Schulmedizin
Als Schulmedizin wird umgangssprachlich die Medizin bezeichnet, die an Universitäten und Hochschulen gelehrt wird.
Der Begriff wird (manchmal polemisch) zur Abgrenzung von Alternativmedizin, Außenseitermethoden, Besonderen Therapierichtungen, Erfahrungsmedizin, Ganzheitsmedizin, Glaubensmedizin, Komplementärmedizin, Naturheilkunde oder Paramedizin benutzt.
Prinzipien der Schulmedizin
Die "Schulmedizin" oder (besser) "wissenschaftliche Medizin" fühlt sich den Naturwissenschaften, der Psychologie und den Sozialwissenschaften verpflichtet und wendet deren Erkenntnisse in Forschung und Praxis an. Dabei ist sie kritisch gegenüber den eigenen Methoden und Lehren. Im Idealfall sind schulmedizinische Verfahren durch klinische Studien und deren Kritik in ihrer Wirksamkeit und Problematik belegt. Allerdings gibt es auch in der "Schulmedizin" Moden und unbewiesene Lehrmeinungen. Es findet aber ein stetiger Prozess der Verbesserung und Qualitätssicherung statt.
Ein Ansatz, der sich vor allem auf statistische Erkenntnisse stützt, ist die evidenzbasierte Medizin.
Die Stärken der "Schulmedizin" bestehen unter anderem in der Behandlung von akuten Erkrankungen und Verletzungen, in der chirurgischen Intervention sowie in vielen Formen der medikamentösen Therapie.
Historische Entwicklung der Schulmedizin
In der historischen Entwicklung sind folgende "Meilensteine" zu nennen (ohne antike Vorläufer und arabische Medizin):
1140 König Roger II. von Sizilien genehmigt die erste überlieferte Studienordnung für Medizin
1231 Edikt von Salerno (auch "Constitutiones" oder Medizinalordnung) durch Kaiser Friedrich II, die Berufe Arzt und Apotheker werden getrennt
1543 erster belegter Kaiserschnitt; A. Vesal veröffentlicht das erste vollständige Lehrbuch der Anatomie
1628 Entdeckung des Blutkreislaufes durch William Harvey (1578-1657)
1661 Entdeckung der Blutkapillaren durch Marcellus Malpighi (1628-1694)
1673 Antonie van Leeuwenhoek (1632-1723) beginnt mit selbstgebauten Mikroskopen verschiedene Untersuchungen. Er entdeckt Bakterien, Spermien und rote Blutkörperchen
1761 Giovanni Battista Morgagni (1682-1771) begründet die pathologische Anatomie als Lehre von Organveränderungen
1796 erste Pockenimpfung mit Kuhpocken durch Edward Jenner (1749-1823)
1844 erste Narkose mit Lachgas durch Horace Wells (1815-1848)
1846 erste Narkose mit Ether durch William Thomas Green Morton (1819-1868)
1847 das Kindbettfieber wird erstmalig durch Ignaz Philipp Semmelweis (1818-1865) durch Einsatz von desinfizierendem Chlorwasser erfolgreich bekämpft
1854 Louis Pasteur (1822-1895) stellt Mikroorganismen als Ursache der alkoholischen Gärung und von Krankheiten fest
1858 Rudolf Virchow (1821-1902) nimmt als Ursache von Krankheiten Veränderungen der Zellen an, er begründet die Zellularpathologie
1882 Robert Koch (1843-1910) entdeckt den Tuberkelbazillus und wird zum Begründer der Bakteriologie, weitere Erreger Cholera, Pest oder Milzbrand folgen
1884 Elie Metchnikoff (1845-1916) findet weiße Blutkörperchen, die Bakterien fressen
1890 Emil Adolf von Behring (1854-1917) entwickelt ein Serum gegen Diphtherie und erhält dafür 1901 den Nobelpreis für Medizin
1895 Wilhelm Conrad Röntgen (1845-1923) entdeckt die nach ihm benannte Strahlung
1896 Ludwig Rehn gelingt die erste erfolgreiche Herznaht
1901 Konstruktion des Saitengalvanometers durch Willem Einthoven (1860-1927), Beginn der Elektrokardiographie, 1924 erhielt er dafür den Nobelpreis für Medizin
1902 Karl Landsteiner (1868-1943) entdeckt die Blutgruppen A, B, und O sowie den Rhesusfaktor; Landsteiner erhält dafür 1937 den Nobelpreis für Medizin
1903 Ferdinand Sauerbruch (1875-1951) führt erstmalig Lungenoperationen in Unterdruckkammern durch
1910 Der Nobelpreisträger Paul Ehrlich (1854-1915) entwickelt Salvarsan gegen Syphilis
1911 Begründung der Neurochirurgie durch O. Förster
1921 erstmalige Isolation von Insulin aus tierischen Bauchspeicheldrüsen durch Frederick Banting und Charles Best (1899-1978)
1929 Entdeckung des Penicillins durch Alexander Fleming(1881 - 1955); Erprobung des ersten Herzkatheters durch Theodor Forßmann (1904-1979); Erstmalige Aufnahme von Hirnströmen (EEG) durch H. Berger
1934 Entdeckung der Wirkung von Sulfonamiden durch G. Domagk
1941 Einführung des Penicillins zur Bekämpfung von Infektionskrankheiten
1954 Impfstoff gegen Kinderlähmung
1957 Einführung der Ultraschalluntersuchung bei Schwangerschaften
1967 Erste Herztransplantation durch Christiaan Barnard (1922-2001)
1979 Einführung der Computertomographie
1980 Die WHO erklärt die Pockenviren für ausgerottet; in den USA wird das Auftreten der neuen Seuche AIDS bekannt
Problematik des Begriffs "Schulmedizin"
Der Begriff "Schulmedizin" ist problematisch:
- "Schule" suggeriert eine feste Lehrmeinung, die in festen Denkstrukturen verhaftet und unfähig zu Innovationen ist. Die wissenschaftliche Medizin vertritt aber nicht ein geschlossenes System, sondern ist dadurch gekennzeichnet, dass sie sich kontinuierlich in Frage stellt.
