Abgrund des 20. Jahrhunderts, der uns alle heimsucht, nur mit Wahrheit überbrückt werden kann. Ich habe damals meine Wahrheit geschrieben. Jetzt haben sich die Fakten geändert, und somit auch meine Wahrheit, die ich hier teile, ohne zu wissen, was damit beginnt.

Und ich schreibe dies für meine Mutter – sie war, wer immer sie auch war. Ich liebe sie, und sie fehlt mir. Ich hoffe, trotz alledem, dass so ihre Erinnerung wieder eine Art Segen sein kann.



disk

it am Schlimmsten hieran finde ich, dass er den Betrug seiner Mutter unterschiebt, die sich ja nun nicht mehr wehren kann. Verantwortungsabwehr mittels Schuldverschiebung noch in dem Moment, in dem er scheinbar die Karten auf den Tisch legt. Seine obige Geschichte passt im übrigen nicht dazu, dass er andernorts ein jüdisches Aufgewachsensein erwähnte. Das Fabulieren geht also weiter, und die Zeit lässt ihn gewähren.

Abseits dessen wundere ich mich, dass nirgendwo der Antisemitismus angesprochen wird, der es ist, sich eine als offenbar exklusiv empfundene Identität anzueignen und zunutze zu machen, deren Exklusivität in erster Linie das Ergebnis eines Genozid ist. Und hinter diesem Schutzschild dann gegen Jüdinnen und Juden zu schießen. Wo bleibt die Entschuldigung, Herr Wolff?





Brexit and the Power of Historical Narratives Perspectives

25 Nov 2020 Reading time 15 min

Prof. Stefan Vogenauer, MJur (Oxford), FBA


The ‘Remainers’ have long mocked this sort of reminiscence. This is also true of professional observers and explainers, of journalists and academics, particularly those from abroad. Almost without exception, they were surprised by the result of the 2016 Brexit referendum. The decision to leave was taken as


irrational and an act of wilful self-harm. There was a certain sense of bewilderment, not least amongst Germans, that a people generally known as the paragon of common sense and sober pragmatism would take what appeared to be such an obvious economic and socio-political wrong turn. How could this happen?

For a start, there might be different understandings of common sense at play. Let us assume, with the Oxford English Dictionary, that arguments from common sense are those that appeal to or are in accord

with our instinctive understanding and sound judgement. Such innate and tacit understandings are bound to be conditioned by our experiences, past and present, and these experiences will differ from one

country to another. Once they are taken into account, and particularly when the UK and the German

experiences are contrasted, the outcome of the referendum appears to be much less outlandish than many foreign observers are prepared to believe.

When looking at present and past experiences it is possible to distinguish three types of cause underlying the vote to withdraw from the EU: immediate causes, as examined by the social sciences; recent causes, as studied by contemporary historians; and profoundly long-term causes, as analysed by

historians concerned with the more distant past. The latter are the focus of this essay because they have been less commented upon so far; yet they might have been decisive in the vote to leave: the power of historical narratives remains strong.



Immediate Causes: The Perspective of the Social Sciences

Most explanations offered for the result of the referendum relate to contemporary factors. The first of these is the economy. The rigid austerity in the public sector in the decade after the 2007/2008 financial crisis led to real income losses and a drastic scaling back of public services. Public

libraries were closed, schools left crumbling. The provision of healthcare, though one would barely have thought it possible, declined even further. The North-South divide deepened, along with the gap between

London and the rest of the country. Whole areas and generations felt and feel left behind. The referendum can thus be seen as sounding the alarm bells in order to put the political class on notice.

In fact, according to the second explanatory approach, the result of the referendum mirrors populist dissatisfaction with elites. This was not only directed against the political class, which the British

public still had not forgiven for the parliamentary expenses scandal that had emerged in 2009. It also targeted the ‘experts’, whose predictions were met with suspicion. Was it not the case that even her Majesty had humiliated economists with the naive question as to why they had not seen the financial crisis coming?

A third cause of the result, we are told, was the on- and offline disinformation campaign before the referendum: the dissemination of ‘fake news’, the distorted reporting on the functionality of the

European Union, and the legendary bus with the unfeasible promise to redirect the national contribution to the EU budget directly to the NHS—350 million pounds per week.

Fourth, it is said that the Brexiteers took advantage of nationalist, xenophobic, and at times openly racist attitudes of the public. Germany’s conduct during the migration crisis in the summer before the

referendum stirred up fears of an infiltration of foreigners, be it the hundreds of thousands of eastern Europeans that were already in the country, or the 80 million Turks who were allegedly sitting on packed suitcases.

Fifth, and finally, it has been pointed out that the result of the referendum was distorted by conscious or unconscious decisions on the eligibility to vote and the voting modalities. This led to a situation where many of those who would have voted to remain were not entitled to vote or could only do so with a great deal of effort. This group included students and UK citizens residing on the continent.

Economists, political scientists, sociologists, and media scholars have extensively analysed all of these phenomena. There is no doubt that the factors they identify were hugely influential in the outcome of the referendum. At the same time, they suggest a certain historical contingency: perhaps it could have all been so different, and insignificant domestic political events in the run up to the referendum might have brought about a majority for remain?


Recent Causes: The Perspective of Contemporary History

Talk of such contingency sounds less convincing, once the focus of enquiry moves to past experiences. With regard to the more recent past, contemporary historians have frequently pointed out that the breeding ground for the exit vote had been prepared for quite some time. The Euroscepticism of the British before and certainly after joining the then European Economic Community (EEC) in 1973 is proverbial. They were always ‘reluctant Europeans’ and an ‘awkward partner’ for the other Member States.

No other country and its people were more opposed to the process of integration. Non-participation was deemed a virtue, be it via opt-outs from the Euro, Schengen and, initially, the EU Charter of Fundamental Rights, or via a reduction of the contributions to the EU budget through the so called ‘UK

rebate’. Symbolic acts, such as flying the EU flag on public buildings, remained undone. The European passport, a further symbol, was resented, particularly by older citizens. In the political discourse on the relationship with the EU an ‘us against them’ mentality permeated. Against this background, it might be argued, the outcome of the referendum was not surprising at all.


Profoundly Long-Term Causes: A Longue Durée Perspective

Yet, even the explanations offered by contemporary historians, valuable as they are, merely scratch the surface. Once an effort is made to trace the deeper causes underlying the referendum, it quickly becomes obvious that the UK’s exceptionalism in the process of European integration is but a symptom of a more

fundamental and far longer evolution of ideas. From this perspective, it is possible to observe continuous developments stretching across the centuries. Viewed in their entirety, they coalesce, as it were, into an intellectual and cultural history of Euroscepticism: the decision to withdraw from the EU appears less as a reaction to current or recent historical developments and more as the result of long-lasting cultural conditioning, subjective historical truths, and the emotions bound thereto.

With regard to Brexit only few attempts have been made to adopt such a long-term perspective, which historians often refer to as longue durée. It requires us to take into account the particularities of

the UK with regard to its constitutional, colonial and economic history (some of which predate today’s ‘United Kingdom’, so they are in fact features of English rather than British history). These particularities, in the view of many Britons, militate against membership in the EU and explain the desire to leave.

To this purpose, a simple thought experiment will help. For once, let us dispense with the stereotype of the leave voter being a grumpy old unemployed Northerner without any qualifications. Think of a group of middle-aged, educated, urbane, and affluent professionals instead. Ask them about their self-image and identity. They might even consider themselves to be Europhiles. Yet, after pausing for reflection and

discussion, they might agree on the following answer: ‘We are a sovereign, democratic, liberal, and cosmopolitan nation that is based on the rule of law and can look back on a thousand years of unbroken and successful history’. This, they might suggest, fundamentally differentiates their country from the continental states, whose histories have been shaped in very different ways.

This point of view itself has historical forerunners, particularly from the 19th century when it served to provide legitimacy for the country’s ‘splendid’ or ‘noble isolation’ from the continent. In the run-up to the referendum, a group of ‘Historians for Britain’ revived it with reference to a supposedly

uninterrupted, uniquely British path of development, which led to the distinctive character of the UK (for a German observer, there is a whiff of Sonderwegsthese). Their arguments have certainly not gone unchallenged, with many others highlighting the disruptive elements of British history and its embeddedness in broader European developments.

For the purposes of this essay, it is not relevant which of these two camps has a claim to the elusive prize of best approximation to ‘the historical truth’. What matters is rather that British constructions of identity are pieced together by presenting the UK as antithetical to Europe as a continent rather than to the European Union. As Matthias Häußler has recently shown in the Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte (2019, 263), this approach emerged in the British writing of history from the 1980s onwards, and it has now become a formative narrative in the political discourse.

This has occurred not least because it ties in with perceptions and ‘felt truths’ that are difficult to capture empirically. The fictitious answer of our hypothetical Brits about their shared identity can be broken down into seven basic features that are central for the self-image of the Brexiteers: sovereignty, democracy, rule of law, liberalism, cosmopolitanism, war, and continuity. This may be surprising at first glance, particularly for present-day Germans who might see the first five of these features as equally constitutive for their own national identity. However, for Germans the concepts used have very different connotations and this has immediate effects on the respective relationships with the European Union.

Sovereignty

This is particularly clear when looking at sovereignty. The concern to ‘take back control’ was central for the leave campaign. Sovereignty, according to the British understanding of the concept, is indivisible by its very nature. This reflects historical experience. England, and later the UK, has been strongly centralized since the Middle Ages. At first, the

King ruled without notable restrictions, and so did Parliament after wrestling power from the monarch. Parliamentary sovereignty continues to be the central constitutional principle of the UK. Moreover, until very recently, the regions had no powers worthy of mention, and this continues to be the case for local authorities. As a result, a culture of compromise among the constitutional powers and institutions has never emerged.

The German experience in particular has been a very different one. The Holy Roman Empire and later the German Confederation of 1815 lacked clear hierarchies. Interests had to be balanced, and for a long time undivided sovereignty remained just an idea. Once it was realized, war beckoned. Thus, in Germany there is a strong perception of the EU as a structure in

which national sovereignty is shared and pooled in order to ultimately gain more sovereignty in areas where, in light of global developments, individual Member States no longer possess the power and the ability to perform sovereign acts themselves. That this requires compromises between states is seen as the necessary price to be paid.

Viewed from the other side of the Channel, this approximates surrender. Not least for this reason, reversing the orientation laid out in the European Treaties towards an ‘ever closer union’ and returning to a loosely defined free trade area has been a major concern of the UK from the outset of its membership.

Democracy

‘Democracy’ likewise has a particular connotation in the UK. Almost every general election within living memory has guaranteed a stable majority in the House of Commons. The hung parliaments emerging from the 2010 and the 2017 general elections are widely regarded as aberrations. So is power sharing by coalition government. In normal circumstances, there is no need for the government of the day and its ruling party to compromise. There are no other serious constitutional checks and balances either: the House of Lords has not had the possibility to bring down legislation since 1910, the monarch only has a ceremonial role, and no court of law can strike down an Act of Parliament as invalid. Thus it was not entirely inaccurate when the then Lord Chancellor Hailsham suggested in 1976 that the British political system resembled an ‘elective dictatorship’.


The flip side of this system is the abrupt and brutal loss of power if the next election goes the other way. Since 1832 at the latest, there has been a direct link between the voter, his or her Member of Parliament, and the ruling party. If the voter is not satisfied, he or she can literally ‘kick out’ the MP and the government. The people are sovereign. Never does this come to life more vividly than on the day after a general election when the removal vans stop in front of 10 Downing Street and the belongings of the outgoing Prime Minister are loaded up.

How different to Germany, with its party lists, seemingly eternal coalitions, constant compromises, and the judicial review power of the courts. In the European Union all of this is even more pronounced. The division of powers between the institutions is notoriously obscure, with the Parliament traditionally having the weakest role and no possibility of deselecting the Commission. The Commission is basically run by civil servants. It is easy to get the impression that there is a lack of accountability, as the same people stay in office no matter how the elections go. Therefore, while many Germans find it difficult to regard the Union as being a democracy that is worthy of the name, this is nigh on impossible for most British observers.

Rule of Law

Moreover, the UK is used to a very specific conception of the rule of law. As developed in the 19th century, its first and foremost aim was that no politician should be above the law. It secured freedom of expression. There were no ‘political crimes’ for criticism of those in power. At the same time, in the Europe of the Restoration, Metternich censored the press and the Göttingen Seven were dismissed from their positions.


Even today, English law is very much concerned with retaining and guaranteeing a space where everyone is free to do as he or as she pleases. It is an important feature of the rule of law that there are sizable spheres of life that are not ‘juridified’, i.e. where both the legislature and the courts refrain from intervention. The judiciary in particular shows much more restraint on questions of legal policy than in

Germany, where the Federal Constitutional Court arguably has to engage in a certain degree of activism in order to uphold the Rechtsstaat. It is therefore not surprising that criticism of the alleged ‘Brussels regulation frenzy’ and the ‘judicial activism’ of the European Court of Justice is much more vehement on the other side of the Channel than in Germany.

Liberalism

In a similar vein, Johnson’s description of Brexit as ‘the great project of European liberalism’ during the referendum campaign is not particularly astonishing if a peculiarly British world view is adopted. Since the ‘Corn Laws’ of the first half of the 19th century, ‘liberal’ is more or less synonymous with free trade. The self-image is that of a sea trading nation. In the late 20th century, the free trade ideology was reinforced by Margaret Thatcher’s neo-liberal economic and social model, with the ideal of a night-watchman state, low taxes and radical deregulation.

