Kurt Hiller
Kurt Hiller (* 17. August 1885 in Berlin; † 1. Oktober 1972 in Hamburg), Pseudonyme Keith Llurr und Klirr (Thule), war ein deutscher Schriftsteller und pazifistischer Publizist aus jüdischer Familie. Als Stilist unverwechselbar wortmächtig, unbestechlich, streitbar - Einzelgänger und a good hater - , mit philosophischer und literarischer Urteilskraft, focht er lebenslang für einen (schopenhauerschen und antihegelisch begründeten) Sozialismus, für Frieden und sexuelle Minderheiten und hatte damit viele mächtige Feinde.
Leben
Nach glänzendem Abitur am Askanischen Gymnasium in Berlin (1903) studierte Hiller in Berlin - wo er ab 1904 mit dem Medizinstudenten Arthur Kronfeld befreundet war, der ihn unter anderem mit dem hochgeschätzten Denken des Göttinger Philosophen Leonard Nelson, ebenfalls einem Berliner, bekannt machte - und kurz auch in Freiburg im Breisgau Rechtswissenschaften und Philosophie. 1907 konnte er in Heidelberg zum Dr. jur. mit der Dissertation Das Recht über sich selbst, welche auch als Buch herauskam[1], promovieren. Im Anschluss lebte er in Berlin als freier Schriftsteller und wurde dabei zu einem Pionier des literarischen Expressionismus.
Im Juli 1908 machte ihn Kronfeld mit Magnus Hirschfeld bekannt und Hiller trat dem Wissenschaftlich-humanitären Komitee (WhK) bei, dem er bis zum Ende angehörte.[1][2] 1909 gründete er mit Jakob van Hoddis den Neuen Club, zu dem bald auch Georg Heym und Ernst Blass stieß, mit denen er unterstützt von bekannteren Künstlern wie Tilla Durieux und Else Lasker-Schüler, aber auch von Karl Schmidt-Rottluff Neopathetischen Cabarets veranstaltete, und nach seinem Rückzug daraus mit Ernst Blass das literarische Cabaret GNU. Für die Zeitschriften PAN und der Der Sturm schrieb er zahlreiche Beiträge; die Zeitschrift Die Aktion gründete er zusammen mit Franz Pfemfert.[3] Nachdem er - wahrscheinlich über die Vermittlung Kronfeld, der seit 1908 in Heidelberg lebte - in der Beilage der dortigen Tageszeitung Literatur und Wissenschaft schon 1911 Die Jüngst Berliner vorgestellt hatte, publizierte er 1912 im Verlag von Richard Weissbach in Heidelberg die erste expressionistische Lyrikanthologie Der Kondor.
In der Novemberrevolution versuchte er als Vorsitzender eines von ihm selbst gegründetem Politischen Rates geistiger Arbeiter Einfluss auf die Politik zu nehmen. Diesem Engagement lag sein als Gegenmodell zur Demokratie konzipiertes Ideal einer „Logokratie“ zu Grunde, das – anknüpfend an Platons Idee der „Philosophenkönige“ – die politische Herrschaft der geistigen Elite und damit den Intellektuellen zusprach.
1920 trat er der Deutschen Friedensgesellschaft bei, zu deren linkem Flügel er gehörte. Hier trat er dafür ein, dass sich der deutsche Pazifismus an der Sowjetunion orientieren müsse, obwohl er deren Leninismus sehr kritisch gegenüberstand. Da die Mehrheit aber auf das bürgerlich-demokratische Frankreich ausgerichtet blieb, kam es zu heftigen Konflikten in der DFG, die eskalierten, als Hiller in kommunistischen Blättern den bürgerlichen Pazifisten Friedrich Wilhelm Foerster und Fritz Küster vorwarf, sie würden sich von den Franzosen bezahlen lassen – eine Unterstellung, die den zahlreichen rechten Gegnern der deutschen Friedensbewegung reichlich Munition für ihre Polemik gab. Carl von Ossietzky kommentierte im Oktober 1924 in der Zeitschrift Das Tage-Buch:
„Was ausgerechnet im pazifistischen Lager an Verunglimpfung und Ketzrerrichterei geleistet wird, das ist selbst für deutsche Verhältnisse maßlos. ... Der Oberaufseher in diesem pazifistischen Stadelheim ist Herr Kurt Hiller.“
Hiller gründete 1926 die Gruppe Revolutionärer Pazifisten, mit der er innerhalb der DFG vergeblich versuchte, seinen Einfluss zu vergrößern . Er trat für eine neue, gewaltfreie und sozial gerechte Gesellschaft ein, zu deren Erreichung der Kapitalismus überwunden werden müsse, ein Zweck, zu dem der radikale Pazifist auch „progressive“ Gewalt nicht ausschloss.
