Prekariat
Prekariat ist eine Wortschöpfung der Soziologie, geformt aus Teilen des Wortes Prekarität (Adj.= pre|kär [lat.-frz.] schwierig, heikel, ungewiss, unsicher) und Proletariat und definiert "ungeschützte Arbeiter" als eine neue soziale Klasse.
Dabei handelt es sich nicht um eine homogene Gruppe. Vielmehr setzt sich das Prekariat aus Selbständigen und Angestellten auf Zeit, Praktikanten, aber auch chronisch Kranken, Alleinerziehenden und Langzeitarbeitslosen zusammen. Umgangssprachlich und in Massenmedien wird auch der Begriff Neue Unterschicht als Synonym benutzt. Zum Teil abhängig von der politischen Herkunft wird der Begriff "neue Unterschicht" abgelehnt oder in weitgehender Bedeutung umfassender als der Begriff "Prekariat" verwendet. Nach der Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung "Gesellschaft im Reformprozess" gehört das abgehängte Prekariat zusammen mit den autoritätsorientierten Geringqualifizierten und einem Teil der selbstgenügsamen Traditionalisten zur unteren Schicht.
Ursprung des Begriffs
Die Idee der Existenz einer Gruppe, die als Prekariat bezeichnet werden kann, geht auf die Konzeption des Bordiguismus zurück, nach der das Proletariat als die Leute ohne Mittel definiert wird. Gruppen wie die französische "Sans Reserves" in den 1980er Jahren und die anarchistisch-bordiguistische italienische "Precari Nati" arbeiteten diese Konzeption aus.
"Prekariat" ist heute eine neue Konzeption der post-industriellen Soziologie, wozu der italienische Politologe Alex Foti erklärt: „Das Prekariat ist in der post-industriellen Gesellschaft das, was das Proletariat in der Industriegesellschaft war“.
Demoskopie
Nach der Studie „Gesellschaft im Reformprozess“ der Friedrich-Ebert-Stiftung, die im Dezember 2006 veröffentlicht wird, gehören 6,5 Millionen Deutsche (das entspricht acht Prozent der Gesamtbevölkerung) zum abgehängten Prekariat. Frank Karl von der Friedrich-Ebert-Stiftung betonte, dass der Begriff „Neue Unterschicht“ in der Studie nicht vorkomme. Dennoch wird diese Studie zwei Monate vor ihrer Veröffentlichung unter dem Titel „Unterschichtsstudie“ in den Massenmedien diskutiert.
Charakterisiert wird das Prekariat durch ungeschützte, sogenannte flexibilisierte Arbeitsverhältnisse, Arbeitslosigkeit oder Niedrigsteinkommen, Verschuldung oder mangelnde Bildung. Kommen mehrere Faktoren zusammen und mündet dies in langfristige Aussichtslosigkeit auf Verbesserung der Situation, häufig in Verbindung mit Resignation, wird vom „abgehängten Prekariat“ gesprochen. Weiterhin zeichne sich diese Gruppe durch geringen familiären Rückhalt und einen Hang zu autoritären politischen Verhältnissen aus.
Von der Prekarität des Prekariats
Der Begriff fasst Arbeiter, die nur Aussichten auf unsichere Arbeitsverträge haben, zu einer Gruppe zusammen. Evelyne Perrin von Stop-Précarité sagt hierzu: „In dieser neuen kapitalistischen Organisation wird das Prekariat strukturell und für die Arbeitgeber handelt es sich darum, dem Prekariat das Risiko der Beschäftigung aufzulasten, alles zu veräußerlichen, was sozialer Schutz und gemeinsame Garantie vor dem Verlust des Arbeitsplatzes war.“[1]
Seit einigen Jahren gibt es die Internationale Zusammenkunft des Prekariats in Berlin. Die letzte Zusammenkunft hat im Januar 2005 stattgefunden.
Debatten um den Begriff Neue Unterschicht
Von konservativer Seite wird das Prekariat mit dem Begriff Neue Unterschicht benannt und substanzialisiert. Der Begriff Neue Unterschicht ist dabei eher der kulturalistischen Klassentheorie zuzuordnen. Wichtigster Vertreter ist Paul Nolte, der in seiner Schrift Generation Reform[1] von 2004 eine kulturelle Spaltung der „Neuen Unterschicht“ von der Mehrheitsgesellschaft ausmacht.