Neither of these ideas is easy to reconcile with EU membership. On the one hand, being a member implies the loss of the possibility to conclude the much-invoked ‘global trade deals’, sovereign trade agreements with third countries outside the Common Market. On the other, from the point of view of the Brexiteers, membership forces the British under the yoke of a paternalistic European social model. When they hear ‘Europe’, they hear the bleak clattering of the small cogwheels of bureaucracy. They think of petty prohibitions and—once again—regulation, the proverbial ‘red tape’ of the ‘Brussels bureaucrats’. When asked which bits of EU law they actually object to, Brexiteers inevitably refer to the Regulation Laying Down Quality Standards for Bananas and the Working Time Directive, as applied to hospital doctors.

Cosmopolitanism

The slogan of ‘global Britain’ and the corresponding idea of a non-European identity of the UK are not entirely implausible either, at least if viewed from the other side of the Channel. Since the 17th century, British politics has been resolutely oriented towards overseas. World domination in the 19th and early 20th centuries cemented the self-image as a leading nation politically, economically, and culturally. Today’s cosmopolitanism and global outlook is closely linked to yesterday’s imperialism.

As late as 1945 a good third of the world population lived under the Empire. Half of world trade was transacted in Pounds Sterling. One-third of European industrial production took place in Great Britain. At the time of the founding of the EEC, the volume of British trade with the Commonwealth considerably exceeded that with the six founding members. For a long time, the UK saw itself in the centre of three overlapping circles of influence that embraced the Commonwealth, the USA, and Europe—and precisely in that order. In the parliamentary debates preceding the 1973 accession to the EEC, one speaker pointed out that the post office in his village received numerous letters from Sudan, Malaysia, and Jamaica, but hardly any from Belgium.

To this day, the idea of a linguistic, historical, and cultural Anglosphere is an integral part of British identity. Relatives live in New Zealand and not in Slovenia. Stopping over in Auckland has always felt more like home than visiting Ljubljana. Accession to the EEC evokes very different memories. It coincided and was inextricably linked with the process of decolonization and the decline of the Empire, as well as the

loss of economic hegemony. The hope that membership would compensate for this loss was soon disappointed, not least because it occurred at the time of the first major oil price crisis. Against this background, the post-imperial identity construction of ‘global Britain’ generates a resonance for many Britons that is entirely incomprehensible for Germans, with their non-seafaring past and their belated and feeble attempts at becoming a colonial power.

War

At least as relevant for the respective attitudes to EU membership are the different perceptions of the world wars, particularly World War II. What constitutes a traumatic collective memory in Germany is still celebrated as Britain’s ‘finest hour’. A country that has not witnessed any armed conflict with a foreign power on its own soil since 1066 is much more at ease with glorifying its military achievements and heroic tales.

It is certainly no accident that at the time of Brexit two new movies turned out to be instant blockbusters: an epic about Winston Churchill and the story of the evacuation of Dunkirk. It is often said that the war persists with the British because they were the

victors. This has a direct impact on their relationship to Europe. Europe only appears in this narrative as a place that must occasionally be saved from itself. While the motto ‘Never Again’ was virtually constitutive for early German efforts towards European unity, it hardly played a role in the British debate on Europe. The idea that the EU is primarily a peace project is acknowledged, but not given similar prominence.

Continuity

This links up with the last of the seven identity-constituting factors mentioned above, the supposedly uninterrupted continuity of the island’s polity since the Norman invasion. Standing apart from the continent, it seems, was a recipe for being spared from catastrophes. Europe equalled war, chaos, and revolution. England was synonymous with slow, careful, and unbloody change. In retrospect, these perceptions result in a hazy sentiment of being a chosen people, favoured by fate and somehow always standing on the right side of history. It was this sentiment that Labour Party leader Hugh Gaitskell tapped into when he argued in 1962 that joining the EEC would mean the end of a thousand years of history.

The optimism that all crises will be overcome, even and especially without Europe, still runs through today’s debates on Brexit. The unshakeable belief that a ‘better deal’ exists somewhere outside the EU, the assumption that you can ‘have your cake and eat it too’, Johnson’s mantra that the Brexit problem can be solved with verve, brinkmanship, and self-confidence alone—from the outside it all seems like acute self-deception. From the internal perspective it integrates seamlessly into a historical world view in which Britannia will invariably land on her feet in the end.



Narratives, Identities, and Politics

Against the self-image of the fictitious Brits, on which the historical identity constructions of the Brexiteers were presented here, it may be objected that it is just that: fictitious. In reality, the country, the people, and their self-perceptions are all significantly more pluralistic and diverse. But it is striking that many of the most influential Brexiteers read for a university degree in a historical discipline. In addition to Johnson and his Chief Adviser, Dominic Cummings, this includes

long-time MPs Jacob Rees-Mogg, Bill Cash, Douglas Carswell, John Redwood, and—in the European Parliament—Daniel Hannan. This enumeration alone shows that it is the world view of a particular class or group that permeates the political discourse. Other voices are drowned—those in power are, unsurprisingly, the ones controlling the construction of ‘the’ narrative.

From the point of view of professional historians, the use of historical arguments in the Brexit discourse is frustrating. ‘Much of this history is so very un- and antihistorical’, complained Jessica Reinisch of Birkbeck College, London. ‘History has become a caricature of parochial dreams, nostalgias


and made-up analogies’ (Cambridge Core Blog, 21 February 2019). And indeed the Brexiteers do not address how to reconcile British colonial rule with the rule of law, nor the fact that World War II would not have been winnable if it had not been for the USA and the Soviet Union—as they also fail to mention that the EU’s ‘Bendy Banana Regulation’ did not actually ban the selling of bendy bananas.

The belief in the blessings of Brexit has been compared to a religion or ideology. This is not entirely wrong. But an ideology can only exist on the basis of a particular world view. Therefore, constructions of identity are also relevant when they are incorrect. Historical narratives can develop a life of their own. This is also important for the frequently asked question about the relevance of history for

the future. Today there is a broad consensus that no instructions for future action can be derived from history. But we access the present through our understanding of what has happened so far, saturated by historical experience. The discourse surrounding Brexit shows that, when looking to the future, it is difficult to free ourselves from the ghosts of the past.

SUGGESTED CITATION Stefan Vogenauer, ‘Brexit and the Power of Historical Narratives’ Max Planck Law Perspectives (25 November 2020), https://law.mpg.de/perspectives/brexit-and-the-power-of-historical-narratives/, DOI: 10.17176/20220706-093946-0






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Essay Sagen, Schweigen und Zeigen – Wittgenstein und die „Cancel Culture“ Slavoj Žižek veröffentlicht am 17 Oktober 2023 9 min


Sprache ist eigensinnig. Nicht selten bringt sie das Gegenteil des Gesagten zum Ausdruck. Was aber lässt sich überhaupt in Worte fassen? Und was hätten Wittgenstein und Hegel zur Debatte um „Cancel Culture“ gesagt? Ein Essay von Slavoj Žižek.


„Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“

Im letzten Satz seines Tractatus verbietet Ludwig Wittgenstein das Unmögliche. Warum aber sollte man etwas verbieten, das schon an sich unmöglich ist? Die Antwort ist recht einfach: Wenn wir das Verbot ignorieren, produzieren wir Aussagen, die – für Wittgenstein – bedeutungslos sind, wie etwa Spekulationen über den noumenalen Bereich in Kants Philosophie. Jacques Lacan schränkt auf ähnliche Weise das Inzestverbot ein, indem er behauptet, dass dessen Funktion darin besteht, das Unmögliche möglich zu machen: Wenn Inzest verboten werden muss, bedeutet das, dass er grundsätzlich möglich ist, sobald wir gegen das Verbot verstoßen.

Es gibt jedoch eine Ambiguität in Wittgensteins Satz, die in der Doppelbedeutung von „kann“ liegt: Es kann eine simple ontische Unmöglichkeit oder ein deontisches Verbot bedeuten („So darfst du nicht reden/ dich verhalten!“). Der Satz kann aber auch in einem radikalen ontologischen – von Wittgenstein intendierten – Sinn gelesen werden: Es gibt Dinge, über die man nicht sprechen kann (wie etwa metaphysische Spekulationen). Oder in einem konformistisch-deontischen Sinn: „Halt die Klappe über Dinge, über die du nicht sprechen darfst!“ Das Gegenstück dieser konformistischen Weisheit ist der ethische Imperativ: „Wovon man nicht schweigen kann, darüber muss man sprechen.“


Das Schweigen brechen


Schrecken wie der Holocaust, kommunistische „Säuberungen“ oder koloniale Katastrophen können nicht schweigend übergangen werden (wie es im heutigen China geschieht), wir müssen sie ans Licht bringen. Das Gegenteil dieser ethischen Aufforderung ist eine tautologische, zynische Weisheit: „Wovon man nicht schweigen kann, darüber muss man schweigen.“ Das bedeutet: Selbst wenn man weiß, dass man nicht schweigen kann, spricht man nicht darüber, denn Reden wäre eine zu große Gefahr. Was aber wäre mit der umgekehrten Tautologie: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man sprechen“?

Diese Tautologie definiert, was Dichtung ist: Dichtung ist der Versuch, in Worte zu fassen, was nicht gesagt werden kann. Und das gilt gerade für traumatische Ereignisse wie den Holocaust. Jede prosaische Beschreibung der Schrecken des Holocaust scheitert daran, das Traumatische wiederzugeben, und deshalb hatte Theodor W. Adorno unrecht mit seiner berühmten Behauptung, dass nach Ausschwitz keine Dichtung möglich sei: Es ist die Prosa, die nicht mehr möglich ist, da nur die Dichtung diese

Aufgabe erfüllen kann. Dichtung ist die Übertragung von Unmöglichkeit in Sprache. Wenn wir etwas nicht direkt sagen können und dennoch darauf bestehen, es zu tun, geraten wir zwangsläufig in Wiederholungen, Aufschiebungen, mittelbare Rede, überraschende Brüche etc. Wir sollten uns immer vor Augen halten, dass die „Schönheit“ der klassischen Dichtkunst (symmetrische Reime etc.) erst an zweiter Stelle steht, dass sie ein Mittel ist, um das grundsätzliche Versagen oder die Unmöglichkeit zu kompensieren.


Worte als Fingerzeig


Doch das ist nicht Wittgensteins letztes Wort: Bereits im Tractatus führt er einen weiteren Begriff ein, der als Gegenstück zum Sprechen fungiert: nämlich das Zeigen. Wir können also auch sagen: „Wovon man nicht sprechen kann, das zeigt sich.“ Die Umkehrung dieser Aussage („Was man nicht zeigen kann, darüber muss man sprechen“) ist eine banale Alltagsvorstellung, da sie „zeigen“ auf die offensichtliche Bedeutung von „das, was augenscheinlich vor uns ist“ reduziert, was durch die Betrachtung des

Äußeren einer Person veranschaulicht werden kann. Das Argument ist dann, dass die Konzentration auf das Aussehen einer Person die tiefere geistige Wahrheit der Person ignoriert, die Wahrheit, die nur durch Worte wiedergegeben werden kann, die diese Wahrheit beschreiben. Gegen diese Art der Argumentation sollte man sich auf die elementare Hegelsche Frage konzentrieren: Statt danach zu fragen, was das Geheimnis hinter der Erscheinung ist, gilt es zu ergründen, warum ein Ding überhaupt erscheint.

Kurzgesagt: Wittgensteins „Zeigen“ hat nichts mit dem „Erscheinen“ zu tun, sondern mit dem, was dahinter liegt. „Zeigen“ ist die Form der Erscheinung, die ignoriert wird, wenn wir uns auf das konzentrieren, was erscheint. Wittgenstein folgt hier Karl Marx und Sigmund Freud, die beide behaupten, dass das wahre Geheimnis nicht das Jenseits der Erscheinung ist, sondern die Form selbst (die Warenform, die Form der Träume). Der Unterschied zwischen Zeigen und Schweigen besteht indessen darin, dass Schweigen ein Akt ist: Ich entscheide mich, nicht zu sprechen, was impliziert, dass ich mich bereits im Bereich der Sprache befinde (ein Stein „schweigt“ nicht). Zeigen dagegen geschieht unwillkürlich, es ist ein Nebenprodukt dessen, was ich tue, wenn ich spreche: Ich entscheide nicht (und kann es auch nicht), was ich zeigen will.


Versagendes Sagen


Diese Einsicht, die Wittgenstein in vielen Versionen formuliert (wie z.B.: „Was gezeigt werden kann, kann nicht gesagt werden“) sollte aber nicht als Hinweis auf eine unaussprechliche, tiefere Wahrheit jenseits der Worte verstanden werden. Was nicht gesagt werden kann, ist dem Sprechen vielmehr immanent, es ist die Form, die das Sprechen zeigt, es ist das, was wir tun, wenn wir etwas sagen. Zu Wittgensteins Beispiel der „Ehrlichkeit“ könnten wir „Würde“ hinzufügen: Wenn man darüber spricht, ist man nicht würdevoll oder ehrlich. Ehrlichkeit und Würde kann man nur zeigen, indem man etwas tut, indem man als ehrliche oder würdevolle Person handelt.

Es gibt etwas, das ich – in Anlehnung an eine berühmte Szene aus dem Film Vier Hochzeiten und ein Todesfall – als das „Hugh-Grant-Paradoxon“ bezeichne: Der Held versucht, seine Liebe der Geliebten gegenüber zu artikulieren, aber verfängt sich dabei in stolpernde und verwirrte Wiederholungen, und gerade das Versagen, die Liebesbotschaft auf vollkommene Weise zu überbringen, bezeugt ihre Authentizität. In seinem Scheitern daran, über seine Liebe zu sprechen, zeigt er sie (obwohl sich ein solches Versagen natürlich auch vortäuschen lässt). Wir haben es hier mit Wittgensteins Version von „Es gibt keine Metasprache“ zu tun: Ein Sprechakt kann nicht in das, was er sagt, seine eigene Form, seinen eigenen Akt einschließen.