- Naturheilkunde ist inzwischen durchaus Bestandteil der sogenannten "Schulmedizin"; Homöopathie ist beispielsweise als Zusatzbezeichnung in den ärztlichen Weiterbildungsordnungen erfasst; die Traditionelle Chinesische Medizin wird auch an Hochschulen gelehrt.
Zur Geschichte
Der Begriff stammt aus dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts. 1876 hatte ihn der homöopathische Arzt Franz Fischer aus Weingarten in einem Brief an die Redaktion der Laienzeitschrift „Homöopathische Monatsblätter“ geprägt. Fischers Äußerung fußt wohl auch auf einer Mitteilung Hahnemanns, die dieser 1832 veröffentlicht hatte und die gegen humoralpathologische Therapieansätze gerichtet war. In ihr ist von "Medizinern der Schule" die Rede. Die damaligen "schulmedizinischen" Behandlungsansätze hatten natürlich nichts mit der heutigen Hochschulmedizin gemein. Sie bezogen sich auf die sog. allopathische Medizin, die im 19. Jahrhundert auf der Basis der Galen'schen Säftelehre beruhte.
Populär wurde der Begriff in homöopathischen Kreisen Anfang der 1880er Jahre. Auch einzelne Vertreter der naturwissenschaftlichen Richtung in der Medizin gebrauchten ihn in der Auseinandersetzung mit der Naturheilkunde, und zwar im durchaus zustimmenden Sinne.
Um die Jahrhundertwende kann man von einer allgemeinen Verbreitung und Akzeptanz des Begriffs „Schulmedizin“ sprechen, und zwar als weitgehend wertneutrale Sammelbezeichnung für die herrschende Richtung in der Heilkunde.
Zur Zeit des Nationalsozialismus wurde der Begriff benutzt, um die vorwiegend jüdische Ärzteschaft zu diffamieren und statt dessen die gesunde "Volksmedizin" bzw. eine "Neue Deutsche Heilkunde" (als Gegenstück zur "verjudeten Schulmedizin") zu propagieren. Im Oktober 1933 veröffentlichte Reichsärzteführer Dr. Gerhard Wagner im „Deutschen Ärzteblatt“ einen Aufruf an „alle Ärzte Deutschlands, die sich mit biologischen Heilverfahren befassen“. Darin ist unter anderem zu lesen, dass es Heilmethoden gebe, die nicht im Einklang mit der Schulmedizin stünden, aber dennoch Erfolge aufweisen würden und die der an der Universität gelehrten "einseitigen Schulmedizin" häufig sogar überlegen seien. (vgl. hierzu auch: Robert Jütte, Von den medizinischen Sekten des 19. Jahrhunderts zu den unkonventionellen Richtungen von heute, [1])
Kritik an der Schulmedizin
Der oben stehende kurze Blick in die Medizingeschichte gibt einen Eindruck von den heftigen Auseinandersetzungen zwischen "Schulmedizin" und anderen Sichtweisen. Im Lauf dieser Geschichte wurden sehr unterschiedliche Aspekte der Schulmedizin kritisiert. Aktuell stehen folgende Kritikpunkte im Vordergrund:
- Die Schulmedizin sei zu sehr medizinisch-technisch orientiert ("Apparatemedizin"); sie vernachlässige die Zuwendung zum Patienten. Insgesamt werde der naturwissenschaftlich nicht fassbare Bereich des Seelisch-Geistigen vernachlässigt.
