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Gerhard Paul von Rad (* 21. Oktober 1901 in Nürnberg; † 31. Oktober 1971 in Heidelberg) war ein deutscher evangelischer Alttestamentler.
Leben
Familiärer Hintergrund
Gerhard von Rad verbrachte seine Kindheit in Nürnberg.[1] Sein Vater, der Mediziner Karl von Rad (1870–1949)[2] arbeitete dort am städtischen Klinikum und stieg als Leiter der Psychiatrisch-neurologischen Klinik bis zum Stadtobermedizinalrat und Sanitätsrat auf.[3] Seine Mutter Else geb. Spitta (* 1875) war die Tochter des Tübinger Philosophieprofessors Heinrich Spitta. Gerhard und sein älterer Bruder Hans waren wegen der verwandtschaftlichen Beziehungen in den Ferien regelmäßig in Tübingen. Da die Großeltern Spitta dort in der gleichen Straße wohnten wie die Großeltern Bonhoeffer, kannten sich Gerhard von Rad und Dietrich Bonhoeffer aus Kindertagen.[4]

Ab 1911 besuchte Gerhard von Rad das humanistische Gymnasium in Nürnberg. Schwache Leistungen im Fach Mathematik machten 1913 den Wechsel zum Gymnasium Casimirianum Coburg notwendig.[5] Konfirmiert wurde Gerhard von Rad 1915 in St. Sebald von Friedrich Rittelmeyer. Da die Eltern in Nürnberg bezüglich des Konfirmandenunterrichts Wahlfreiheit hatten, standen die von Rads offenbar dem Freien Protestantismus nahe, wie Rittelmeyer ihn vertrat. Gerhard von Rad behielt seinen Konfirmator in positiver Erinnerung.[6]
Die Schulzeit in Coburg war wegen des Ersten Weltkriegs mit Einschränkungen verbunden. Gerhard von Rad besuchte zunächst ein Knabenpensionat. Weil er von dem Leiter schikaniert wurde, nahmen die Eltern ihn dort heraus und brachten ihn in einer Privatpension unter. Er wollte Marineoffizier werden und wurde 1918 als Offiziersanwärter angenommen. Doch vor seinem Eintritt in die Marine war der Krieg beendet. In der Mathematik hatte er sich mittlerweile stabilisiert. Ein neuer Rektor des Casimirianum, der von der Fürstenschule Meißen kam, vermittelte dem Schulalltag starke Impulse: Deutschtum, humanistische Bildung und eine durch militärisch organisierte Frühandachten vermittelte Kirchlichkeit prägten die letzten Schuljahre. Wanderungen, insbesondere Nachtwanderungen blieben Gerhard von Rad in Erinnerung, doch scheint er erst nach dem Abitur 1921 in Kontakt mit der Jugendbewegung gekommen zu sein.[7]
Als Berufswunsch stand nun die Medizin im Vordergrund, aber sein Vater riet ihm davon ab.[8] Gerhard von Rad stieß bereits als Primaner im Zusammenhang mit Familienbesuchen zum Mittwochskreis des Nürnberger Pfarrers an St. Sebald Wilhelm Stählin. Ebenso wie Wolfgang Trillhaas, der dem gleichen Kreis angehörte, fasste er unter Stählins Einfluss den Entschluss zum Theologiestudium. „Vom Elternhaus her war es nicht zu erwarten, geschweige denn erwünscht.“[9] Dazu trugen lange Privatgespräche mit Stählin bei, aber auch die kursorische Lektüre von Karl Barths Römerbriefkommentar (1. Auflage); von Rad hat später als Kuriosum erzählt, dass er ausgerechnet durch Stählin auf Barth aufmerksam gemacht wurde.[10]
Studium in Erlangen und Tübingen