Jon Elster hat dieses Merkmal in seinen Überlegungen zu „Zuständen, die im Wesentlichen Nebenprodukte sind“ formuliert: „Einige psychologische und soziale Zustände haben die Eigenschaft, dass sie nur als Nebenprodukt von Handlungen entstehen können, die zu anderen Zwecken unternommen werden. Sie können also niemals intelligent und absichtlich herbeigeführt werden, weil der Versuch, dies zu tun, den Zustand, den man herbeiführen will, ausschließt. Ich nenne sie ‚Zustände, die im Wesentlichen Nebenprodukte

sind‘. Es gibt viele Zustände, die als Nebenprodukte individuellen oder kollektiven Handelns entstehen können, aber dies ist die Teilmenge der Zustände, die nur auf diese Weise entstehen können. Einige dieser Zustände sind sehr nützlich oder wünschenswert, sodass es sehr verlockend ist zu versuchen, sie herbeizuführen. Wir können solche Versuche als ‚Willensüberschuss‘ bezeichnen, eine Form der Hybris, die unser Leben durchdringt, vielleicht sogar in zunehmendem Maße.“


Wider die Autorität der ersten Person


Unter den vielen Beispielen, die Elster anführt (wie z.B. „Gute Kunst ist beeindruckend; Kunst, die beeindrucken soll, ist es dagegen selten“), sollte man das Thema Authentizität und Aufrichtigkeit erwähnen: „Die Begriffe Aufrichtigkeit und Authentizität haben, wie die Begriffe Weisheit und Würde, immer einen leicht lächerlichen Beigeschmack, wenn sie in der ersten Person Singular verwendet werden, was die Tatsache widerspiegelt, dass die entsprechenden Zustände im Wesentlichen Nebenprodukte sind. (…)

Das Unbenennbare zu benennen, indem man über etwas anderes spricht, ist eine asketische Praxis und passt schlecht zur Selbstbeweihräucherung.“ Elster erwähnt hier das „Unbenennbare“, was uns zu Wittgenstein zurückbringt: Aufrichtigkeit und Authentizität lassen sich nicht sagen, sondern nur zeigen, indem man sie praktiziert; eine Lektion, die dem Authentizitätskult, der unsere Kultur seit den 1950ern durchdringt, einen schweren Schlag versetzt.

Könnte man – in Anlehnung an Bertrand Russells berühmten Seitenhieb gegen Wittgenstein (dem es, so Russel, gelinge, eine ganze Menge über das Unsagbare zu sagen) – nicht sagen, dass es Elster ebenfalls gelingt, eine ganze Menge über die Dimension zu sagen, die er für „unbenennbar“ erklärt? Dieser Vorwurf geht jedoch an der Sache vorbei. Natürlich können wir darüber sprechen, was eine Rede anzeigt, aber

nicht in der ersten Person: Ich kann mich nicht selbst als authentisch oder würdevoll bezeichnen. Wenn ich das tue, untergrabe ich meine Authentizität oder Würde, die sich nur in meinem Handeln zeigen kann. Die Aussage „Es gibt keine Metasprache“ ist genau in diesem Sinne zu verstehen: Ich kann meine Aussageposition (die gegebenenfalls Würde anzeigen kann) nicht in meinen eigenen geäußerten Inhalt einbeziehen.


Nationalismus und Cancel Culture


Und gilt nicht etwas Ähnliches auch für die beiden Pole des heutigen globalen politischen Raums, den autoritären Nationalismus und die Cancel Culture? Am 29. September 2023 kündigte der russische Außenminister Sergej Lawrow – wie MSN berichtet – an, dass Moskau zu Gesprächen über die Ukraine bereit

sei, wenn diese die Situation vor Ort und die Sicherheitsinteressen Russlands berücksichtigen würde. Das bedeutet: Wir sind zu Friedensverhandlungen bereit, sofern die Ukraine akzeptiert, dass die von

Russland besetzten Gebiete zu Russland gehören, und sofern sie ihre Politik radikal ändert (Russland fordert die „Entnazifizierung“ der Ukraine), kurzgesagt: sofern die Ukraine kapituliert. Der westlich-liberale Ansatz wird von antikolonialen Kritikern oft in die gleiche Richtung problematisiert: Für die westlichen Liberalen wird der

demokratische Austausch in Begriffen formuliert, die insgeheim die Logik der westlichen Demokratie und Freiheit erzwingen, sodass der Beitritt zum liberalen Pluralismus effektiv auf eine Kapitulation vor westlichen Werten hinausläuft. Lawrow setzt die von antikolonialen Kritikern problematisierte Logik in

ihrer reinen Form durch. Im Sinne Wittgensteins spricht Lawrow von Verhandlungen, aber was er mit seiner Rede zeigt, ist das genaue Gegenteil von Verhandlungen, nämlich eine brutale, exklusive Durchsetzung der eigenen Position.

In diesem Sinne kann ich mir gut vorstellen, dass Hegel einen mehrfachen intellektuellen Orgasmus hätte, wenn er die (für ihn) offensichtliche Notwendigkeit der Umkehrung von Inklusion und Vielfalt in ein

Verfahren der systematischen Ausgrenzung aufzeigen würde: „Wie lange können Teile der liberalen Linken

noch behaupten, dass ‚Cancel Culture‘ nur ein Hirngespinst der Rechten ist, während sie herumlaufen und Konzerte, Comedy-Shows, Filmvorführungen, Vorträge und Gespräche absagen?“ Was die „Cancel Culture“ durchdringt, ist eine „Nicht-Debatten-Haltung“: Nicht nur wird eine Person oder Position

ausgeschlossen, sondern was ausgeschlossen wird, ist die Debatte selbst, die Gegenüberstellung von Argumenten für oder gegen den Ausschluss. Hegel hätte hier dasjenige mobilisiert, was Lacan die Kluft zwischen dem geäußerten Inhalt und der Haltung, die der Äußerung zugrunde liegt, genannt hat: Man

argumentiert für Vielfalt und Inklusion, aber man tut dies, indem man all jene ausschließt, die sich nicht vollständig der eigenen Definition von Vielfalt und Inklusion anschließen. Man schließt also permanent Menschen und Positionen aus.


Verkehrte Verhältnisse


Auf diese Weise entsteht im Kampf für Inklusion und Vielfalt eine Atmosphäre des stasiähnlichen Misstrauens und der Denunziation, in der man nie weiß, wann eine private Bemerkung dazu führt, dass man aus dem öffentlichen Raum ausgeschlossen wird. Ist das nicht die extreme Version des Witzes über den

Verzehr des letzten Kannibalen? „In unserer Gruppe gibt es keine Gegner von Vielfalt und Integration; wir haben den letzten soeben ausgeschlossen.“ Um es noch einmal in Wittgensteinschen Worten zu sagen: Cancel Culture spricht zwar von Vielfalt und Inklusion, zeigt aber eine Haltung der extremen Ausgrenzung.

Eine solche Umkehrung von Inklusion in Exklusion gehorcht auch einer tiefen Hegelschen Dialektik, nämlich der Umwandlung einer äußeren Bedrohung in einen immanenten Antagonismus, wie Elster treffend in Bezug auf die heute in Mode gekommene Vorstellung von der bedrohten Demokratie feststellte: „Wir können das gängige Diktum, dass die Demokratie bedroht ist, umkehren und behaupten, dass die Demokratie die Bedrohung ist, zumindest in ihrer kurzfristigen, populistischen Form.“ Genau wie im Fall von Cancel Culture: Auch hier liegt die Bedrohung für Inklusion und Vielfalt gerade in der Inklusion und Vielfalt selbst, wenn diese auf eine Weise praktiziert werden, die extreme Ausgrenzung – im Sinne Wittgensteins – zeigt. •



Nachruf Der Amateurphilosoph aus dem Pentagon Slavoj Žižek veröffentlicht am 05 Juli 2021 8 min


Freiheit als Wissen um das Nichtwissen



Heute wissen wir, dass Menschen im Mittelalter oder in der Frühmoderne weit weniger wussten, aber sie selbst waren sich dessen nicht bewusst, weil ihr Denken auf einem stabilen ideologischen Fundament beruhte, das das Universum als bedeutungsvolles Ganzes verstand. Das Gleiche gilt für einige Spielarten kommunistischer Zukunftsvisionen, ja

selbst für Francis Fukuyamas Idee vom „Ende der Geschichte“: Sie alle gingen davon aus, dass sie wussten, in welche Richtung sich die Geschichte bewegt. Habermas lag zudem auch darin richtig, die aktuelle Unsicherheit in „den Köpfen der medial vernetzten Individuen selbst“ zu verorten. Unsere Verbindung mit dem vernetzten Universum erweitert unser Wissen auf äußerste Weise, erzeugt gleichzeitig aber auch eine extreme Unsicherheit

(Wurden wir gehackt? Wer kontrolliert unseren Zugang? Handelt es sich um Fake News?). Die fortlaufenden Entdeckungen über ausländische Hackerangriffe auf amerikanische Regierungsinstitutionen und Großunternehmen veranschaulichen diese Unsicherheit: Amerikaner können nicht einmal das Ausmaß und die Methoden dieser Hacker-Angriffe bestimmen. Die virale Bedrohung ist nicht nur biologisch, sondern auch digital.

Es ist kein Geheimnis, was nun getan werden muss – Greta Thunberg hat es bereits klargemacht. Erstens müssen wir die pandemische Krise als das erkennen, was sie ist: ein Teil einer globalen Krise unseres Way of Life, von der Ökologie bis hin zu neuen sozialen Fragen. Zweitens sollten wir neue Formen zur Kontrolle und Regulierung der

Wirtschaft einführen. Drittens sollten wir der Wissenschaft folgen, aber ohne ihr einfach die Entscheidungen zu überlassen. Warum nicht? Hier muss man nochmal auf Habermas zurückkommen: Unser Dilemma besteht darin, dass wir gezwungen sind zu handeln, während wir wissen, dass wir das Koordinatensystem unserer aktuellen Situation gar nicht vollständig überblicken – bloßes Nicht-Handeln aber auch eine Form von Handeln wäre. Ist das jedoch letztlich nicht die Grundkonstellation jeder Handlung? Unser großer Vorteil

liegt darin, dass wir wissen, wieviel wir nicht wissen, und gerade dieses Wissen um unser Nichtwissen eröffnet einen Freiheitsraum. Wir handeln, weil wir die Situation nicht komplett übersehen können, aber das dürfen wir nicht einfach als Begrenzung verstehen. Was uns Freiheit verleiht, ist die Tatsache, dass die Situation – zumindest innerhalb der sozialen Sphäre – selbst offen, also nicht komplett (vorher-)bestimmt ist.

Wir sollten Habermas Bemerkung, dass wir noch nie so viel Wissen über unser Nichtwissen hatten, nun durch Rumsfelds Kategorien betrachten. Die Pandemie erschütterte das, was wir (dachten, dass wir) wissen, das wir wissen. Sie offenbart uns, was wir nicht wissen, was wir nicht wissen. Und bei der Art, wie wir auf die Pandemie reagiert haben, setzten

wir auf das, von dem wir nicht wissen, dass wir es wissen (all die Annahmen und Vorurteile, die unser Handeln bestimmen, obwohl wir uns ihrer gar nicht bewusst sind). Wir haben es hier nicht einfach mit dem Übergang vom Nichtwissen zum Wissen zu tun, sondern mit dem komplizierteren Übergang vom Nichtwissen zum Wissen darüber, was wir nicht wissen – unser positives Wissen bleibt bei diesem Prozess dasselbe, aber es entsteht dabei ein Freiraum fürs Handeln.


Vorteil China


Gerade wenn wir unseren Blick auf das richten, was wir nicht wissen, unsere Annahmen und Vorurteile also, wird deutlich, dass das Vorgehen Chinas (sowie auch Taiwans und Vietnams) in der Pandemie deutlich besser war als das Europas und der Vereinigten Staaten. Einer ständig wiederholten Behauptung bin ich deshalb besonders leid. Sie lautet: „Sicher, die Chinesen haben das Virus zwar sehr effektiv eingedämmt, aber zu

welchem Preis?“ Während uns nur ein Whistleblower die ganze Wahrheit darüber erzählen könnte, was dort wirklich vor sich ging, ist eines klar: Nachdem das Virus in Wuhan ausbrach, verhängten die chinesischen Verantwortlichen einen harten Lockdown, stoppten den Großteil der wirtschaftlichen Produktion im Land und stellten so den Schutz von Menschenleben eindeutig über ökonomische Interessen.

Zugegeben geschah das mit einiger Verzögerung, dennoch wurde die Krise hier extrem ernst genommen. Diese Strategie bewährt sich nun und China erntet die Früchte dafür, auch wirtschaftlich. Um es allerdings an dieser Stelle ganz klar zu sagen: Das war nur möglich, weil die Kommunistische Partei immer noch in der Lage ist, die Wirtschaft zu kontrollieren und regulieren. Die Marktmechanismen werden also politisch kontrolliert, auch wenn es sich dabei um eine „totalitäre“ Form der Kontrolle handelt. Die Pandemie ist nicht nur ein viraler Prozess, sondern auch ein Prozess, der sich innerhalb eines ökonomischen, sozialen und ideologischen Koordinatensystems abspielt, das offen für Veränderungen ist.

Laut der Theorie komplexer Systeme haben solche Systeme zwei gegensätzliche Eigenschaften: Sie verfügen über eine robuste Stabilität, sind gleichzeitig aber auch extrem verwundbar. Derartige Systeme können sich also an massive Störungen anpassen, diese integrieren und so ein neues Gleichgewicht, eine neue Stabilität erzeugen – jedoch nur bis zu einem bestimmten Kipppunkt. Ab diesem Kipppunkt können wiederum auch kleinste

Störungen eine totale Katastrophe auslösen, die eine völlig neue Ordnung erfordern. Über Jahrhunderte hinweg musste sich die Menschheit keine Sorgen um die Auswirkungen ihrer Wirtschaftsweisen auf die Umwelt machen, weil sich die Natur an das Ausmaß der Abholzungen, dem Gebrauch von Kohle und Öl usw. anpassen konnte. Allerdings scheint es nun so zu sein, dass wir uns einem solchen Kipppunkt nähern – obschon man hier nicht ganz sicher sein kann, da diese erst dann wirklich zu identifizieren sind, wenn es bereits zu spät ist.