Wichtige Eckpunkte dieser Theorie sind, dass extreme Vermögensunterschiede als gegeben betrachtet werden, die Angehörigen der Neuen Unterschicht durch sozialstaatliche Alimentierung kulturell verwahrlost seien und sich der „bürgerlichen Leitkultur“ (Nolte) anzupassen hätten. Kritisiert wird an dieser neuen Klassentheorie, dass „eine Bedrohung für die Mehrheitsgesellschaft konstruiert würde“ und Personen, die zur Gruppe der „Neuen Unterschicht“ gerechnet würden, Diffamierungen ausgesetzt sind.[2] Seit Noltes Veröffentlichung wurde dem Begriff in allen größeren Magazinen Leitartikel gewidmet, und es erschienen einige Fernsehreportagen zu diesem Thema.
Politische Debatte
Der SPD-Vorsitzende Kurt Beck rief aufgrund der Ergebnisse der Studie „Gesellschaft im Reformprozess“ zu einem Bildungsaufbruch auf, mit dem die Bildung und damit die Aufstiegschancen der „Unterschicht“ verbessert werden sollen. Sowohl einige CDU- als auch einige SPD-Politiker lehnen die Formulierung „Unterschicht“ jedoch ab, da dieses Wort eine Bevölkerungsschicht abstemple bzw. ausgrenze. Vize-Kanzler Franz Müntefering sagte im Sender N24, dies sei eine Formulierung "lebensfremder Soziologen, es gibt keine Schichten in Deutschland. Es gibt Menschen, die es schwerer haben, die schwächer sind. Das ist nicht neu. Das hat es schon immer gegeben. Aber ich wehre mich gegen die Einteilung der Gesellschaft." Wolfgang Thierse widerspricht dem und hält dagegen, Deutschland sei immer eine „Klassengesellschaft“ gewesen. Der Politikwissenschaftler Gerd Mielke (Universität Mainz) sieht in den Stellungnahmen von CDU- und SPD-Politikern eine Verleugnung der Realität und den Versuch der beiden Volksparteien, "sich wortreich von der Verantwortung für die Ausgestaltung von Lebensumständen zu verabschieden. Armut und Abstieg werden zum individuellen Schicksal umdefiniert; und wer arm bleibt oder absteigt, der hatte eben Pech, er hätte sich mehr anstrengen sollen". [3]
Ursula Engelen-Kefer und Ottmar Schreiner vom linken SPD-Flügel machten dagegen Reformen der Schröder-Regierung wie die Ich-AGs für die Herausbildung einer "neuen Unterschicht" mit verantwortlich. Aber auch Tobias Dürr warnte davor, die Augen vor der Existenz einer Unterschicht zu verschließen.
SPD-Generalsekretär Hubertus Heil und Finanzminister Peer Steinbrück appellierten an Wohlhabende und warnten vor der "Abkoppelung" eines wachsenden Teils der Bevölkerung, der sich gedemütigt und deklassiert fühle. Heil sagte, Wenn man über Armut in Deutschland redet, darf man über Reichtum nicht schweigen.
CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla machte ebenso die vorherige rot-grüne Regierung für einen Anstieg der Armut verantwortlich, und kündigte als Lösung Kombilohn-Modelle an.
Caritas und DGB widersprachen dem allerdings, das Problem seien weniger die letzten Arbeitsmarkt-Reformen, als vielmehr die Massenarbeitslosigkeit. Hartz IV sei auch nicht schuld an Bildungsferne. Michael Sommer (DGB) kritisierte staatliche Politik, die dazu führe, dass die einen immer reicher und die anderen immer ärmer werden. Die FDP warf der Regierung eine verfehlte Wirtschaftspolitik vor, und forderte gleiche Startbedingungen für Kinder.
Die Grünen und die Linkspartei setzten sich für eine Aktuelle Stunde im Bundestag zum Thema ein. Volker Beck (Grüne) forderte, die große Koalition müsse endlich die langfristige Armutsbekämpfung zum Ziel ihrer Sozialpolitik machen. Oskar Lafontaine (Linkspartei) kritisierte, alle Parteien hätten daran mitgewirkt, die Zustände herbeizuführen, die jetzt beklagt würden.