Zum Sommersemester 1921 immatrikulierte sich Gerhard von Rad für das Studium der Evangelischen Theologie an der Universität Erlangen. Sein älterer Bruder Hans, Medizinstudent, wechselte im Herbst von München nach Erlangen, und beide bezogen ein gemeinsames Studentenzimmer. Die brüderliche Wohngemeinschaft war bald überschattet durch Hans von Rads Tuberkulose (er starb im September 1923). Gerhard von Rad, der Anschluss suchte, gehörte kurz der Burschenschaft der Bubenreuther an. Er fühlte sich aber bei dem dort gepflegten Bier-Comment überhaupt nicht wohl. Die Erlanger Theologische Fakultät machte Anfang der 1920er Jahre kein sehr attraktives Angebot. Am meisten sprach ihn eine Johannesvorlesung des Extraordinarius für Reformierte Theologie E. F. K. Müller an. Ansonsten nutzte von Rad jede Gelegenheit zu Besuchen im nahen Nürnberg.[11]
Nach zwei Erlanger Semestern wechselte Gerhard von Rad an die Universität Tübingen, die wegen Adolf Schlatter und Karl Heim für bayerische Theologiestudenten eine hohe Attraktivität hatte. Er schloss sich der Studentenverbindung Akademische Gesellschaft Stuttgardia an, wichtiger war für ihn aber ein Kreis der Jugendbewegung, wo er sich mit Max Rümelin und Albrecht Faber anfreundete.[12] Wie es einer pietistischen Tübinger Tradition entsprach, hatte die regelmäßige Bibelbetrachtung für von Rad in dieser Lebensphase große Bedeutung. Nach vier Tübinger Semestern kehrte er zu Examensvorbereitung nach Erlangen zurück und zog wieder im Nürnberger Elternhaus ein. Sein in der Regelstudienzeit von acht Semestern absolviertes Theologiestudium lässt noch nicht den späteren Bibelwissenschaftler erkennen und bleibt blass.[13]
Vikariat
Nachdem er die das erste Examen der Bayerischen Landeskirche am 9. März 1925 abgelegt hatte, strebte Gerhard von Rad nicht direkt ins Pfarramt. Anstatt ins Predigerseminar einzutreten, ließ er sich zunächst für ein Jahr beurlauben und ging als Präfekt an das neue evangelische Studienheim in Würzburg. Die Landeskirche unterhielt insgesamt 14 solche Internate. Von Rad war für eine Gruppe von zwölf Jungen zuständig, mit denen er Wanderungen unternahm und Fußball spielte, außerdem war er zu einer allabendlichen Andacht verpflichtet. Bereits zum 1. Januar 1926 wurde er Privatvikar in Lauf an der Pegnitz, d. h. der chronisch kranke Ortspfarrer bezahlte ihn dafür, dass er an seiner Stelle die Amtsgeschäfte versah und erhielt sich dadurch selbst die kirchlichen Bezüge. Am 7. Februar wurde von Rad in St. Johannis (Schweinfurt) ordiniert. Es folgten nun strapaziöse Vakanzvertretungen in Neu-Ulm und Traunstein.[14]
Die Nürnberger Familien von Rad und von Löffelholz waren miteinander befreundet. Gerhard von Rad lernte Luise von Löffelholz (1902–1995), die Tochter des Generalmajors Georg Freiherr Löffelholz von Kolberg, bei gemeinsamen Hausmusikabenden kennen. Die Verlobung fand bereits kurz nach dem ersten Examen statt, doch da Kandidaten der Theologie erst nach dem zweiten Examen heiraten durften, stand eine etwa dreijährige Wartezeit an. Am 9. Dezember 1928 fand die Trauung in St. Sebald statt.[15]
Promotion in Erlangen

Am 17. November 1926 beantragte von Rad beim Landeskirchenamt einen einjährigen Urlaub, der dann mehrfach verlängert wurde. Er wolle bei dem Alttestamentler Otto Procksch eine wissenschaftliche Arbeit schreiben und gegebenenfalls eine akademische Laufbahn einschlagen. Procksch war 1925 von Greifswald nach Erlangen gewechselt; Gerhard von Rad stellte sich bei ihm vor, erhielt aber von ihm die Auflage, vor einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Alten Testament die orientalischen Sprachen zu lernen. So nahm von Rad Arabisch- und Aramäischunterricht. Er strebte eine Lizenziatenpromotion im Alten Testament an. Rückblickend äußerte er dazu, die antisemitischen Aktivitäten des Bunds für Deutsche Kirche hätten ihn herausgefordert, mehr Kompetenz in Bezug auf das von dieser Gruppierung abgelehnte Alte Testament zu erwerben.[16]