- Die Schulmedizin habe große Schwächen bei der Behandlung von chronischen Erkrankungen (ausgenommen invasive Interventionen) und vor allen Dingen bei deren Prävention. Beispielsweise unterstützten viele symptomorientierte Behandlungsstrategien nicht die Selbstheilungskräfte des Körpers und seien dadurch ineffektiv bis schädlich.
- Bei aller Notwendigkeit zu wissenschaftlicher Exaktheit bestehe eine zu große abhängige Gläubigkeit an Studien, deren korrekte Interpretation oft sehr schwierig ist.
- Die Abhängigkeit von der medizintechnischen und pharmazeutischen Industrie gefährde die wissenschaftliche Freiheit.
- Der zunehmende Zwang zur juristischen Absicherung ("Justifizierung") bestimme immer mehr das diagnostische und therapeutische Handeln und mache besonders die Diagnostik sehr teuer.
Zum Verhältnis von Schulmedizin und anderen Sichtweisen
Faktisch werden in den westlichen Industriegesellschaften sowohl von vielen Patienten als auch von einer wachsenden Zahl von Ärzten neben schulmedizinischen häufig alternativmedizinische Angebote genutzt bzw. gemacht. Von einer systematischen Kooperation oder gar Integration verschiedener medizinischer Grundkonzepte kann jedoch bisher nicht die Rede sein. Allenfalls gibt es eine „asymmetrische Koexistenz“, bei der an medizinischen Fakultäten fast ausschließlich Schulmedizin vermittelt und angewandt wird, in weiten Bereichen der ambulanten medizinischen Versorgung dagegen die Nutzung von Komplementärmedizin verbreitet ist.
- "Mehr als 40 Prozent aller Patienten in den USA nutzen alternative Therapiemethoden, und die Anzahl der Patientenbesuche bei komplementärmedizinischen Ärzten beziehungsweise Heilpraktikern übersteigt mittlerweile die Patientenbesuche bei Praktischen Ärzten. ... Allgemein geht man davon aus, dass knapp drei Viertel aller Deutschen Erfahrungen mit Naturheilverfahren haben. ... Im Jahr 2000 gab es in Deutschland rund 35 000 Ärzte (das entspricht mehr als zehn Prozent aller Ärzte) mit Zusatzbezeichnungen in komplementärmedizinischen Bereichen, vor allem Chirotherapie, Naturheilverfahren und Homöopathie. (nach: Schulmedizin und Komplementärmedizin: Verständnis und Zusammenarbeit müssen vertieft werden, Deutsches Ärzteblatt 101 vom 7.5.2004)
In Deutschland versucht neuerdings ein „Dialogforum Pluralismus in der Medizin“ einen kritischen Dialog innerhalb der Ärzteschaft zwischen den unterschiedlichen Richtungen in der Medizin zu verfolgen.
Literatur
- Axel W. Bauer: Geschichte der Schulmedizin, in: UNIVERSITAS, 52. Jahrgang 1997, Heft 2
- Peter Hahn: Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit in der Medizin, in: Walter Pieringer, Franz Ebner (Hrsg.): Zur Philosophie der Medizin, Springer, Wien, New York 2000, S. 35-53
- Jakob Henle: Medizinische Wissenschaft und Empirie, Zeitschrift für Rationelle Medicin 1 (1844) 1-35
- Roy Porter: Die Kunst des Heilens, Spektrum Akademischer Verlag 2003, ISBN 3-8274-1454-7, 818 Seiten. (Historisch detaillierte, gut lesbare Darstellung der Wurzeln der "Schulmedizin", mit einigen unnötigen Polemiken gegenüber der "Alternativmedizin".)
- Manfred Stöhr: Ärzte, Heiler, Scharlatane. Schulmedizin und alternative Heilverfahren auf dem Prüfstand, Steinkopff Verlag, 2001, 216 Seiten
- Thure von Uexküll, Wolfgang Wesiack: Theorie der Humanmedizin: Grundlagen ärztlichen Denkens und Handelns, Urban und Schwarzenberg, München - Wien - Baltimore, 3. Auflage 1998
Kritische Literatur
- Jörg Blech: Die Krankheitserfinder. Wie wir zu Patienten gemacht werden., ISBN 310004410X
- Ivan Illich: Die Nemesis der Medizin, ISBN 3406392040
- Herbert Immich: Medizinische Statistik ISBN 3794503155 (Lehrbuch der medizinischen Statistik, mit Beispielen von "schulmedizinischen" Fehlschlüssen. Nicht mehr neu aufgelegt)
- Kurt Langbein, Bert Ehgartner: Das Medizinkartell , ISBN 3492044077
- Petr Skrabanek, James McCormick: Torheiten und Trugschlüsse in der Medizin, Mainz ISBN 3874090949. Das Buch unterzieht die Medizin insgesamt einer sehr kritischen Würdigung aus naturwissenschaftlicher Sicht.
Siehe auch
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