Nicht nur an solchen Widersprüchen stießen sich auch Hiller Nahestehende: Bereits Ende 1918 kam es zum Bruch mit Siegfried Jacobsohn, dem Herausgeber der Weltbühne, in der Hiller von 1915 regelmäßig mit Beiträgen vertreten war, so daß die publizistische Zusammenarbeit für die nächsten sechs Jahre unterbrochen wurde. Auslöser für das Zerwürfnis war Jacobsohns in der Rubrik "Antworten" am 12. Dezember 1918 veröffentlichter Beitrag Kurt Hiller, in dem er seinen Austritt aus dem "Rat geistiger Arbeiter" begründete. 1924 nahm Hiller die Mitarbeit an der Weltbühne wieder auf; Sie war aber auch künftig nicht immer frei von Spannungen. Jacobsohn klagte z.B. 1926 in einem Brief an Kurt Tucholsky:
„Ich fürchte, dass es mit mir und Kurtchen Hiller nicht mehr lange währen wird. Es ist nicht zu sagen, was dieser arme Homosaxone sich an Hysterie, Verfolgungswahn, Eitelkeit, Empfindlichkeit, Anmaßung und Geschmacklosigkeit brieflich leistet.“
Am Anfang des gleichen Jahres äußerte Hiller in einem Aufsatz in der Weltbühne überraschend Bewunderung für den "Kraftkerl Mussolini" (Mussolini und unsereins, 12. Januar 1926). Am „Duce“ faszinierte ihn die kühne Ästhetik seiner öffentliche Auftritte und vor allem die schlagkräftige politische Durchsetzungskraft, die so gar nichts von der oft zähen Kompromisspolitik der mittleren Weimarer Republik hatte:
„Demokratie heißt: Herrschaft jeder empirischen Mehrheit; wer wollte bestreiten, daß die Mehrheit des italienischen Volkes seit langem treu hinter Mussolini steht? [...] Mussolini, man sehe sich ihn an, ist kein Kaffer, kein Mucker, kein Sauertopf, wie die Prominenten der linksbürgerlichen und bürgerlich-sozialistischen Parteien Frankreichs und Deutschlands und anderer Länder des Kontinents es in der Mehrzahl der Fälle sind; er hat Kultur. [...] Wenn ich mich genau prüfe, ist mir Mussolini, dessen Politik ich weder als Deutscher noch als Pazifist noch als Sozialist ihrem Inhalt nach billigen kann, als formaler Typus des Staatsmannes deshalb so sympathisch, weil er das Gegenteil eines Verdrängers ist. Ein weltfroh-eleganter Energiekerl, Sportskerl, Mordskerl, Renaissancekerl, intellektuell, doch mit gemäßigt-reaktionären Inhalten, ist mir lieber, ich leugne es nicht, als ein gemäßigt-linker Leichenbitter, der im Endeffekt auch nichts hervorbringt, was den Mächsten der Beharrung irgend Abbruch tut.“
Im Jahr darauf spottete er: "Der Fascismus hat immerhin Wein im Blut, der deutsche Republikanismus Bier." (Das Ziel entscheidet, 12. Juli 1927) Bei aller, allerdings nie unkritischer, Faszination von Mussolini warb Hiller kurz darauf dafür, bei den Reichstagswahlen die KPD zu wählen. Enttäuscht von der SPD, für die er vorher noch eingetreten war, schrieb er im Mai 1928 in der Weltbühne, nunmehr müsse man trotz aller Vorbehalte „in den kommunistischen Apfel ... beißen: Er ist sauer, aber saftig“.