Procksch schlug ihm als Promotionsthema eine Arbeit über das Deuteronomium vor, ein in der zeitgenössischen Exegese sehr umstrittenes biblisches Buch. Von Rad nahm sich vor, das Buch „aus sich heraus“, als stilisierte Moserede, zu interpretieren. Das zentrale Thema sei das Volk Gottes. Es übersteige das mit der Arbeit gestellte Thema, sei aber lohnend, das Deuteronomium als Mitte des Alten Testaments zu betrachten, von wo aus Strahlen in alle Richtungen ausgingen. Die Arbeit wurde 1929 unter dem Titel Das Gottesvolk im Deuteronomium veröffentlicht.[17]
Privatdozent in Leipzig (1930–1934)

Die Lehrstuhlinhaber Otto Procksch (Erlangen) und Albrecht Alt (Leipzig) waren seit langem miteinander befreundet. Der neun Jahre ältere Procksch sah in Alt einen bedeutenden Gelehrten und empfahl daher Nachwuchswissenschaftlern, nach Leipzig zu gehen. So war von Rad seit dem Frühjahr 1928 auch in Alts Leipziger Veranstaltungen anzutreffen.
Als durch den Ruf Martin Noths an die Universität Königsberg die Assistentenstelle in Leipzig frei wurde, schlug Alt von Rad vor, als Privatdozent nach Leipzig zu wechseln und „all das philologische, archäologische und sonstige Zubehör“ zu erlernen. Er wolle ihn gern unterstützen, „am einfachsten so, daß ich Sie, wie das so meine Art ist, an dem Anteil nehmen ließe, was mich selbst von Tag zu Tag beschäftigt.“[18] Von Rad kam. Die vier Leipziger Jahre wurden für ihn sehr arbeitsreich. Er bot in jedem Semester einen Hebräischkurs, ein Proseminar und eine Hauptvorlesung an. Zweimal (1930 und 1932) nahm er in den Semesterferien an Alts mehrwöchigen Palästinaexkursionen teil.
Gerhard von Rad trat 1933 der SA bei (er gehörte ihr bis 1936 an).[19]
Ordinarius für Altes Testament
Jena (1934–1945)
„Willy Staerk holt 1934 den Leipziger Privatdozenten mit einem unico-loco-Berufungsvorschlag der Fakultät an die Universität Jena.“[20] Von Rad selbst vermutete, dass er seine Berufung dem Drängen des Praktischen Theologen Wolf Meyer-Erlach verdankte. Dieser war bis 1933 bayerischer Gemeindepfarrer gewesen und hatte dann als Nationalsozialist und deutschchristlicher Rundfunkprediger Karriere gemacht; schließlich war er ohne wissenschaftliche Qualifikation auf den Lehrstuhl für Praktische Theologie in Jena gekommen. Meyer-Erlach schätzte von Rad irrtümlich als „positiven“ Theologen ein.[21]
Verglichen mit den Deutschkirchlern, waren die Thüringer Deutschen Christen Anfang der 1930er Jahre etwas weniger radikal. Das Alte Testament sei zwar nur das „religiöse Volksbuch der Juden“, jedoch könnten auch gute Deutsche aus der Lektüre Erkenntnisse von Wert gewinnen, wie das Beispiel von Herder, Goethe und Kant zeige. Gerhard von Rad fand nur in Waldemar Macholz im Kollegium einen Ansprechpartner, der dem NS-Staat wie er selbst reserviert gegenüberstand, und Macholz war von der Praktischen Theologie auf das Nebenfach Konfessionskunde abgedrängt worden.[22]