Es gibt keinen Mittelweg


Im Hinblick auf die Dringlichkeit, mit der wir den verschiedenen drohenden ökologischen Katastrophen begegnen müssen, befinden wir uns also in einem Dilemma: Entweder wir nehmen die Bedrohungen ernst und beschließen jetzt zu handeln, was, wenn die Katastrophe

nicht eintritt, im Nachhinein lächerlich erscheinen mag. Oder wir tun nichts und verlieren im Falle der Katastrophe alles. Wobei die schlechteste Wahl in der eines Mittelwegs bestünde, bei der wir nur eine begrenzte Anzahl an Maßnahmen ergriffen. In

diesem Fall würden wir nämlich als Verlierer dastehen, ganz gleich, ob es zur Katastrophe käme oder nicht. Das Problem ist nämlich, dass es in Bezug auf die ökologische Krise schlicht keinen Mittelweg gibt: Entweder sie tritt ein oder sie tritt nicht ein. In einer solchen Situation wird das Gerede von Prognosen, Vorsorge und Risikokontrolle schlicht und ergreifend bedeutungslos, da wir es mit den „unbekannten Unbekannten“ zu tun haben: Wir wissen nicht nur nicht, wo der Kipppunkt liegt, wir wissen überdies nicht einmal, was wir über ihn noch alles nicht wissen.

Der beunruhigendste Aspekt der ökologischen Krise hat allerdings mit dem sogenannten „Wissen im Realen“ zu tun, das zu einem Dominoeffekt führen kann: Wenn Winter zu warm werden, deuten Pflanzen und Tiere diese Temperaturen im Februar fälschlicherweise als

Zeichen dafür, dass der Frühling bereits begonnen hat und fangen an, sich entsprechend zu verhalten, wodurch sie nicht nur selbst anfällig für spätere Kälteeinbrüche werden, sondern auch den gesamten ökologischen Kreislauf durcheinanderbringen. Exakt so sollten wir uns nämlich eine mögliche Katastrophe vorstellen: Störungen im Kleinen, die global verheerende Folgen haben.

Wir täten also gut daran, hielten wir uns im Fall Donald Rumsfelds an die alte lateinische Weisheit „de mortuis nihil nisi bene“ („von Verstorbenen soll man nur Gutes sagen“). Wir sollten all seine katastrophalen Entscheidungen ignorieren und uns an ihn als einen Amateurphilosophen erinnern, der einige Unterscheidungen einführte, die für die Analyse unserer misslichen Lage hilfreich sind. •



Timo Klär


egenden, wo die römische Lebensweise noch nicht Einzug gehalten hatte, markiert. In den entmilitarisierten Teilen, wie etwa der Baetica, wurde ein senato- rischer proconsul eingesetzt, in den militarisierten, d.h. der Lusitania und der


Tarraconensis, ein legatus Augusti pro praetore. Dieser stand unter dem Kommando des princeps. Eine weitere Maßnahme bestand in der Einrichtung sogenannter conventus iuridici innerhalb der einzelnen Provinzen. Diese waren eine juristische Einrichtung und dienten vor allem dem Umgang des Provinzstatthalters mit der Bevölkerung. Als Einrichtung gab es sie noch im 5. Jahrhundert n. Chr. Die conventus, sieben in der Tarraconensis, drei in der Lusitania und vier in derBaetica, zwangen die ländliche Bevölkerung dazu, vorübergehend in die Nähe von Städten zu ziehen, um ihre Interessen wahrzunehmen. Somit konnten durch die conventus die Ungleichheiten zwischen der Stadt- und Landbevölkerung beseitigt werden. Augustus war außerdem darauf bedacht, überall auf der Halbinsel Städte zu errichten.


Diese Maßnahmen und Verwaltungsreformen des Augustus trugen, nach dem heutigen Stand der Forschung, maßgeblich dazu bei, dass sich die lokale Elite bemühte, römisch zu werden. Dabei war die Bereitschaft der hispanischen Eliten zur Zusammenarbeit mit Rom entscheidend für eine erfolgreiche Beherrschung und Verwaltung Hispaniens auch in der Zeit nach Augustus. Die Einführung der römischen Verwaltung und Rechtsprechung, verbunden mit der Verwendung der lateinischen Sprache, war ein erster wichtiger Schritt in der Übernahme der römischen Kultur und Lebensweise durch die einheimische Bevölkerung. Zunehmend wurden auch lateinische Literatur und römische Architektur gepflegt. Und nicht nur die hispanischen Eliten, sondern auch Teile der breiteren Bevölkerung bemühten sich darum, römische Bürger zu werden, da damit Vorteile für fast alle Lebensbereiche verbunden waren. Aber erst in flavischer Zeit wurde unter Vespasian das ius Latii, also das latinische Bürgerrecht, allen Städten auf der Halbinsel gewährt, wodurch die Romanisierung Hispaniens weitere Fortschritte machte.


Als Quelle ist hierzu vor allem die in den 1980er Jahren gefundene lex Irnitana bedeutsam. Das ius Latii ist ein Zeichen dafür, dass Hispanien als vollständig integrierte Provinz des römischen Imperiums angesehen wurde. Alle Bewohner der Iberischen Halbinsel galten damit als Teil der res publica romana.16 Mit dem Gesetz Vespasians wurde hispanischen Provinzialen schließlich der Weg an den Kaiserhof geebnet, sei es als Beamte am Kaiserhof oder später sogar als princeps.


1.1.3 Die Romanisierung Hispaniens in der hohen Kaiserzeit


Bis zur Zeit des Marcus Aurelius erlebten die hispanischen Provinzen eine Friedenszeit. Größere militärische Unternehmungen scheint es nicht gegeben zu haben, nur ein paar kleinere Raubzüge sowie ein kurzer Feldzug gegen die Kantabrer sind bezeugt. Die Friedenszeit wird auf den Münzen Hadrians folgendermaßen illustriert: Auf dem Revers ist neben einem Kaninchen die personifizierte

Hispania zu seh en, die einen Ölzweig in der Hand hält und sich auf einem Berg abstützt. Der Berg deutet auf den in Hispanien betriebenen Bergbau hin, das Kaninchen und der Ölzweig auf die Fruchtbarkeit der Provinz.17 Diese Münzen heben Hispanien also in der hohen Kaiserzeit als eine befriedete Provinz hervor. Nichts deutet mehr auf die teilweise mit Gewalt durchgesetzte Unterwerfung der Provinz hin.


Theodor Mommsen charakterisierte diese Friedenszeit im fünften Buch seiner „Römischen Geschichte“ folgendermaßen: „Die einheimische Bevölkerung Spaniens, welche also teils mit italischen Ansiedlern ver- mischt, teils zu italischer Sitte und Sprache hingeleitet ward, tritt in der Geschichte der Kaiserzeit nirgends deutlich erkennbar hervor.“18


Einerseits liefert Mommsen mit dieser Aussage einen Grund dafür, weshalb das Interesse der principes an Hispanien bis zu Marcus Aurelius abnahm. Der Friede in Hispanien war anscheinend nicht gefährdet und ein Eingreifen der principes auf der Iberischen Halbinsel war zu dieser Zeit kaum erforderlich. Das Territorium wurde weitestgehend sich selbst überlassen. Erst unter Marcus Aurelius rückte die Iberische Halbinsel wieder in den Fokus der Herrschaftszentrale, wobei dies durch zwei Einfälle der Mauri 171–173 und 177 n. Chr. provoziert wurde. Die Bedrohungen setzten sich unter Septimius Severus fort, sowohl im Norden während der Bürgerkriege, die seine ersten Regierungsjahre begleiteten, als auch im Süden, wiederum durch die Mauri.19


Andererseits bewertet Mommsen mit seinem Urteil implizit auch den Fort- schritt der Romanisierung in Hispanien. Insgesamt sieht er das Gebiet als Muster beispiel der Romanisierung: „[…] in der Kaiserzeit [wurde] in keiner Provinz die Romanisierung so energisch von oben herab gefördert wie in Spanien.“20 Diese Aussage legt eine gleichmäßige Romanisierung der verschiedenen Gebiete Hispa-niens nahe. Tatsächlich war dies aber wohl nicht der Fall. Gerade in den Gebieten, die weitestgehend von einer römischen Einwanderung freigeblieben waren, etwa die Lusitania oder die Gallaecia hielten sich die iberischen Traditionen länger als in den anderen Gebieten. Dies lässt sich unter anderem an den religiösen Bräu- chen fassen. In den genannten Gebieten ist eine Verehrung einheimischer Götter bezeugt.21 In Gebieten wie der Baetica hingegen, die eine relativ starke Romani- sierung erfahren hatten, ist kein einziger Votivstein mit einheimischen Göttern gefunden worden.


Ein entsprechender Befund zeigt sich auch im Hinblick auf die Verwendung der einheimischen Schrift in den romanisierten Gebieten. Gab es während der Eroberungsphase Münzprägungen, auf denen die iberische und lateinische Schrift gemeinsam zu finden sind, so scheint die iberische Sprache während der Kaiserzeit zugunsten des Latein nicht mehr verwendet worden zu sein.22 Auch der Nachweis einheimischer Inschriften ist schwierig zu führen, da diese im öffentlichen Raum kaum Verwendung fanden. Mommsen geht aber davon aus, dass es einheimische Inschriften, die in jüngere Zeit datieren, gegeben hat.23 Im Verlauf der Romanisierung gingen die Einheimischen auch dazu über, lateinische Schrift zeichen zu übernehmen.24

Was die einheimische Sprache anbelangt, so wurde sie noch nach der römi- schen Eroberungsphase gepflegt. Schon Mommsen unterschied zwischen einem nord- und südspanischen iberischen Dialekt, der sich in den weniger romanisier-ten Gegenden Hispaniens länger gehalten haben dürfte als in den Gegenden mitvermehrter römischer Präsenz.


Auch für die Tarraconensis, zu der auch die Vasconia vermutlich bis in spätantike Zeit gehörte, ist eine Weiterverwendungeinheimischer Namensgebung bis ins 3. Jh. n. Chr. bezeugt. Hinzuweisen ist auchauf die Inselgruppe der Balearen, die seit dem 2. Jahrhundert v. Chr. zum römi-schen Hispanien gehörte; hier treten auf Inschriften der Kaiserzeit indoeuropäi-sche Namen auf, obwohl die Balearen seit augusteischer Zeit als verhältnismäßigstark romanisiert gelten.25 Dies lässt einerseits erkennen, dass die einheimischeBevölkerung noch Jahrhunderte nach der römischen Eroberung an ihren Traditio-nen festhielt. Andererseits wird daran auch deutlich, dass die Römer einheimische Traditionen tolerierten.


Als wichtiger Faktor der Romanisierung spielte die Armee im regionalen Rahmen eine wichtige Rolle. Sie brachte zum einen der hispanischen Bevölke-rung die römische Lebensart näher und zum anderen sorgten Veteranen aus His-panien, die nach ihrer Dienstzeit wieder in ihre Heimat zurückkehrten, dafür, dass diese Lebensart nicht mehr verloren ging, zumal die Soldaten durch ihren Militär-dienst das römische Bürgerrecht erwerben konnten und sich zudem an den Gebrauch der lateinischen Sprache gewöhnt hatten. Die Veteranen waren in den his-panischen Städten dann auch Teil der Führungsschicht und förderten auf diese Weise die kulturelle Assimilation.26


Weiterhin erfuhr die Romanisierung durch eine enorme Erweiterung des Straßennetzes einen Schub: „Die Pflasterstraßen – jenes Straßennetz, das gebaut wurde, um die militärische und verwaltungstechnische Kommunikation mit den ausgedehnten Territorien, die von Rom unterworfen worden waren, zu sichern – verbanden auch Völker und Menschen. Es waren diese Wege, über die Neuerungen, Gebräuche und soziale Umgangsformen Verbreitung fanden. Rom exportierte seine Lebensart in die Provinzen […]. Im Gegenzug importierte es die Führungseliten der Provinzen, die ab dem 1. Jahrhundert dem Römischen Reich ein neues Gepräge verliehen.“27

Insgesamt lässt sich in der Entwicklung des Straßennetzes allerdings ein Nord-Süd-Gefälle feststellen. Das Straßennetz des Nordwestens war am besten ausgebaut, das der Baetica sehr viel weniger. In der Baetica hat aber wohl die Schifffahrt eine wichtige verkehrstechnische Rolle übernommen.