In der Weltbühne überraschte er immer wieder durch undogmatische Analysen und Urteile - auch über den "Neuen Nationalismus": "Der Neue Nationalismus", zitierte er etwa in einem am 20. September 1927 erschienen Beitrag Franz Schauwecker, "kann nicht den Willen haben, eine fremde Nation zu vergewaltigen." Hillers Kommentar:
„Hört hin! Wer von uns fordert mehr? Sagen das nicht allerorten mit andern Worten die Pazifisten auch? Steht das nicht in klarstem, schärfstem Gegensatz zu dem, was bis 1918 die Alldeutschen wollten, die Vaterlandspartei, mit ihrem Annexionsgeschrei - von Erich Ludendorff bis Gerorg Bernhard?“
1932 fragte er in seinem Beitrag Linke Leute von rechts über Nationalrevolutionäre wie Karl Otto Paetel und Otto Strasser:
„'Links', 'rechts' - diese Unterscheidung wird täglich dümmer. Wer kommt noch mit ihr aus?" [...] Wer taugt mehr, ein kommunistischer Nichtdenker oder ein nationalistischer Selbstdenker?“
Bemerkenswert ist auch Hillers zweiteilige Analyse der Ursachen des nationalsozialistischen Erfolgs in der Weltbühne vom 23. und 30. August 1932:
„Daß im Nachkriegsdeutschland das Nationale als Stimmung und als ein in die politische Rationalität intensiv hineinstrahlendes Gefühl sich stark verbreitete und auch unter den Armen bewußter und lebendiger wurde denn je, ist fraglos dem rachehaften Inhalt des Versailler Friedens zuzuschreiben [...]. Der deutsche Nationalismus ist, in seinem Ausmaß, eine Folge des französischen und eben deshalb nicht ohne berechtigten Kern. [...] Der kolossale nationalsozialistische Erfolg ist, unter anderm, ein Produkt kolossaler und berechtigter Enttäuschung.“
Nachdem Hirschfeld, nach vereinsinternen Auseinandersetzungen über die weitere Taktik, am 24. November 1929 vom Vorstitz des WhK zurücktrat wurde Hiller zum 2. Vorsitzenden gewählt, was er bis zur Auflösung des WhKs blieb.[2]
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde Hiller, der als Pazifist, Sozialist, Jude und Homosexueller den Nazis gleich vierfach verhasst war, insgesamt dreimal verhaftet, in den Konzentrationslagern Columbia-Haus, Brandenburg und Oranienburg inhaftiert und schwer misshandelt. Nach seiner Entlassung 1934, welche auf hohe Führsprache hin zustandekam[4], floh er nach Prag und 1938 weiter nach London. Im Exil gründete er den Freiheitsbund Deutscher Sozialisten und die Gruppe Unabhängiger Deutscher Autoren. Außerdem gab er während seiner Zeit in Prag zusammen mit dem Nationalrevolutionär Otto Strasser die "Prager Erklärung" heraus, ein Manifest gegen das faschistische Deutschland der Nazis.
Als Hans Giese 1949 ein neues WhK gründen wollte und dann die Gesellschaft für Reform des Sexualstrafrechts e. V. gründete arbeitete Hiller einige Monate mit.[5] 1955 kehrte Hiller nach Deutschland zurück, ließ sich in Hamburg nieder und versuchte dort 1962 das WhK neu zu gründen. Er blieb dabei aber isoliert und der Versuch scheiterte.[2] Weiters gründete er – weitgehend ohne Echo – einen Neusozialistischen Bund und unabhängige Zeitschriften (vgl. lynx). In der Schweizer Zeitschrift Der Kreis (Homosexuellenzeitschrift) publizierte Hiller rund ein Dutzend Gedichte und ebensoviele Artikel, meist unter dem Anagramm Keith Llurr.
Erinnerungen
Seit dem Ende 2000 erinnert in der Berlin-Schöneberger Grunewaldstraße am U-Bahnhof Kleistpark der Kurt-Hiller-Park an den Schriftsteller. Die kleine Grünfläche mit zwei Boulodromen, einem Spielplatz, einem öffentlichen Basketballplatz sowie Steinskulpturen soll laut Inschrift an dem Straßenschild den Mitbegründer der homosexuellen Bürgerrechtsbewegung ehren. Da das die einzige Inschrift des Parks ist, bemerkt die Hiller-Gesellschaft zu den Skulpturen im Park süffisant: Die Deutung dieser Steinblöcke in Bezug auf das Werk Hillers wird Jahre in Anspruch nehmen.[6]
In der gleichfalls Schöneberger Hähnelstraße 9 gibt es zudem eine Gedenktafel für Hiller.