Je mehr die Fakultät auf den deutschchristlichen Kurs einschwenkte, desto mehr zogen sich Macholz und von Rad aus der Fakultätspolitik zurück. Mit seiner jungen Familie bewohnte Gerhard von Rad ein Einfamilienhaus in der Leo-Sachse-Str. 20, wo zwei der vier Kinder zur Welt kamen. Er vertiefte sich in die Vorbereitung der Vorlesungen und Seminare sowie einige wissenschaftliche Publikationen. Darunter war Das formgeschichtliche Problem des Hexateuch (gedruckt 1938), worin er die These des Kleinen geschichtlichen Credo darlegte. Zeitlebens war von Rad überzeugt, mit dieser These seinen wichtigsten wissenschaftlichen Beitrag geleistet zu haben.[23]
Nach 1935 radikalisierten sich die Thüringer Deutschen Christen zunehmend. Ihre Aggression richtete sich auf Juden und Judenchristen, mittelbar aber auch gegen das Alte Testament. Heinz Erich Eisenhuth erhielt 1937 den Jenaer Lehrstuhl für Systematische Theologie, Walter Grundmann wechselte im Winter 1937/38 vom Eisenacher „Entjudungsinstitut“ auf den Lehrstuhl für Neues Testament in Jena. Nachdem Macholz 1938 emeritiert wurde, blieb Gerhard von Rad als letzter Vertreter der Bekennenden Kirche im Kollegium übrig, mit allerdings schwacher Unterstützung des Kirchenhistorikers Karl Heussi, der sich als neutral verstand. Er versuchte, Jena zu verlassen, zumal er in Erlangen gute Aussichten auf die Nachfolge von Otto Procksch hatte. Doch das Reichsbildungsministerium machte klar, dass von Rad nicht mehr vorzuschlagen sei. Wie stark er im Abseits stand, zeigt der Umstand, dass von 1933 bis 1945 an der Jenaer Fakultät 45 Promotionsarbeiten eingereicht wurden, aber keine wurde im Fach Altes Testament geschrieben, und nur in wenigen Fällen war von Rad als Zweitgutachter beteiligt. Dissertationen der völkischen Grundmann-Schule beherrschten das Feld. Ende 1938 verzichtete das Eisenacher Landeskirchenamt auf den Nachweis von Hebräischkenntnissen im Ersten Theologischen Examen; Jesus Christus werde ohne Altes Testament aus der germanischen und deutschen Geschichte vollauf verständlich. Demnach sollte der theologische Nachwuchs sich auf die religiösen Traditionen der Germanen konzentrieren. Heussi und von Rad versuchten mit einem Minderheitsvotum vergeblich, den Hebräischunterricht in Jena zu erhalten und argumentierten, die Qualität der Lehre und der Ruf der Fakultät nehme Schaden. Im Wintersemester 1939/40 wurde Altes Testament von der Fakultät unter Religionsgeschichte subsumiert, und da Altes Testament im Thüringer Ersten Examen nicht mehr abgeprüft wurde, hatte von Rad auch keine Aufgabe mehr als Prüfer. Es stand ihm frei, Hebräischunterricht für einzelne Interessierte anzubieten.[24]
Ein Gegengewicht zu seiner Isolation an der Universität bot von Rad das Engagement in der Jenaer Bekenntnisgemeinde, zu der sich 100–180 Personen hielten. Nachdem die deutschchristliche Kirchenleitung die Überlassung von Gemeinderäumen für Veranstaltungen der Bekennenden Kirche verboten hatte, mietete die Gemeinde einen Raum in der Camsdorfer Str. 17 an, den sie mit der Ortsgruppe von Christian Science gemeinsam nutzte, während sich im Erdgeschoss die NSDAP traf. Außerdem luden die Eheleute von Rad allwöchentlich zu offenen Abenden in ihr Haus ein. Hier wurden exegetische, theologische, aber auch literarische Themen diskutiert. Luise und Gerhard von Rad gehörten zu dem Jenaer Akademikerkreis um Ricarda Huch. Gerhard von Rad bereiste Bekenntnisgemeinden bis hinauf nach Hamburg und hielt Vorträge, mindestens einmal (1937) nahm er an einem illegalen Kurs für Theologiestudenten der Bekennenden Kirche teil – eine Tätigkeit, die vorwiegend von Dozenten der Kirchlichen Hochschulen geleistet wurde, da Professoren an staatlichen Hochschulen mit ihrer Teilnahme die Entlassung riskierten.[25]