1.1.4 Das römische Hispanien in der Spätantike


Das römische Hispanien in der Spätantike ist in den letzten Jahren zu einem inten-siv behandelten Forschungsgegenstand geworden. Nicht nur im spanisch-sprachigen, sondern auch im englisch- und deutschsprachigen Raum wurden ver-schiedene Aspekte des spätantiken Hispanien erforscht. 2004 erregte das Buch „Late Roman Spain and its Cities“ von Michael Kulikowski Aufsehen. Der Autor vertritt die These, dass das römische Hispanien mit dem Tode Maiorians im Jahre 461 n. Chr. unterging, da nach dessen Tod die römische Bürokratie zerfallen sei.28 Gegen diese Meinung regte sich alsbald Widerstand. Sowohl Walter Goffart als auch Javier Arce haben zu zeigen versucht, dass die bürokratischen Strukturen bis in das 7. Jh. n. Chr. hinein fortbestanden.29 Diese Forschungsdiskussion zur Frage, ob in Hispanien von einem abrupten Ende der römischen Verwaltung und infol-gedessen auch der Kultur oder eher von einem allmählichen Verwandlungspro- zess auszugehen ist, scheint noch keineswegs abgeschlossen zu sein. Sicher ist aber, dass sich die römische Herrschaft in Hispanien seit dem An-fang des 5. Jh. n. Chr. fremden Mächten gegenüber sah: Germanische Völker wiedie Sueben, Vandalen, Alanen und Westgoten waren nun auf der Iberischen Halb-insel präsent. Nach und nach wurden die anderen Stämme von den Westgotenbesiegt, die sich dauerhaft in Hispanien niederließen. Die Westgoten sollten bis ins 8. Jh. n. Chr. hinein die Iberische Halbinsel beherrschen. Durch die eindrin-genden Araber wurden sie dann besiegt. In der Spätantike mussten sich die Römer also mit verschiedenen germani- schen Stämmen auseinandersetzen. Die über Jahrhunderte andauernde Präsenz dergermanischen Stämme in Hispanien bedeutete keineswegs, dass Rom bzw. By-zanz den Anspruch auf die Oberherrschaft aufgegeben hätten. Die Rückerobe-rungspolitik Iustinians bewirkte eine fragile Fortführung römischer Strukturen, gab es doch von 552–624 n. Chr. im Süden der Iberischen Halbinsel, unmittelbar an der Grenze zum Westgotenreich, eine römische Provinz mit dem Namen Spania.30 Auch versuchten die oströmischen principes durch Korrespondenzen


und Gesandtschaften ihren politischen Anspruch aufrecht zu erhalten und für dieBelange der ibero-römischen Bevölkerung einzutreten. Hispanien scheint aller-dings für die oströmischen Autoren keine sehr große Rolle gespielt zu haben, da selbst die Eroberung 551/52 n. Chr. nur am Rande erwähnt wird.31 Insgesamt sind die Quellenlage und die Forschungsliteratur zur byzantinischen Epoche auf der Iberischen Halbinsel zwar nicht umfangreich, noch steht eine vollständige Erfas-sung des Quellenmaterials aus.


1.1.5 Zur Kontinuität der römischen Kultur bis in die Spätantike und das Frühmittelalter

Die Notitia Dignitatum belegt noch in den ersten drei Jahrzehnten des 5. Jh. eine komplexe administrative Gliederung des spätantiken weströmischen Reiches, also auch Hispaniens, und gibt einen Überblick über die militärischen und zivilen Dienststellen sowie die Heeresaufteilung in Ost- und Westrom. Betrachtet man darüber hinaus den dritten Band der Prosopography of the Later Roman Empire, der die Zeit zwischen 527 und 641 n. Chr. behandelt, so fällt auf, dass die römische Terminologie der militärischen und zivilen Ämter in Hispanien während dieser Zeit immer noch Bestand hatte.

Archäologische Quellen haben in den letzten Jahren für das spätantike Hispanien einen Erkenntniszuwachs erbracht. Im kultischen Bereich wird mittlerweile vermehrt die These vertreten, dass es eine Kontinuität des Römischen bis in die Spätantike gab.32 In der Literatur wird außerdem auf Sepulkralgemeinschaften der westgotischen und provinzialrömischen Bevölkerung hingewiesen.33


Darüber hinaus lässt sich diese Synthese auch am epigrafischen Material beobachten. Besonders deutlich zu sehen ist sie an Grabsteinen oder Votivtafeln. Die Nekropolen weisen auf römische Vorstellungen und Riten hin. Es ist dort eine Weiterverwendung der römischen Titulaturen bis weit in die Westgotenzeit hinein zu erkennen. Im 19. Jh. gefundene Inschriften, die sich in die Westgotenzeit datie ren lassen, weisen auf einen Gebrauch des Lateinischen auch unter dem germanischen Stamm hin.


Eine Kontinuität des Römischen gilt auch im Wesentlichen für die wirtschaftlichen Aspekte. Die Produktion von terra sigillata ist noch im gesamten 5. Jh. bezeugt. Ebenso lässt sich eine Kontinuität in der Siedlungsstruktur nachweisen, auch wenn diese sich im Laufe der Jahrhunderte geändert hat. Während kleinere Städte an Bedeutung verloren, gewannen größere Städte an Wichtigkeit und wurden im 3. und 4. Jh. n. Chr. sogar neu befestigt. Ähnliches lässt sich in Bezug auf ländliche Gegenden gegenüber luxuriösen Residenzen feststellen. Nach der Neuordnung der Provinzen durch Diocletian im 4. Jh. n. Chr. ist nochmals ein starkes Gefälle zwischen den Städten zu beobachten. Städte, in denen die einzelnen Pro vinzstatthalter residierten und die unter dem Patronat des princeps standen, wur den gegenüber anderen Städten bevorzugt.34


Alle diese Quellen geben Hinweise auf eine Kontinuität des Römischen bis in die Spätantike.


1.2 FORSCHUNGSÜBERBLICK ZUR ROMANISIERUNGSFORSCHUNG 1.2.1 Allgemeiner Überblick


Die Quellen der römischen Kaiserzeit machen deutlich, dass die Romanisierung im gesellschaftlichen Leben präsent war. Neben zahlreichen literarischen Zeugnissen ist die Romanisierung in epigrafischem, numismatischem sowie archäologischem Quellenmaterial nachzuweisen.

Als Pioniere der Romanisierungsforschung im 19. Jh. und beginnenden 20. Jh. gelten Theodor Mommsen (1817–1903) und Sir Francis Haverfield (1860–1919). Mommsen ist es wegen der Fruchtbarmachung der Epigrafik sowie der Numismatik für die Romanisierungsfrage zu verdanken, dass eine Beschäftigung mit der Provinzialbevölkerung überhaupt erst möglich wurde.35 Diese führte in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung zu neuen Erkenntnissen. Ging man bisher davon aus, dass italische Einwanderer die Elemente römischer Kultur in den Nordwestprovinzen verbreiteten, gelangte man nun zur Erkenntnis, dass diese römischen Funde von Einheimischen stammten.


Langfristig führte dies zu einer intensiveren Beschäftigung mit den Provinzen und damit einhergehend zu einer stärkeren Beschäftigung mit der Kaiserzeit. Das Hauptarbeitsfeld Mommsens war, wie zu seiner Zeit üblich, die römische Republik, erst spät beschäftigte er sich mit der Kaiserzeit.36


Die Archäologie als Forschungsfeld der Romanisierung entdeckte der Brite Francis Haverfield. Die unzureichende Beachtung der Archäologie im Werk Mommsens sah er als eine Lücke an, die er schließen wollte.37 Er entwickelte „Romanization“ als Konzept und wollte damit die Folgen für die römische Provinz Britannia erklären, die durch die römische Eroberung entstanden waren.38 Haverfield beschäftigte sich vornehmlich mit der Kaiserzeit, die Republik spielte für ihn nicht so eine große Rolle.39




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Phenomenological Reviews


Jerry Z. Muller: Professor of Apocalypse: The Many Lives of Jacob Taubes Professor of Apocalypse: The Many Lives of Jacob Taubes Book Cover Titel: Professor of Apocalypse: The Many Lives of Jacob Taubes Autor: Jerry Z. Muller Verlag: Princeton University Press Erscheinungsdatum: 2022 Format: Hardback $39.95 / £30.00 Seiten: 656

Reviewed by: Michael Maidan (Independent Scholar)


Woody Allen’s 1983 movie Zelig portrays an individual with an uncanny ability to adapt to his environment to the point that, like a chameleon, he transforms and becomes one with his surroundings. Examined by a psychiatrist, he declares himself a psychiatrist and starts using psychoanalytic terms. In the company of Irish customers in a bar during St. Patrick’s Day, his physiognomy changes, and he becomes Irish. But he is neither a psychiatrist nor Irish.


To some extent, this biography of Jacob Taubes (1923-1987), rabbi, philosopher of Judaism, and sociologist of religion who wandered from Vienna to Zurich, from Zurich to New York, Jerusalem, and Berlin, who cultivated close links with scholars both from the left and from the right, reads like the history of the Zelig character, never totally to ease with his milieu.


To disclose the secret of this enigmatic character and to paint a rich picture of his times is the aim of this book, six hundred pages strong, which documents Taubes‘ life and works in exquisite detail. Muller worked on published books —including Taubes’ first wife’s penned Divorcing— archival materials and dozens of interviews with Taubes’ friends, colleagues, and acquaintances.


Muller mentions that he spent over ten years researching Taubes, trying to unveil the secret of his Zelig. This undertaking may raise some eyebrows, as Taubes‘ contribution to scholarship is scarce, and some, including Muller, consider it derivative. When he died in 1987, Taubes left behind one book, published forty years earlier, and papers, book chapters, and reviews from the later fifties and early sixties of the last century. It fell to Muller to balance Taubes‘ many personal failings, both as an individual and


as a scholar, with his contributions to the study of apocalyptic religion as a form of social criticism. To some extent, Muller performs this balancing act by invoking Taubes‘ less than stellar mental health, which in his late years exploded into full-blown clinical depression. It begs the question of why Muller, skeptical of the contents of Taubes‘ ideas, invested ten years in writing Taubes‘ intellectual biography. At least part of the answer can be found in the credits and acknowledgment section at the book’s

end. Muller mentions there having met Taubes in Jerusalem. Muller was at that time looking for a subject to write his Ph.D. thesis. He was interested in processes of radicalization and de-radicalization of intellectuals, particularly of a group of New York intellectuals who had espoused leftist views but eventually became hard-core members of the neoconservative movement. Muller finally dropped the subject, writing a thesis on the case of sociologist Hans Freyer and his transition from Nazi sympathizer to liberal democrat. His approach, in this case, seems similar.

Muller’s account is thorough and starts with a portrait of Taubes‘ family, which traced their roots to Talmudic scholars and Hassidic rabbis on both sides of the family. Taubes‘ father, Zwi Taubes, was an orthodox rabbi, but his education also included secular studies. Taubes‘ mother trained as a teacher of Judaic subjects. Muller takes time to explain the differences and nuances between traditional and the different streams of modern Jewish orthodox education. Finally, he refers to Zwi Taube’s main teachers and hints at some continuity between their teachings and Jacob Taubes‘ lifelong fascination with early Christianity.

Jacob Taubes started his Jewish education early at home and later at a school that integrated secular and Jewish subjects. With his family, he left Vienna months before the Anschluss for Zurich, where his father took over the spiritual direction of a synagogue. There Taubes attended university while pursuing studies of Talmud and Jewish


law at home and with private tutors. He also spends a period at Montreux’s yeshiva. He qualified, eventually, as a rabbi and teacher. In 1947 he also completed the requirements for a doctorate under the direction of sociologist René König. His thesis became the first and only book he published in his life, Occidental Eschatology. Occidental Eschatology grew from an interest in Marxism and religion; it „created a usable past for contemporary radicals, for religious folks inclined towards radicalism“ (71). Muller traces the origins of Occidental Eschatology to a paper that Taubes wrote for René König’s seminar on „Karl Marx’s Justification of Socialism“. Taubes claimed that the appeal of Marx’s doctrine was not its professed scientific claims but irrational longings. Unless we postulate a divine plan for the world leading to harmony, the mere development of the productive forces does not justify the triumph of harmony rather than meaninglessness or anarchy. The pathos of Marxism rests upon a theory of human salvation and the messianic vocation of the proletariat (72).

Occidental Eschatology takes these ideas and develops them further. Taubes‘ work shows the influence of, among others, the Catholic theologian Hans Urs von Balthazar’s theses about the importance of apocalypticism in Christianity’s history and the teachings‘ role of Joachim de Fiore in the secularization of eschatological thinking. According to Muller, Taubes was also influenced by Karl Löwith’s book, From Hegel to Nietzsche, and Hans Jonas‘ book on Gnosticism. Taubes borrowed extensively from both. Muller also founds influences from Heidegger’s On the Essence of Truth. Ultimately, Muller concludes that the aspirations of the work exceeded its execution (75-6).

 The next chapter in our story deals with Taubes‘ move to America. Taubes was able to get an invitation to pursue post-doctoral studies at the Jewish Theological Seminary (JTS), which he attended between 1947-49. There he was tutored in Talmud by Saul Lieberman and in the thought of Maimonides by Leo Strauss. JTS’s mission was to educate and ordain rabbis subscribing to the Conservative movement’s beliefs. But Taubes was not interested in becoming a rabbi. Eventually, he was offered to continue postdoctoral studies in Jerusalem under the supervision of the Kabballah scholar Gershom Scholem.

Jerusalem was the background for the first of the many crises that would punctuate the life of Taubes. Taubes and Scholem had a falling apart. Scholem accused Taubes of having revealed to another student information that Scholem had shared with Taubes in

confidence. The story is well known and has been told before. What is new is that Muller shows that the break between Scholem and Taubes was not as complete as it was previously understood to be (173-179; 322-323). We will see below how the personal conflict between Taubes and Scholem spills over to a conflict about how to interpret the legacy of Walter Benjamin.