Werke
- 1912 Der Kondor - Verse von Ernst Blass, Max Brod, Herbert Grossberger, Ferdinand Hardekopf, Georg Heym, Kurt Hiller, Arthur Kronfeld, Else Lasker-Schüler, Ludwig Rubiner, René Schickele, Franz Werfel, Paul Zech / Herausgegeben von Kurt Hiller 1912. Verlag von Richard Weissbach, Heidelberg; repr. und mit einem Nachwort von Paul Raabe. Silver&Goldstein, Berlin 1989
- 1913 Die Weisheit der Langeweile. Wolf, Leipzig; repr. Nendeln 1973
- ab 1916 Das Ziel - Jahrbuch für geistige Politik. Georg Müller, Berlin
- 1918 Unnennbar Brudertum. Verse 1904-1917. Wolgast
- 1920 Geist werde Herr. Kundgebungen eines Aktivisten vor, in und nach dem Kriege. Berlin
- 1921 Logokratie; oder Ein Weltbund des Geistes. Leipzig
- 1922 § 175: die Schmach des Jahrhunderts! Hannover
- 1925 Verwirklichung des Geistes im Staat. Beiträge zu einem System des logokratischen Aktivismus. Leipzig
- 1932 Der Sprung ins Helle. Reden, Offne Briefe, Zwiegespräche, Essays, Thesen, Pamphlete gegen Krieg, Klerus und Kapitalismus. Leipzig
- 1938 Der Unnennbare. Verse 1918-1937. Peking
- 1938 Profile. Prosa aus einem Jahrzehnt. Paris
- 1950 Köpfe und Tröpfe. Profile aus einem Vierteljahrhundert. Hamburg, Stuttgart
- 1951 Rote Ritter. Erlebnisse mit deutschen Kommunisten. Gelsenkirchen
- 1952 Der Aufbruch zum Paradies. Ein Thesenbuch. München
- 1966 Ratioaktiv. Reden 1914-1964. Wiesbaden
- 1969 Leben gegen die Zeit, Band.1: Logos. Rowohlt, Reinbek
- 1973 Leben gegen die Zeit, Band.2: Eros. Rowohlt, Reinbek
Literatur
- Rolf von Bockel (Hrsg.): Kurt Hiller und die Gruppe Revolutionärer Pazifisten (1926-1933). Ein Beitrag zur Geschichte der Friedensbewegung und der Szene linker Intellektueller in der Weimarer Republik, von Bockel, Hamburg, 1990, ISBN 3-928770-047
- Juliane Habereder: Kurt Hiller und der literarische Aktivismus. Zur Geistesgeschichte des politischen Dichters im frühen 20. Jahrhundert,Lang, Frankfurt, 1981, ISBN 3-8204-6202-3
- Ulrich Hohoff (Hrsg.): Kurt Hiller 1885-1972. Ein Schriftsteller mischt sich in die Politik, Universität, Leipzig, 1997 (Begleitheft zur Ausstellung der Universitätsbibliothek Leipzig).
- Heinrich Eduard Jacob: Berlin, Vorkriegsdichtung und Lebensgefühl; in: "Imprimatur - Jahrbuch für Bücherfreunde" (Bd. III), Hrsg. Siegfried Buchenau. Frankfurt am Main: Gesellschaft der Bibliophilen, 1961/62; S. 186-189.
- Thomas B. Schumann: Geschichte des "Neuen Clubs" in Berlin als wichtigster Anreger des literarischen Expressionismus. Eine Dokumentation; in: "EMUNA. Horizonte zur Diskussion über Israel und das Judentum", IX. Jg., Nr. 1 (Frankfurt am Main), Jan./Feb. 1974; S. 55-70.
- Rüdiger Schütt, Wolfgang Beutin (Hrsg.): "Zu allererst antikonservativ". Kurt Hiller (1885-1972). Hamburg: Edition fliehkraft, 1998, ISBN 3-9805175-4-3
- Lewis D. Wurgaft: Kurt Hiller and the politics of action on the German left 1914-1933, American Philosophical Soc., Philadelphia, 1977, ISBN 0-87169-678-9
Weblinks
Quellen
- ↑ a b hu-berlin.de/sexology: Aus den Memoiren Kurt Hillers über den Erstkontakt mit Magnus Hirschfeld. Zitiert in:
Ingo-Wolf Kittel: Zur historischen Rolle des Psychiaters und Psychotherapeuten Arthur Kronfeld in der frühen Sexualwissenschaft Ursprünglich erschienen in:
R. Gindorf und E.J. Haeberle (Hg.): Sexualitäten in unserer Gesellschaft - Schriftenreihe Sozialwissenschaftliche Sexualforschung 2, Walter de Gruyter, Berlin - New York 1989, ISBN 3-11-011373-2, S. 33-44 - ↑ a b c Online-Ausstellung der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft: Person Kurt Hiller
- ↑ jungle-world.com: Egon Günther: Der andere Planet - Interview mit Hartmut Geerken, Jungle World Nr. 32, 9. August 2006
- Geerken über Hiller und die Gründung der Zeitschrift „Die Aktion“ - ↑ hiller-gesellschaft.de: Kurzinfos aus dem Nachrichtenbrief Nr. 12 der Hiller-Gesellschaft: Es war Rudolf Hess !
- ↑ Bernd-Ulrich Hergemöller: Mann für Mann. Ein biographisches Lexikon, ISBN 3-518-39766-4, ISBN 3-928983-65-2
Einträge für Hans Giese S. 278 und Kurt Hiller S. 357 (Zitate) - ↑ hiller-gesellschaft.de: Der Kurt Hiller Park in Berlin, gesehen am 4. September 2006
Personendaten | |
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NAME | Hiller, Kurt |
ALTERNATIVNAMEN | Lurr, Keith - Klirr (Thule) |
KURZBESCHREIBUNG | deutscher Schriftsteller und Publizist |
GEBURTSDATUM | 17. August 1885 |
GEBURTSORT | Berlin |
STERBEDATUM | 1. Oktober 1972 |
STERBEORT | Hamburg |