Gerhard von Rad wurde mehrfach gemustert, aber wegen seines Herzleidens vom Kriegsdienst zurückgestellt. Im Spätsommer 1944 wurde er dann doch eingezogen; ab Januar 1945 war er Sekretär und Lastkraftwagenfahrer für den Stab der Garnison von Jena-Zwätzen.[26] Von April bis Juni 1945 war er in einem amerikanischen Kriegsgefangenenlager bei Bad Kreuznach. Rückblickend beschrieb er, wie verloren der einzelne in der anonymen Menschenmenge war, die auf freiem Feld dicht an dicht unter katastrophalen sanitären Verhältnissen ausharrte. Einmal gab es einen Abendmahlsgottesdienst mit Wasser. Schließlich wurde er in das Revierzelt verlegt, wo die Lebensbedingungen besser waren. Hier traf er mit anderen Theologen zusammen, darunter Ernst Käsemann und Walther Fürst. Nach Entlassung schlug er sich per Anhalter auf der Autobahn nach Süddeutschland durch. Er erreichte das Sommerhaus seiner Familie in Endorf am Chiemsee, wo er sich von der Lagerhaft erholte.[27] Aus Jena, nun in der Sowjetischen Besatzungszone, erreichten ihn in Endorf keine Informationen. Dagegen reisten Vertreter der Göttinger Theologischen Fakultät mehrmals nach Oberbayern, um von Rad das Ordinariat für Altes Testament anzutragen. Schließlich sagte er zu. „‚Jena blieb stumm‘, schrieb er später, ‚u[nd] war, wie ich annehmen mußte, akademisch tot.‘“[28]
Göttingen (1946–1949)
Die Theologische Fakultät der Universität Göttingen hatte 1941 ihr Ordinariat für Altes Testament eingebüßt – ein Sonderfall unter den evangelischen Fakultäten. Ab dem 1. Juni 1945 gehörte Göttingen zur britischen Besatzungszone. Schon im August 1945 wurde der Lehrstuhl für Altes Testament wieder eingerichtet, noch bevor der Universitätsbetrieb wieder aufgenommen wurde. Für die bislang stramm deutschchristlich ausgerichtete Fakultät stand ein einschneidender personeller Umbruch an. Auf Walter Bauer, der ordnungsgemäß emeritiert wurde, folgte der Bultmann-Schüler Günther Bornkamm. Emanuel Hirsch kam seiner Entlassung zuvor und ließ sich aus gesundheitlichen Gründen in den Ruhestand versetzen, auf ihn folgte Hans Joachim Iwand. Walter Birnbaum wurde entlassen, an seine Stelle trat Wolfgang Trillhaas. Der gleichfalls wegen seiner NS-Belastung entlassene Kirchengeschichtler Martin Gerhardt wurde durch Ernst Wolf ersetzt. Auf den Lehrstuhl für Altes Testament wurde Gerhard von Rad berufen. Diese Neubesetzungen der Ordinariate, bei denen im Hintergrund ein starker Einfluss von Otto Weber vermutet wird, machten aus der Göttinger Fakultät eine Art Vorzeigeprojekt: Alle Neuberufenen, deren fachliche Qualifikation unbestritten war, hatten wegen ihrer Zugehörigkeit zur Bekennenden Kirche im NS-Staat Nachteile erlitten.[29]
Im Wintersemester 1945/46 bot von Rad zwei vierstündige Vorlesungen an. „Nun wird von Rads Hörsaal voll und übervoll. Wohl hatte schon der Privatdozent in Leipzig bald mehr Hörer gehabt als der Meister Albrecht Alt. … Jetzt kamen die Jungen aus den Lagern. ‚Sie wollten genau das, was wir bieten konnten. Bedürfnis der Studenten und Möglichkeiten des Dozenten kamen sich entgegen‘“ – so zitierte Hans Walter Wolff aus einem Gespräch mit Gerhard von Rad.[30] Bei allem Beifall, den er im Hörsaal erhielt, sei von Rad aber auch bewusst gewesen, dass in den Kriegsjahren die internationale Forschung an ihm vorbeigelaufen war und er viel aufzuholen hatte.