Taubes returned to the USA, managing after a while to secure appointments first in Princeton and later in Columbia. In terms of publications, this period was the most productive in his intellectual life. It was also a period of intensive networking that put Taubes in touch with a generation of young Jewish New Yorker intellectuals. For example, Muller refers to a Passover seder at the Taubes‘ home in 1955, attended by Susan Sontag, Phillip Rieff, Stanley Cavell, Herbert Marcuse, and the Swedish theologian and New Testament scholar Krister Stendahl, an occasion that Cavell and Stendahl recalled half a century later. But immediately, Muller adds that some suspected that


such performances were a show and that there was no real faith and commitment (226-7). Muller also quotes from a letter written by sociologist Daniel Bell to his wife, describing an encounter with Susan and Jacob Taubes. Bell writes that the Taubes couple was full of interesting talk, but they seemed to lack „a sense of the concrete“ (227). The letter that Muller quotes show the gap in their political positions, with some of the arguments presented by Jacob Taubes referring to the ideas developed in Occidental Eschatology. While Taubes referred to the political potential of the eschatological dimension of religion, Bell worried about the risks of false messianism. To this, Jacob Taubes seems to have answered: „When you believe in prophecy, you run the risk of false prophets“ (228). Apparently, Bell did not think highly of Taubes. Leo Strauss and Hannah Arendt concurred in their evaluation (228). But among senior scholars, he gathered enough support to get an assistant professor position to teach History and Sociology of Religion at one of the best Universities in the USA. Muller accessed the records of the ad-hoc nominating committee, and he presents an impressive list of scholars who, in general, supported Taubes‘ candidature, though they were some reservations. Muller explains the novelty of the academic study of religion, which was controversial at that time. In Columbia, Religion was granted the status of a department only in 1961. At the time of Taubes‘ hiring, it lacked a well-defined undergraduate curriculum, and its graduate program lacked a unifying principle. This suited Taubes fine. His courses dealt with 19th and 20th thinkers that were not taught in Columbia mainly because they fell out of the disciplines as they were then defined. Characteristically, the chapter dealing with Taubes‘ Columbia years is titled „The merchant of ideas.“ A later chapter, this one dealing with his work in Germany, has the title „impresario of Theory.“ A provisory title for the book was, apparently, „Jacob Taubes: Merchant of Ideas and Apostle of Transgression“ (according to a CV dated 2019).

Muller emphasizes the role of Taubes as a ‚merchant of ideas‘ rather than an original thinker or a profound scholar. Muller writes: Taubes knew what was going on in various contexts (241-2). Much of what he knew he learned in conversation. His knowledge was wide but lacked depth. While Muller does not tire of emphasizing the shortcomings of Taubes, he also recognizes that he had a talent for making connections between ideas from different sources and was generous in sharing his knowledge with his friends. He also had the talent to organize intellectual encounters, of which Muller cites three in Columbia, which were very successful. One was a conference with Martin Buber that led to creating a permanent Colloquy on Religion and Culture. A second project became a forum for Religion and Psychiatry, and a third was a Seminar on Hermeneutics.

Despite these successes, and his good performance as a teacher, Taubes‘ felt that his position at Columbia was not strong enough. Besides, his wife Susan was not happy in New York. Starting in 1959, he began looking for a position in Germany. And already in 1961, he was appointed visiting professor at the Berlin Free University (FU). Muller provides abundant information and background on the supporters of Taubes and their moves, on the idea of a chair to study Judaism in the FU, and on the circumstances of the FU itself, in the context of the Cold War. While the position was initially a summer assignment, negotiations were on track for establishing an institute of the Science of Judaism to be directed by Taubes. There were also talks about creating an additional position as head of a Division for Hermeneutics. But initially, he did not commit himself and shuttled between Columbia and FU on alternate semesters. Finally, he obtained an even better deal. The chair was renamed Judaistik (Judaism), and he also added to the title the label „Sociology of Religion“. To add to the exceptionality of the situation, Muller mentions that Taubes was not a German citizen, a prerequisite for a position in a public university in Germany, and he was not required to have a Habilitation, usually conferred after completing a second research project and additional requirements (270).

Chapter nine reviews Taubes‘ interlocutors in Berlin and Germany in general. To put it briefly, Taubes was in dialogue with probably most of the leading and would-be leading intellectuals of this period. People like Dieter Henrich, a known specialist in German Idealism, who first learn through Taubes of Marcuse’s Reason and Revolution, and Eros and Civilization, and who will visit for the first time the USA with Taubes‘ help. He also interacted with Habermas, with whom he shared a position as reader and editor for the influential publisher Suhrkamp. Taubes convinced Peter Unseld, the managing director of Suhrkamp, to publish books that were broadly sociological, covering both American and French authors. The quantity, quality, and variety of books that Taubes managed to recommend for publication led Muller to ask how Taubes related to books. He infers that there is a relationship between his brilliance and a certain superficiality (282-283). Taubes had also close relationship with several other intellectuals, such as Peter Szondi, Gadamer, Eric Voegelin, Ritter, Adorno, etc. All these interactions Muller characterizes as belonging to the realm of merchant or impresario of ideas, not of real scholarship or intellectual communion of ideas.

Of this period, one of the rare publications from Taubes, The intellectuals and the University, is the one he was most proud. Muller refers to the history of this lecture, its previous versions, and contents. To some extent, this lecture parallels Occidental Eschatology, with a broad exploration of the notion of the university and its development in different countries to arrive finally at a diagnosis of the institution and of the intellectual in contemporary society. The diagnostic section parallels Taubes‘ Four Ages of Reason (1956, republished 1966). It draws on ideas of the Frankfurt School, though Taubes‘ version seems more radical than what was advocated by Horkheimer and Adorno at that time (284-6).

Taubes was interested in movements that were unconventional and transgressive, such as Gnosticism and apocalypticism. And, in a rare coherence of theory and practice, he also had an uncommon relationship with women. Muller lists and depicts some of his love partners, starting with his wife, Susan, whom he divorced and later committed suicide, Margherita von Brentano, who chaired the philosophy department at FU and later quarreled with Taubes, Judith Glatzer, the poet Ingeborg Bachmann, and many others. A review of this book by Mark Lilla in the New York Times carried the title „The Man Who Made Thinking Erotic“. While some of his womanizing would be considered predatory by today’s standards, Muller brings many examples in which Taubes seem to have helped and supported many young women in their academic careers.

Chapter ten explores Taube’s activity as a fully committed faculty of FU, starting in 1966. As a teacher at FU, he was appealing to students that were politically engaged, intellectually curious, and disdainful of disciplinary boundaries. But Taubes was not very interested in the routines of academic work. He was not a good advisor for dissertations and habilitations, as he did not lay down clear guidelines to help his students to complete their work in a reasonable amount of time. But Muller acknowledges that this problem was not only Taubes‘ but was common among the more charismatic teachers. He was indeed a charismatic teacher, and Muller describes in some detail his presentation mode (310-311). He also taught courses with colleagues that became leading German intellectuals, such as Dieter Henrich, Michael Theunissen, and Rolf Tiedemann (who will edit for Suhrkamp the work of Walter Benjamin). For many of his classes, he relied on his teaching assistants. Apparently, he had a flair for identifying and coopting up-and-coming intellectuals that he integrated into his classes. Taubes‘ weakness in his teaching, as in his writing, was the systematic explication of concepts. But his talent for concretizing concepts, for making them seem relevant and vital to his students, was unmatched. He could explain Kierkegaard’s concept of anxiety (Angst) in a more vivid way than an expert on Kierkegaard could (312).

One of the Zelig-like characteristics of Taubes was his ability to insinuate himself into different intellectual projects. One example that Muller explores in some detail is Taubes‘ participation in the multidisciplinary project Poetik und Hermeneutic, where scholars of literature, philosophy, history, and other disciplines met every two years to explore a topic together. Papers were circulated ahead of the meeting, and they were discussed face to face. The oral presentations were taped, transcribed, edited, and eventually published in a volume. Muller describes the leading participants and their background, which in many cases was very different from Taubes‘. Taubes did not contribute but three papers to the colloquium, but his oral participation seemed to have been well received.

Taubes was involved also in another research project, this one focusing on the idea of political theology. Three volumes were published, with introductions by Taubes.

Chapter 11 deals with Taubes and his partner von Brentano’s role in supporting the „new left“ movement and the radicalization of the FU’s students in the 1960s. Taubes was not the only one taking the side of the students against the administration and the West Berlin municipality, but apparently, his role was prominent. There is information in the chapter about Taubes‘ activities, his invitation to Kojève to lecture in FU on the „End of History“, and the presence of Marcuse, who lectured on the „End of Utopia“. Marcuse is displayed in a photo with Taubes and other intellectuals (342). According to Muller, Taubes sought to influence the student movement and steer its energies away from the more anarchistic tendencies. In a letter to

Hans Robert Jauss, a member of the Poetik und Hermeneutik circle, Taubes wrote: „no stone should be left unturned to save the SDS [the socialist German student union] from the precipitous path of left-wing fascism“ (344). At the same time, Taubes and von Brentano were involved in a struggle with other members of the philosophy department around the political orientation of the department.

Chapter 12 covers the period between 1969 to 1975 and is supposed to document the de-radicalization and crisis of Taubes. But a large part of the chapter is devoted to aspects of Taubes‘ private life. Late in the chapter we learn about the conflict between Habermas and Taubes (369-372). Muller retraces the complex reaction of Habermas to the SDS and the student movement. Taubes advised Habermas to have a more conciliatory attitude towards the movement’s leaders, advising that Habermas apparently did not follow. Another section in the chapter talks about an indirect connection between Taubes and the founding members of the „Red Army Fraction“ terror group, which brought Taubes to the interest of the police (372-373). There is also a section on a counteroffensive of the Professors (373-377).

The section „Deradicalization“ starts early on, in 1971, with a story about Taubes‘ colleague at FE, Peter Szondi’s suicide. While not likely the reason, it seems that many in FU suspected he was led to take his life by pressure from leftist groups. Taubes himself, who was one of the most active supporters of the activist students among the members of the chaired professors, felt by 1972 that students had become intellectually rigid and dogmatic. He even discouraged Marcuse from visiting again, fearing that he may be boycotted by the activists. There is also information on internal fights in the philosophy department about appointments. Apparently, Taubes was ambivalent, supporting critiques of the increasing influence of the Marxist-oriented candidates and advising colleagues and students to overcome their tendency to sectarianism. In this, Brentano was more radical than Taubes. The remaining section of the chapter deal with family and personal matters: Taube’s divorce from von Brentano and a serious episode of mental crisis that required his hospitalization.

Chapter 13 describes Taubes‘ wanderings between Berlin, New York, and Jerusalem and his struggles against his colleagues in the philosophy department who wanted to force him into retirement. Muller chooses to illuminate this period in Taubes‘ life through his acrimonious fight against fellow philosopher Michael Landmen (398-408), who was one of his original sponsors when he came to Berlin. During this period also, his association with the publisher Suhrkamp was terminated. One of the reasons, besides his inability to continue to perform his duties because of his mental health, was his insistence that the collection he and Habermas edited in Suhrkamp publish books by right-wing historian Ernst Nolte. Surprisingly, Suhrkamp kept Taubes on its payroll for several years, though not as co-editor of the Theorie library. When he was finally sacked, it was because of Suhrkamp’s financial difficulties.

The years-long personal conflict between Taubes and Scholem played out also regarding their interpretation of Walter Benjamin. As Benjamin became in the 1960s an icon of the left, and as the close friendship that bound both thinkers became known, some of the recognition given to Benjamin transferred to Scholem. Scholem was well known in West Germany in the small circle of specialists in the history of religion and Jewish studies. But with the publication in 1966 of Benjamin’s letters to Scholem, Scholem’s publication of interpretative essays that explored the Jewish dimension of Benjamin’s thought, and particularly with the publication of his memoirs Walter Benjamin: Geschichte einer Freundschaft (1975), and a few years later From Berlin to Jerusalem (1977), contributed to bring the figures of Benjamin and Scholem closer. The interest in Benjamin among the German young intellectuals led to discussions about how to interpret his legacy and how Scholem and Adorno handled the publication of his letters and unpublished manuscripts. Taubes was particularly interested in a few of Benjamin’s writings, including the „Political-Theological Fragment“ and the „Theses on The Philosophy of History“, which he explored at a seminar in 1968. Taubes had written a letter to the Suhrkamp publishers objecting to a possible transcription mistake in one of Benjamin’s letters and complaining that Scholem and Adorno had disregarded the importance of Asja Lācis —a communist militant close to Brecht that was Benjamin’s lover at one point— for Benjamin’s intellectual development. Scholem reacted in a letter to Adorno, characterizing Taubes as laden with ressentiment (384).

The last act in the tragedy between Scholem and Taubes took place in 1977 and had to do with Taubes‘ proposal to participate in a Festschrift in honor of Scholem, something rejected outright by Scholem. Finally, Taubes participated in a congress in Scholem’s honor in Jerusalem, where he presented a paper entitled „The price of messianism“, which is critical of Scholem’s approach.

Chapter fifteen is dedicated to Taube’s fascination with the ideas of the jurist and unrepentant former Nazi supporter, Carl Schmitt. Taubes was not only interested in Schmitt’s ideas. He also tried and ultimately succeeded in meeting Schmitt face to face. This is a complicated chapter in Taubes‘ life, which puzzled friends and acquaintances, and is one of the components of the complicated appeal of his personality. Muller list several grounds for Taubes‘ interest in Schmitt. One is Schmitt’s claim that there is an inextricable link between theology and politics. Second, Schmitt’s erudition, his knowledge of intellectual history, and long-forgotten intellectual debates. Third, according to Taubes‘ recollections, he turns to Schmitt’s concept of constitutional law to have a better understanding of modern philosophy. Another motivation was understanding how intellectuals of Schmitt’s caliber could have been involved with the Third Reich. But there was also a shared disdain for bourgeois mentality and for liberalism. Finally, Muller finds „another factor, difficult to evaluate but impossible to overlook, was that in many of the circles in which Taubes traveled (though not all), his professed admiration for Schmitt served to scandalize, thus allowing him to engage in an exhibitionist performance as a bad boy“ (454). Some of the main lines of the story are well known, as they were published in a small volume published in 1987, and Taubes refers to his relationship with Schmitt in his lectures on Paul, which were published posthumously. Muller adds to the story a portrait of the person who served as an intermediary between Taubes and Schmitt, the radical German nationalist Hans-Dietrich Sander (456-460). Taubes was not the only intellectual to be in touch with Schmitt. Hans Blumenberg, among others, was also corresponding with Schmitt. But probably no major intellectual not identified with the right-wing was making it publicly.