Quellen
- ↑ Paul Nolte: Generation Reform. Jenseits der blockierten Republik, Bonn 2004
- ↑ Fabian Kessl: Das wahre Elend? Zur Rede von der „neuen Unterschicht“, in: Widersprüche. 25. Jg. Heft 98, 2005
- ↑ Mielke, Gerd (2006): Adenauer und Brandt würden sich im Grab umdrehen. BZ-Gastbeitrag: Die Volksparteien versuchen sich aus der Verantwortung für Armut und Abstieg vieler Deutscher zu stehlen. In: Badische Zeitung, 19.10.2006, S. 4. Freiburg.
Literatur
- Paul Nolte: Generation Reform. Jenseits der blockierten Republik Bonn 2004
- Fabian Kessl: Das wahre Elend? Zur Rede von der "neuen Unterschicht", in: Widersprüche - Zeitschrift für sozialistische Politik im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich: Heft 98 Dezember 2005
- Alex Klein, Sandra Landhäußer, Holger Ziegler: The Salient Injuries of Class: Zur Kritik der Kulturalisierung struktureller Ungleichheit, in: Widersprüche - Zeitschrift für sozialistische Politik im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich: Heft 98 Dezember 2005
- Widersprüche - Zeitschrift für sozialistische Politik im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich: Heft 98: Klassengesellschaft reloaded - Zur Politik der "neuen Unterschicht" Kleine Verlag Dezember 2005 ISBN 3-89370-412-4
- Serge Paugam: La disqualification sociale : essai sur la nouvelle pauvreté, PUF, 2002
- Évelyne Perrin: Chômeurs et précaires au cœur de la question sociale, La Dispute, 2004
- Franz Schultheis, Kristina Schulz (Hrsg.): Gesellschaft mit begrenzter Haftung. Zumutungen und Leiden im deutschen Alltag UVK-Verlag, Konstanz 2005 ISBN 3-89669-537-1
- * Heinz Bude, Andreas Willisch (Hrsg.): „Das Problem der Exklusion. Ausgegrenzte, Entbehrliche, Überflüssige“, Hamburger Edition, Hamburg: HIS-Verlagsgesellschaft 2006, ISBN 978-3-936096-69-9
Siehe auch
- Prekarisierung, Prekarität, Wohlstand, Armut, Bildungsbenachteiligung
- EuroMayDay-Parade, Die Überflüssigen
- Sans papiers
- Working Poor, Jobhopper, Cappuccino-Worker
- Immaterielle Arbeit
- Contrat première embauche, der durch Proteste zu Fall gebrachte "Ersteinstellungsvertrag" in Frankreich
- Lumpenproletariat, White Trash, Prolet
Weblinks
- La figure nouvelle du « précariat », L'Humanité, 7 octobre 2004
- « L'Etat incendiaire face aux banlieues en feu » par Loïc Wacquant
- Le Précariat, Série de 3 émissions de radio sur France Culture
- Thomas Gross: "Von der Boheme zur Unterschicht: Job, Geld, Leben – nichts ist mehr sicher. Eine neue Klasse der Ausgebeuteten begehrt auf: Das Prekariat" in: Die Zeit vom 27. April 2006
- Erika Feyerabend: Prekarität des "nackten" Lebens. Diesseits und jenseits der kapitalistischen Verwertungszonen
- Martin Dieckmann: Die Widerruflichkeit der Normalität - Vortrag über Prekarität und Prekarisierung 2005
- Punti San Precario: "Der Schutzheilige des Präkariats" - Seite auf italinisch
Zur Debatte Neue Unterschicht
- Unterschichtler - Informationen zur "neuen Unterschicht" - www.unterschichtler.de
- Der Unterschichtler - Politisches Online-Magazin zum Thema soziale Gerechtigkeit - www.der-unterschichtler.de
- Wolfgang Uchatius: ""Die neue Unterschicht" in: Die Zeit vom 10. März 2005
- stern-online: Unterschicht. Das wahre Elend
- Interview mit dem Studienleiter der Friedrich-Ebert-Stiftung Bonn
- Fabian Kessl: Das wahre Elend. Zur Rede von der "neuen Unterschicht"
- Gesellschaft im Reformprozess - Die Friedrich-Ebert-Stiftung untersucht Reformbereitschaft der Deutschen