Heidelberg (1949–1966)
Letzte Lebensjahre
Zu seinem 70. Geburtstag am 21. Oktober 1971 wurde Gerhard von Rad eine Festschrift überreicht, die er mit Interesse durchsah, schon von Krankheit gezeichnet. Bundespräsident Gustav Heinemann hatte das Vorwort verfasst. Der Geehrte starb wenige Tage später am 31. Oktober 1971. Die Trauerfeier fand am 4. November in der Heidelberger Universitätskirche (Peterskirche) statt.[31]
Werk
Theologie des Alten Testaments
Von Rad gilt als der Wiederentdecker der „Theologie des Alten Testaments“ – so auch der Titel seines Hauptwerkes, das in zahlreiche Sprachen übersetzt worden ist. Als Schüler von Albrecht Alt, zugleich auch unter dem Einfluss der Arbeiten von Hermann Gunkel, entwickelte von Rad einen überlieferungsgeschichtlichen Ansatz für die Theologie des Alten Testaments, die er in zwei große Sachbereiche aufgliederte, die „Theologie der geschichtlichen Überlieferung“ und die „Theologie der prophetischen Überlieferung“.
Weisheit in Israel
Wirkung
Seine Wirkung als akademischer Lehrer war sowohl in der Pfarrerschaft als auch im akademischen Nachwuchs enorm. Viele seiner Schüler bekleideten später Professuren an deutschen Universitäten wie z. B. Hans Walter Wolff, Odil Hannes Steck, Hans-Joachim Kraus, Rolf Rendtorff, Klaus Koch und Hans-Jürgen Hermisson. Wesentliche Ansätze von Rads griff auch Hartmut Gese auf.
Ehrungen
Gerhard von Rad wurde 1963 in den Orden Pour le mérite für Wissenschaften und Künste aufgenommen. Im März 1971 wurde er von der Universität Utrecht mit dem Ehrendoktortitel ausgezeichnet.[32]
Literatur
- Susanne Böhm: Gerhard von Rad in Jena. In: Uwe Becker, Jürgen van Oorschot (Hrsg.): Das Alte Testament – ein Geschichtsbuch?! Geschichtsschreibung oder Geschichtsüberlieferung im antiken Israel (= Arbeiten zur Bibel und ihrer Geschichte, 17). EVA, Leipzig 2005, S. 203–240.
- James L. Crenshaw: Gerhard von Rad: Grundlinien seines theologischen Werkes. Kaiser, München 1979.
- Friedrich Wilhelm Graf: Rad, Gerhard Paul von. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 21, Duncker & Humblot, Berlin 2003, ISBN 3-428-11202-4, S. 80 f. (Digitalisat).
- Martin Hauger: Gerhard von Rads frühe Predigten. Eine historisch-homiletische Untersuchung. EVA, Leipzig 2013.