There is another reason for the interest of Taubes in Schmitt, one that probably influenced the future reception of Schmitt among left-wing intellectuals. From Sander, Taubes learned of a supposed connection between Walter Benjamin and Schmitt. Sander shared with Taubes a letter from Benjamin to Schmitt, in which Benjamin claimed to have based his book on the Origins of Baroque Drama on Schmitt’s discussion of the idea of sovereignty. Benjamin also used Schmitt’s idea of the ’state of exception‘ in his Thesis on the Philosophy of History (Thesis 8). However, the role of this expression in Benjamin’s argument is totally different from the one used by Schmitt. After Schmitt’s death, Taubes gave a lecture entitled Carl Schmitt – Apocalyptic Prophet of the Counterrevolution. In his lecture, Taubes discussed Schmitt’s relationship to the Third Reich and a series of anecdotes about Taubes‘ encounters with Schmitt’s work, beginning with his student years in Zurich. Muller is quite severe with the content of this lecture, showing several inconsistencies, mistakes, and wild claims.

To a large extent, Taubes‘ posthumous fame hangs on the lectures on Paul that he presented shortly before his death. Muller details the process that led to the preparation of the lectures, starting with a lecture in 1986 at a Lutheran research center in Heidelberg on the experience of time, a seminar in Salzburg, and an interview published in a collective published by Suhrkamp. In this intervention, Taubes defended the interpretation that what marked the experience of time of the West is neither time as eternal nor the recurrency of time but an experience of urgency. From Paul, Taubes takes not the theological substance of his teachings but Paul’s emotional stance towards the world. It is the idea that the Kingdom of God is nearby. A few months later, Taubes was invited again to lecture at the Lutheran center. But by the time he had to give his seminar, his health had declined further. He prepared his lectures with the help of Aleida Assmann. She also arranged for the lectures to be taped and transcribed. Besides the framework, Muller provides a general description of the contents and a summary of Taubes‘ lectures (488-494). Muller characterizes the lectures as follows: „Taubes had been thinking about Paul since at least the time of his father’s 1940 sermon, which prefigured some of Taubes’s own themes, and he poured into his Heidelberg lectures nuggets of learning and speculation gathered over a lifetime. It was this range of reference that made the lectures an intellectual feast to some but a chore to others. Taubes developed his themes in good part through stories about the figures with whom he had discussed Paul over the course of his life… All of which added an air of exoticism and cosmopolitanism to the presentation. It made for an intellectually sparkling brew“ (494).

A final chapter recounts the story of how Jacob Taubes‘ legacy was preserved and multiplied in the years after his demise. Muller starts with the obituaries by Aleida and Jan Assmann, which characterized him as a Jewish philosopher, an „Arch Jew, and Primordial-Christian.“ In the same newspaper, a second obituary was published by Peter Gäng, Taubes‘ last doctoral student, who wrote about the difficulty of classifying Taubes from a political point of view.

Muller notes other obituaries, but in his view, the most important one was by Taubes‘ old friend Armin Mohler. Mohler, who was well acquainted with Taubes‘ life story, mentioned it in his article Susan Taubes‘ Divorcing. In Muller’s view, the reference to Divorcing set off a chain reaction that would contribute to the posthumous reputation of both Susan and Jacob (499). That means, again, that it was not what Taubes taught, thought, or wrote that made his posterity but a series of unforeseeable events. With the demise of “really existing socialism,” left-wing intellectuals, such as Alain Badiou, Giorgio Agamben, and Slavoj Žižek, turned to Taubes‘ interpretation of Paul as a model for a post-Marxists theory of revolution. Even if Badiou does not mention Taubes directly, the references in his book clearly align with Taubes‘ position. Only in one issue did Badiou diverge from Taubes. While Taubes always emphasizes Paul’s Jewish background, Badiou adopts a neo-Marcionite position, claiming that Paul broke completely with the religion of the Hebrew bible (509-10). Agamben’s book on Paul was published two years later, and it was dedicated to Taubes (510-511). Finally, Žižek does not directly quote Taubes but refers to him implicitly raising the issue of Paul in several of his books (511-12). And around this idea, a cottage industry of translations (515-6) and interpretations developed, first in Europe and later in the USA. Muller explains the success of ideas taken from or inspired by Taubes as a symptom of a double crisis. On the one hand, a crisis in the appeal of the Christian faith in large parts of Western Europe, while at the same time, there is a crisis of confidence among the radical and left-wing intelligentsia (512). Muller’s account ignores other reasons for a renewed interest in the intersections between religion and politics, some older, such as liberation theology, and some newer, such as the rise of fundamentalism.

Undoubtedly this is an exceptional book, both by the quality and quantity of the research supporting it and by its lively style. It would be of interest not only for people interested in the life and works of Jacob Taubes but also for those interested in the intellectual life both in the USA and in Germany in the period between the end of WWII and the crumbling of the Berlin wall.

Veröffentlicht am Montag, der 10. Oktober 2022 Autor Michael MaidanKategorien RezensionenSchlagwörter Aleyda Assman, Apocalypticism, Carl Schmitt, Eschatology, Gershom Scholem, Jacob Taubes, Jan Assmann, Jürgen Habermas, Paul, Political Theology



Wissenschaft kommuniziert

Wer? Warum? Wie? – Und wie besser nicht? — Ansichten und Einsichten zur Wissenschaftskommunikation – aus praktischer und gesellschaftspolitischer Sicht.

„Wir haben dramatische Vermittlungsprobleme“

Posted on 7. Februar 2017


3

Teil 2 des „Wissenschaft kommuniziert“-Gesprächs mit DFG-Präsident Prof. Dr. Peter Strohschneider Wissenschaft und Kommunikation

Im ersten Teil des Interviews schildert DFG-Präsident Professor Strohschneider die dramatischen Veränderungen, die sich derzeit in der Gesellschaft ereignen und ihre Konsequenzen für die Wissenschaft. Im zweiten Teil geht es um die Wissenschaftskommunikation und ihre Rolle im deutschen Wissenschaftssystem.


Das ganze ist ja auch eine Frage der Kommunikation. Bietet da die Wissenschaftskommunikation nicht viele Ansätze für Lösungen?

Strohschneider: Wenn ich nach Wissenschaftskommunikation gefragt werde, erzähle ich gern, was in Großbritannien passiert ist: Der britische Justizstaatssekretär Michael Gove hat zwei Tage vor der Brexit-Abstimmung eine Pressekonferenz gegeben und wurde gefragt, was er dazu sagt, dass der weit überwiegende Teil der britischen Wirtschaftsexperten vom Brexit abrät. Seine Antwort war eine Gegenfrage: „Was sagen Sie denn dazu, dass der weit überwiegende Teil der britischen Gesellschaft von Experten die Nase gestrichen voll hat.“

Wenn das stimmt, wenn dadurch etwas vom Zustand einer Gesellschaft sichtbar wird, dann hat das dramatische Folgen auch für die Wissenschaft selbst, aber auch für ihre gesellschaftliche Kommunikation. Wenn die Expertise selbst das Problem ist, dann kann die organisierte Wissenschaft nicht sagen: Mehr Expertise und mehr Geld für Expertise. Da muss sie vielmehr ziemlich grundsätzlich neu darüber

nachdenken, wie sie ihre Ansprüche und Leistungen mit der Gesellschaft kommuniziert. Und zwar als Wissenschaftssystem, also gar nicht auf der Ebene des einzelnen Forschungsprozesses. Für das öffentlich finanzierte Wissenschaftssystem entstehen da vollständig andere Fragen. Und ich bin nicht sicher, dass die Vertreter der organisierten Wissenschaft das alle ebenso sehen wie ich.

Wie ist denn die Wissenschaft in Deutschland aufgestellt, sowohl bei der Kommunikation mit dieser Gesellschaft, als auch beim Aufnehmen von Signalen über die Veränderung der Gesellschaft und bei der Kommunikation dieser Signale in die Wissenschaft hinein?

Es gibt in der Wissenschaft ausgesprochen virtuose Gesellschaftsbeobachter, Leute, die ihr ganzes Leben damit verbringen, ihre Wahrnehmungsgenauigkeit gegenüber gesellschaftlichen Prozessen zu verfeinern. Es gibt andererseits auch Abschottungsprozesse in der Wissenschaft. Als Beispiel: Wenn die medizinische Forschung ausschließlich auf Englisch kommuniziert, dann werden die Ärzte bald nicht mehr mit den Patienten verständlich und umfassend sprechen können. Es gibt Forderungen, sich sprachlich und begrifflich einzuigeln. Es gibt auch Haltungen der Wissenschaft gegenüber der Gesellschaft, die aus meiner Sicht kontraproduktiv für die Wissenschaft sind.

Beispielsweise macht die Wissenschaft unter Legitimations- und Finanzdruck in einem ungeheuren Umfang der Gesellschaft Versprechungen, was sie künftig alles lösen wird oder was sie praktisch schon gelöst hat. Ob Diabetes A oder Krebs und so weiter, wenn man die Versprechungen, die die Wissenschaft in den letzten zehn Jahren gemacht hat, zurückverfolgt, dann dürfte es das alles gar nicht mehr geben. Solche Versprechungen, die man machen muss, weil man unter Begründungszwang steht, und die man dann nicht halten kann, deligitimieren die Wissenschaft: Die Gesellschaft weiß, dass die Wissenschaft unentwegt mehr verspricht, als sie halten kann.

Das ist wie bei kommunizierenden Röhren: Je höher der Legitimations- und Finanzdruck wird, je weniger Autonomietoleranz die Gesellschaft der Wissenschaft einräumt, umso naheliegender ist es für die Wissenschaft, diesen Rechtfertigungszwängen durch Verheißungen gerecht zu werden. Das sind Circuli vitiosi, die da entstehen. Wir geben mehr Verheißungen ab, als wir halten können, die wiederum veranlassen die Gesellschaft, von der Wissenschaft noch mehr zu verlangen, worauf wir zunächst einmal mit neuen Verheißungen reagieren. Das sind Spiralen, aus denen wir irgendwie herauskommen müssen. Irgendwie sage ich, weil ich nicht weiß, wie wir da als System insgesamt herauskommen können.

Sind diese Verheißungen nicht ein Beispiel für schlecht verstandene Kommunikation: Primitivlösungen an Kommunikation, die sich später rächen. Muss denn ein Wissenschaftler in Zukunft alles selbst beherrschen, nicht nur sein komplexes Fachgebiet, sondern auch noch so etwas kompliziertes wie Kommunikation? Jeder weiß – allein aus dem persönlichen Umfeld – wie ungeheuer komplex Kommunikation zwischen Menschen ist.

Es gibt ja Naturbegabungen unter den Wissenschaftlern. Aber ich glaube auch, dass einerseits das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Gesellschaft so komplex geworden ist, dass auch die Mediensysteme so komplex geworden sind, so sehr ihrer eigenen Logik folgen – die eine andere ist als die der Gesellschaft überhaupt, und eine andere als die von Politik, und eine andere als die des Wissenschaftssystems – und dass zugleich das moderne Wissenschaftssystem so komplex geworden ist, dass die Erwartung, jeder Wissenschaftler, oder wenigstens einer in jeder Gruppe von Wissenschaftlern, müsse diese gesellschaftliche Kommunikationsaufgabe von Wissenschaft zureichend erfüllen – diese Erwartung ist ganz abwegig.

Es bilden sich neue, professionelle Vermittlungsrollen heraus – Wissenschaftskommunikation, Wissenschaftsjournalismus, Wissenschafts-PR, wie immer man sie im Einzelnen konfiguriert und voneinander abgrenzt. Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass dies anders sein könnte. Das hat schon mit den Spezialisierungs-Logiken von Wissenschaft zu tun. Als ich das erste Mal Dekan an der TU Dresden war, da hatte ich ein sehr gutes Allianzverhältnis mit dem Dekan der Naturiwssenschaften, einem Kernphysiker. Von dem habe ich gelernt, dass das, was die kernphysikalische Forschung heute interessiert, woran sie arbeitet, in einem normalen Diplom-Physik-Studium nicht mehr vorkommt, weil es jenseits der normalen Ausbildung eines Diplom-Physikers liegt. Das selbe würde ich für meine Literaturwissenschaft sagen: Das, wo die eigentlich texttheoretischen Forschungsprobleme liegen, das kann ein Germanistikstudent im Studium kaum erfahren. Ich kann ihm das von Außen zeigen, aber er wird kaum wirklich eindringen können. Also der Abstand zwischen dem, was sich im Studium normalerweise vermitteln lässt und den Frontiers of Research wächst ständig.

Und schon dies zeigt, wie dramatisch die Vermittlungsprobleme, die Abstände geworden sind zwischen den Fronten der Forschung und dem, was sich gesellschaftlich allgemein vermitteln lässt. Die Gesellschaft wiederum nimmt diese Abstände natürlich als eine Form von Mandarintum wahr. Früher war der Mandarin sozial unnahbar. Was wir heute haben ist eine Art von kognitiver Unnahbarkeit. Wer in siebendimensionalen Räumen Mathematik macht, wie soll der eine allgemeine Nahbarkeit erzeugen für das, was ihn als Problem mathematisch interessiert?

Nun existiert bei der Kommunikation in der Gesellschaft ja auch ein höchst lebendiger Wettbewerb: der Wettbewerb um Aufmerksamkeit, um Wahrnehmung. Wird das nicht zu einem gefährlichen Punkt, gerade wenn die Wissenschaft stärker von der gesellschaftlichen Autonomietoleranz abhängig wird?