- Susannah Heschel: Die Theologische Fakultät der Universität Jena als „Bastion des Nationalsozialismus“. In: Uwe Hossfeld (Hrsg.): „Im Dienst an Volk und Vaterland“: Die Jenaer Universität in der NS-Zeit. Böhlau, Köln u. a. 2005, S. 165–190.
- Sebastian Gérard Kirschner: Ein Volk aus göttlicher Erwählung: Die Gottesvolk-Theologie Gerhard von Rads in ihrer Zeit und in ihrer Bedeutung für die Ekklesiologie des 2. Vatikanischen Konzils. Neukirchener Verlag, Neukirchen-Vluyn 2016.
- Konrad von Rabenau: Als Student bei Gerhard von Rad in Jena 1943–1945. In: Manfred Oeming et al. (Hrsg.): Das Alte Testament und die Kultur der Moderne: Beiträge des Symposiums „Das Alte Testament und die Kultur der Moderne“ anlässlich des 100. Geburtstags Gerhard von Rads (1901 - 1971), Heidelberg, 18. - 21. Oktober 2001. LIT, Münster 2004, S. 7ff.
- Rolf Rendtorff: Rad, Gerhard von. In: Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG). 4. Auflage. Band 7, Mohr-Siebeck, Tübingen 2004, Sp. 15–16.
- Rudolf Smend: Kritiker und Exegeten. Porträtskizzen zu vier Jahrhunderten alttestamentlicher Wissenschaft. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2017, S. 794–824.
- Hans Walter Wolff: Gespräch mit Gerhard von Rad. In. Ders. (Hrsg.): Probleme biblischer Theologie: Gerhard von Rad zum 70. Geburtstag. Kaiser, München 1971, S. 648–658.
Anmerkungen
- ↑ Die Familie von Rad wohnte von 1902 bis 1910 in der Karolinenstr. 33, danach im Kirchenweg. Vgl. Martin Hauger: Gerhard von Rads frühe Predigten. Eine historisch-homiletische Untersuchung, Leipzig 2013, S. 69 Anm. 173.
- ↑ Archivportal-D: Rad, Karl von * 7.9.1870
- ↑ Martin Hauger: Gerhard von Rads frühe Predigten. Eine historisch-homiletische Untersuchung, Leipzig 2013, S. 66.
- ↑ Martin Hauger: Gerhard von Rads frühe Predigten. Eine historisch-homiletische Untersuchung, Leipzig 2013, S. 68.
- ↑ Rudolf Smend: Kritiker und Exegeten. Porträtskizzen zu vier Jahrhunderten alttestamentlicher Wissenschaft, Göttingen 2017, S. 797; Martin Hauger: Gerhard von Rads frühe Predigten. Eine historisch-homiletische Untersuchung, Leipzig 2013, S. 69.
- ↑ Martin Hauger: Gerhard von Rads frühe Predigten. Eine historisch-homiletische Untersuchung, Leipzig 2013, S. 70-74.
- ↑ Martin Hauger: Gerhard von Rads frühe Predigten. Eine historisch-homiletische Untersuchung, Leipzig 2013, S. 75-79.
- ↑ Rudolf Smend: Kritiker und Exegeten. Porträtskizzen zu vier Jahrhunderten alttestamentlicher Wissenschaft, Göttingen 2017, S. 798.
- ↑ Hans Walter Wolf: Gespräch mit Gerhard von Rad, München 1971, S. 649.
- ↑ Rudolf Smend: Kritiker und Exegeten. Porträtskizzen zu vier Jahrhunderten alttestamentlicher Wissenschaft, Göttingen 2017, S. 798; Martin Hauger: Gerhard von Rads frühe Predigten. Eine historisch-homiletische Untersuchung, Leipzig 2013, S. 80-82.
- ↑ Martin Hauger: Gerhard von Rads frühe Predigten. Eine historisch-homiletische Untersuchung, Leipzig 2013, S. 83-88.
- ↑ Martin Hauger: Gerhard von Rads frühe Predigten. Eine historisch-homiletische Untersuchung, Leipzig 2013, S. 93.
- ↑ Martin Hauger: Gerhard von Rads frühe Predigten. Eine historisch-homiletische Untersuchung, Leipzig 2013, S. 103.
- ↑ Martin Hauger: Gerhard von Rads frühe Predigten. Eine historisch-homiletische Untersuchung, Leipzig 2013, S. 103-108.
- ↑ Martin Hauger: Gerhard von Rads frühe Predigten. Eine historisch-homiletische Untersuchung, Leipzig 2013, S. 111 f.
- ↑ Rudolf Smend: Kritiker und Exegeten. Porträtskizzen zu vier Jahrhunderten alttestamentlicher Wissenschaft, Göttingen 2017, S. 799.
- ↑ Rudolf Smend: Kritiker und Exegeten. Porträtskizzen zu vier Jahrhunderten alttestamentlicher Wissenschaft, Göttingen 2017, S. 799 f.
- ↑ Brief Albrecht Alts an Gerhard von Rad, 21. Januar 1930, hier zitiert nach: Hans Walter Wolf: Gespräch mit Gerhard von Rad, München 1971, S. 651.
- ↑ Konrad von Rabenau: Als Student bei Gerhard von Rad in Jena 1943–1945, S. 10; Susannah Heschel: Die Historiographie des Instituts zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben, Göttingen 2021, S. 340 .
- ↑ Hans Walter Wolf: Gespräch mit Gerhard von Rad, München 1971, S. 652.
- ↑ Susanne Böhm: Gerhard von Rad in Jena, Leipzig 2005, S. 206 f.
- ↑ Susanne Böhm: Gerhard von Rad in Jena, Leipzig 2005, S. 207 f.
- ↑ Susanne Böhm: Gerhard von Rad in Jena, Leipzig 2005, S. 205 und 208 f.
- ↑ Susanne Böhm: Gerhard von Rad in Jena, Leipzig 2005, S. 216-221.
- ↑ Susanne Böhm: Gerhard von Rad in Jena, Leipzig 2005, S. 221-224.
- ↑ Susanne Böhm: Gerhard von Rad in Jena, Leipzig 2005, S. 225.
- ↑ Vgl. Gerhard von Rad: Erinnerungen aus der Kriegsgefangenschaft Frühjahr 1945, hrsg. von Luise von Rad. Neukirchener Verlag, Neukirchen-Vluyn 1976, hier besonders S. 43.
- ↑ Susanne Böhm: Gerhard von Rad in Jena, Leipzig 2005, S. 226.
- ↑ Hansjörg Buss: Wissenschaft – Ausbildung – Politik. Die Göttinger Theologische Fakultät in der Weimarer Republik, dem Nationalsozialismus und der Nachkriegszeit. Universitätsverlag Göttingen, Göttingen 2021, S. 443 f. (Download)
- ↑ Hans Walter Wolf: Gespräch mit Gerhard von Rad, München 1971, S. 653; zu der intensiven Atmosphäre in von Rads Göttinger AT-Vorlesung (um 8 Uhr morgens im Institut für Metallkunde) aus der Perspektive des Studenten: Eduard Lohse: Theologiestudent in Göttingen 1946–1950. In: Bernd Moeller (Hrsg.): Theologie in Göttingen. Eine Vorlesungsreihe. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1987, S. 381–397, hier S. 385 und 388.
- ↑ Vgl. Manfred Seitz: 1. Könige 8,56: Beerdigung von Gerhard von Rad, 4. November 1971, Peterskirche (Universitätskirche), Heidelberg. In: Ders., Ich hoffe auf dein Wort. Predigten und Ansprachen. Calwer Verlag, Stuttgart 1993.
- ↑ Eredoctoraten (op datum, niederländisch). (PDF) Archive Honorary Doctorates. Universität Utrecht, abgerufen am 9. April 2023.