Auf jeden Fall ist das ein Punkt, an dem man lernen muss. Zum Beispiel, was ich selbst in Interviews immer wieder erlebe, wie die Eigenlogik, die sich aus der Ökonomie knapper Aufmerksamkeit ergibt eine ganz andere ist als die Logik des Problemaufbaus, die im wissenschaftlichen Diskurs herrschen muss.

Um aber noch einen ganz anderen Aspekt hier einzubringen: Es ist zugleich ja auch so, dass auf allen Ebenen von Wissenschaft die Wettbewerblichkeit immer stärker ausgebaut wird – nicht nur der Ideenwettstreit, den es seit den Sokratikern gibt, sondern auch der marktförmige Wettbewerb – dass auch innerhalb der Wissenschaft selbst Aufmerksamkeitsökonomie immer wichtiger wird. Das Publikationswesen

der Naturwissenschaften beispielsweise mit zwei privilegierten Zeitschriften und vielen danach, die nicht die gleiche Reputation haben, ganz abgesehen von den bibliometrischen Aggregationen dieses Publikationssystems, auch das ist ein System knapper Aufmerksamkeit, das nicht mehr wirklich anders funktioniert als das Mediensystem. Und darin sehe ich ein Problem, da damit etwas anders ins Spiel kommt als der Wahrheitsanspruch, der Wissensanspruch und der Neuheitsanspruch der Wissenschaft – nennen wir es „Hype“.

Problem erkannt. Da stellt sich die Frage: Wird in der deutschen Wissenschaft genug getan, um das Problem der gesellschaftlichen Kommunikation beherrschen und bewältigen zu können? Schließlich geht es letztendlich ja um die Frage, ob Wissenschaft weiter erfolgreich arbeiten kann.

Was die innerwissenschaftlichen Prozesse angeht, die ich gerade angesprochen habe, gibt es sicherlich eine deutlich verschärfte Problemwahrnehmung in der Wissenschaft. Da ist die Lage heute ganz anders als vor fünf Jahren – sehr viel differenzierter und kritischer.

Im Verhältnis zur Gesellschaft muss ich mich auf meine Intuition stützen. Und da würde ich sagen, es kommt nicht so sehr darauf an, ob man mehr oder weniger tut, sondern eher, ob man dieses oder anderes tun kann. Da kommt es wohl sehr viel stärker auf die richtige Form der Kommunikation an. Man muss da sehr gut unterscheiden, was man mit der Kommunikation erreichen will. Wenn ich etwa Kinder, Schüler oder Heranwachsende an die Wissenschaft heranführen möchte, dann würde man eher eine Kommunikationsform wählen, die das Faszinationspotenzial von Forschen erschließt. Wenn ich gesellschaftspolitisch für die


Wissenschaft argumentieren möchte, dann muss ich mit etwas Anderem arbeiten als mit dem Faszinationspotenzial. Wenn ich gesellschaftliche Plausibilität von Wissenschaft herstellen möchte, muss ich anders operieren als wenn ich unterhaltsam sein will. Ich argumentiere hier nicht für oder gegen das eine oder andere. Was ich meine ist, wir müssen sehr präzise die jeweiligen Adressaten bei der Wahl der Kommunikationsformen bedenken, die sich die Wissenschaft zueigen macht. Und da würde ich sagen, ist das Wissenschaftssystem in Deutschland nicht besonders gut aufgestellt.

Mir fällt auf, bei den vielen Veranstaltungen zur Wissenschaftskommunikation, die ich besuche, sind nur ganz wenige Wissenschaftler zu finden, für die ja kommuniziert werden soll. Wird das Problem Kommunikation in der Wissenschaft nicht unterschätzt?

Das kann einem auffallen. Ich bin da auch kaum zu sehen. Ich engagiere mich in zwei Jurys, die Preise für Wissenschaftsjournalismus vergeben. Aber ich selbst partizipiere an der Wissenschaftskommunikation eher von Außen.

Unterschätzt die Wissenschaft das Problem Kommunikation? Ich würde sagen Ja und Nein. Der Wissenschaftsjournalismus steht auf jeden Fall mächtig unter Druck. Und man kann diesen Druck bereits an der abnehmenden Dichte und Qualität der Berichterstattung beobachten. Das ist ein großer Nachteil, gerade auch für die Wissenschaft. Die Wissenschaft ist darauf angewiesen, dass das, was sie tut, von einem emphatischen Journalismus kundig und kritisch begleitet wird. Sie braucht einen Sparingspartner.

Kommunikation über Journalisten ist aber nur ein Weg. Angesichts der wachsenden Bedeutung der Sozialen Netzwerke, muss man da nicht über alternative Wege der Kommunikation mit der Gesellschaft nachdenken? Und dann ist dies auch nur die eine Richtung. Wie steht es um die Wahrnehmung der Gesellschaft in der Wissenschaft?

Das ist sicher so. Und darüber mache ich mir nur „handgestrickte“ Gedanken. Das ist nicht ein Thema, in dem ich mich wirklich sachkundig fühle.

Aber immerhin: Sie machen sich Gedanken darüber. Wie viele Ihrer Kollegen tun dies noch?

Meine Antwort darauf ist ein bisschen polemisch, ich denke aber, nicht sehr polemisch: Eine der Funktionsbedingungen moderner Wissenschaft, insbesondere in den Naturwissenschaften, ist es, eine Spezialisierung voranzutreiben, die in dem Maße, in dem sie betrieben wird, nur geht, wenn ich alles andere weglasse. Dazu gehören die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen von Forschung – die hat die moderne Naturwissenschaft in eine separate Erkenntnistheorie ausgelagert. Sie macht sich frei von ihnen und kann sich deswegen weiter spezialisieren.

Dazu gehören aber auch die Folgen, die Verantwortung, die gesellschaftliche Kommunikation von Wissenschaft. Moderne experimentalwissenschaftliche Forschung ist extrem voraussetzungsfrei und extrem kompetitiv. Nehmen wir die molekulare Zellbiologie. Wenn Sie irgendeine neue Erkenntnis haben und Sie wissen, es gibt noch zwei Konkurrenten weltweit. Da ist es wirklich entscheidend, ob Sie „Science“ in dieser Woche erreichen oder erst in drei Wochen. Entscheidend ist dies nicht nur für ein symbolisches Kapital der Person oder der Institution, etwa für die Entdeckerehre, sondern für Nutzungsrechte, für Haftungsfragen, für den ökonomischen Ertrag des Ganzen. Ich will das gar nicht rechtfertigen, sondern exemplarische Strukturbedingungen andeuten, bei denen man schnell sieht, dass die Auslagerung all dessen, was die Wissenschaft mit der Gesellschaft verbindet, in vielerlei Hinsicht zu einem Tunnelblick führen kann, der die Spezialisierung ermöglicht.

Den Tunnelblick gibt es in den Geisteswissenschaften natürlich auch. Und er gehört dazu: Es gibt in Max Webers berühmter Rede über Wissenschaft als Beruf einen Passus, wo er diesen Tunnelblick an der Philologie vorführt. Da sagt er: Wer nicht bereit ist, an die Frage, ob bei der Handschrift an einer Stelle diese Konjektur oder eine andere anzubringen sei, sein Leben daran zu geben, der lasse die Finger von der Wissenschaft.

Der Tunnelblick ist eine Konstitutionsbedingung moderner Wissenschaft generell. Er spielte keine Rolle, solange die Gesellschaft das hohe Maß an Autonomietoleranz aufgebracht hat, hingenommen hat, dass es diese „weltfremden“ Leute gibt. Das tut Sie aber nicht mehr angesichts der wachsenden Bedeutung und des Gewichts, das Wissenschaft für die Gesellschaft gewonnen hat. Auf jeden Fall nicht mehr in der Weise, wie das einmal der Fall war. Und wenn ich mir die Berichterstattung in den Medien über Naturwissenschaften ansehe, dann habe ich als interessierter, aber sachunkundiger Leser relativ wenig davon, da sie mir kaum Kontext bietet, sie nimmt kaum Einordnung vor. Es ist weithin eine Berichterstattung für Spezialisten. Das heißt, der Tunnelblick wird in der Außendarstellung und in der Wahrnehmung von Außen fortgesetzt.

Sie heben sehr stark auf den Wissenschaftsjournalismus ab. Muss bei der Frage Kommunikation der Wissenschaft mit der Gesellschaft nicht der Blick geweitet werden, bis hin zum Verhalten der Wissenschaft und natürlich Internet und Soziale Medien?

Ich habe vorhin ja schon etwas zu den Verheißungen der Wissenschaft gesagt. Zum Verhalten der Wissenschaft halte ich es für zwingend, dass sie die Unsicherheit ihres Wissens mitkommuniziert. Das gilt nicht nur für die Auseinandersetzung um den Klimawandel, sondern auch in anderen Bereichen, etwa für den Rat der Wirtschaftsweisen in Deutschland. Das ist ein wissenschaftliches Beratungsgremium der Politik, das kaum je die Ungewissheit seines Wissens mitkommuniziert. Und das ist ein Problem. Denn es führt zu den Abwehrreaktionen, von denen wir bereits gesprochen haben, die dann alle Formen von Expertise und Elitismus in den gleichen großen Topf werfen.

Natürlich gibt es in der Wissenschaft Mandarin-Verhalten, natürlich gibt es Desinteresse, natürlich gibt es auch eigennützige Politik in den Wissenschaftsorganisationen, die sagen „drei Prozent für mich und der Rest ist mir egal“. Das kann man alles kritisieren, aber das ist noch keine Antwort auf die Frage: Tut die Wissenschaft genug oder was wäre das Richtige zu tun? Und das kann ich abstrakt leider nicht beantworten.

Wenn man diese Defizite erkannt hat, warum sucht man nicht Hilfe? Warum misst man der Wissenschaftskommunikation und den professionellen Kommunikatoren dann nicht einen höheren Stellenwert zu als die Wissenschaft dies heute tut?

Was die Wissenschaftskommunikation betrifft, kann die DFG für sich in Anspruch nehmen, ziemlich aktiv zu sein. Doch im Wissenschaftssystem gibt es die Gratifikationen nicht für Kommunikation, sondern für Papers. Darunter leiden alle anderen Funktionen, etwa die akademische Lehre, darunter leiden etwa Transferbereiche und darunter leidet auch die Wissenschaftskommunikation. Das Problem ist, abstrakt gesprochen, dass ein polyfunktionales System vor allem über einen Parameter gesteuert wird. Und das sind wissenschaftliche Publikationen.

Ist das gut für die Wissenschaft?

Nein, das ist nicht gut für die Wissenschaft. Da bin ich eindeutig. Forschung ist nicht alles, nicht einmal alles in der Wissenschaft – das kann ich auch als Präsident einer Forschungsförderorganisation sagen. Es gibt auch andere Dimensionen für die Wissenschaft als die Forschung allein. Andere Wissenschaftssysteme tun sich mit solchen Dimensionen leichter als wir. Beispiel USA: Das amerikanische Universitätssystem gehört zunächst einmal zum Higher-Education-Sektor und nur ein kleiner Teil dieses Systems wird über Forschung und Forschungs-Output gesteuert. Es tut sich an vielen Stellen, beispielsweise bei der Karriereentwicklung, an vielen Stellen des akademischen Unterrichts und der Qualität des Studiums, viel leichter als die deutschen Universitäten. Andererseits ist die Tradition der Humboldt’schen Forschungsuniversität bei uns, so sehr die zerrüttet sein mag, doch auch eine Gegebenheit unter der wir in Deutschland Politik machen. Und man muss auch bedenken, dass die bildungsbürgerlichen Milieus, in denen es klar war, was und wofür Wissenschaft da ist, dass diese Milieus in unser Gesellschaft erodieren.

Die Wissenschaft hat sich nicht nur selbst von der Gesellschaft wegbewegt, im Rahmen ihrer Spezialisierung, sondern sie verliert auch ihren gesellschaftlichen Außenbezug durch sozialstrukturellen Wandel in der Gesellschaft. In dem Maße, in dem die Verbindlichkeit eines Wissenskanon im Gymnasium zurückgeht, in dem Maße bekommt auch das Wissenschaftssystem auf seiner Reproduktionsseite immer weniger Leute, die mit dem wissenschaftlichen Wissen etwas anfangen können. Ein Beispiel: Es gibt relativ wenig naturwissenschaftlich gebildete Literaturwissenschaftler, es gibt auch relativ wenige gesellschaftswissenschaftlich gebildete Physiker. Die epistemische Spezialisierung der Wissenschaft bildet sich auch auf der sozialen Seite ab. Die Spannungen innerhalb des Wissenschaftssystems werden immer größer und die bildungsbürgerlichen Resonanzräume verfallen. Das ist deswegen von Belang, weil die deutschen Universitäten nicht darüber laufen – wie die guten amerikanischen Privatuniversitäten – dass sie im wesentlichen die Selbstreproduktions-Einheiten einer sehr zahlungskräftigen ökonomischen Elite sind.



Das Ende der „Einsamkeit in Freiheit“? 1. Februar 2017 In "Beruf Wissenschaftskommunikation" Verschlagwortet: Gesellschaft, Strategische Kommunikation, Wissenschaft, Wissenschaftskommunikation Posted in: Beruf Wissenschaftskommunikation, Wissenschaft und Kommunikation ← Das Ende der „Einsamkeit in Freiheit“? Die „Digitale Transition“ – Im Fokus der Forschungssprecher des Jahres → 3 Responses “„Wir haben dramatische Vermittlungsprobleme“” →

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   […] Forschungsgemeinschaft, Prof. Peter Strohschneider, diesem Blog ein aufrüttelndes Interview: „Wir haben dramatische Vermittlungsprobleme“. Darin beschrieb das schwierige Verhältnis der Wissenschaft in einer sich rasant verändernden […]
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