Katholischer Traditionalismus
Der Begriff Traditionalismus wird im konfessionellen Zusammenhang nicht ausschließlich, aber überwiegend für religiöse Gruppierungen verwendet, die innerhalb der katholischen Kirche der dogmatischen und liturgischen Tradition sowohl gegenüber dem Anspruch der Heiligen Schrift (Bibel) einerseits, als auch angesichts der gesellschaftlichen Herausforderungen andererseits, ein besonders großes, aus Sicht der Kirchenleitung: zu großes Gewicht beimessen. Anders geartet ist der protestantisch-biblische Fundamentalismus.
Als rigorose Erscheinungsform des Traditionalismus wird der Integralismus noch besonders unterschieden. Der heutige Traditionalismus und Integralismus berufen sich häufig auf den Abwehrkampf des Papsttums vor dem 1. Weltkrieg, den vor allem Papst Pius X. gegen den Modernismus führte. Ohne hinreichende Rücksicht auf den historischen Kontext dieses Konflikts, identifizieren die Traditionalisten die damalige Abwehrhaltung gegen moderne Zeitirrtümer mit der Identität des Katholizismus selbst. Die Identität der Kirche ist nach katholischer Auffassung in allen Zeitaltern dieselbe; wandelbar ist allenfalls die historische Situation, in der die Kirche Jesu Christi ihren Auftrag erfüllen muss. Deshalb ist die Kirche zugleich stets zur Reform fähig.
Den größten Bekanntheitsgrad unter den Wortführern des Traditionalismus erreichte der 1991 gestorbene französische Erzbischof Marcel Lefebvre. Seine Bewegung mit einer Reichweite von über 350.000 Anhängern, die Priesterbruderschaft Pius X. (mit ca. 470 Priestern), die sich 1988 von der römischen Kirche trennte, wird von manchen Kritikern in Zusammenhang mit den antirepublikanischen französischen Bewegungen der 1. Hälfte des 20. Jh. gebracht, die ihr vorwerfen in ihr vermenge sich die Betonung einer katholischen "Tradition" mit einer insgesamt antidemokratischen und auch antisemitischen Geisteshaltung. Insbesondere die Rebellion der Leitfigur des Traditionalismus, Erzbischof Lefebvre, gegen Papst Johannes Paul II. erinnere bis in die Diktion und Argumentation hinein an die Revolte, die führende Vertreter der Action Francaise gegen das Verbot ihrer Lehrmeinungen durch Papst Pius XI. 1926 vorbrachten. Allerdings spricht die breite Aufstellung der Priesterbruderschaft Pius X, in der bezüglich des intellektuellen Hintergrunds Franzosen keinesfalls mehr eine dominante Rolle spielen, gegen eine derartige, undifferenzierte Kausalkette.
Daneben gibt es einen liturgischen Traditionalismus, der die integralistische Weltanschauung nicht mitträgt. Dieser erreicht nach vatikanischen Schätzungen ca. 2 Mio. Katholiken (von 1,1 Mrd.). Um den Traditionalisten, soweit es um die Ablehnung der Liturgiereform in Folge des II. Vatikanischen Konzils ging, entgegen zu kommen, gestattete der Papst 1984 unter bestimmten Bedingungen die Feier der Hl. Messe nach dem Missale Romanum von 1962 (nachdem seit 1974 keine Ausnahmen vom Novus Ordo Missae mehr für Messen mit dem Volk gestattet wurden). Verpflichtend für die kath. Liturgie ist heute (2006) das lateinische Missale von 1969 in der Fassung von 2002, das in die Volkssprachen übertragen wurde. Jedoch wird die Ablehnung der Lehren des II. Vatikanischen Konzils, darin besteht die hauptsächliche Identität des Traditionalismus, aus Sicht des Vatikans nicht akzeptiert. Das ist schon deshalb nicht möglich, weil das seitens des Traditionalismus kritisierte Konzil selbst weder Lehrdefinitionen vorgenommen noch Lehrverurteilungen ausgesprochen hat. Es hat, so die amtskirchliche Theologie, die gesamte eigentliche Tradition bestätigt, aber im Licht der modernen Situation neu reflektiert, um der Kirche die zukünftige Erfüllung ihres weltweiten Auftrags zu eröffnen. Der Katholizismus ist nie zuvor in seiner langen Geschichte so intensiv auf allen Kontinenten präsent gewesen wie im 20. Jh. Diese Situation der Weltkirche ist neu und unumkehrbar.
Da der extreme Traditionalismus es ablehnt, der historischen Entwicklung der Zivilisation überhaupt eine Relevanz für das katholische Selbstverständnis zuzubilligen, zweifeln Kritiker des Traditionalismus daran, ob dieser überhaupt als Ausdruck echter christlicher Frömmigkeit gelten könne. Möglicherweise, so die Kritiker, handele es sich im Kern um eine politische Weltanschauung, die sich der römisch-katholischen Ausdrucksformen bediene, um ihr Weltbild sakral zu überhöhen. Beispielsweise interessierten sich die Traditionalisten weder für die katholische Soziallehre noch seien sie jemals in bemerkenswertem Umfang karitativ tätig geworden. Auffallend ist auch die unauflösbare Verknüpfung von Zitaten katholischer Tradition mit der Beschwörung eines allgemein reaktionären Weltbildes in den Predigten traditionalistischer Prediger. Die Kircheninnenpolitik, gegen das "moderne Rom", nimmt einen so breiten Raum in der traditionalistischen Identität ein, dass die Kritik darin ein Indiz für mangelhafte Offenheit für den gesamten Reichtum christlicher Erfahrung vieler Jahrhunderte sieht.
Während der liturgische Traditionalismus das Papsttum als solches hochhält, ohne dem tatsächlichen Amtsinhaber in der Liturgiefrage zu gehorchen, haben sich überdies etliche kleinste Gruppierungen gebildet, die der Auffassung sind, es gebe seit längerer Zeit (z.B. 1958) keinen rechtmäßigen Papst mehr („Sedisvakantismus“). Diese positionieren sich mitunter, noch "rechts" vom Integralismus, in sektenähnlichen Gruppen, deren liturgische Praxis mitunter esoterische, fast okkulte Züge annimmt.
Literatur
- Ph. Levillain (Hrsg.): Dictionnaire historique de la papauté. Paris 1994
- (Autor?): Paul VI et la modernité dans l'Èglise. École francaise de Rome Bd. 72, Rom 1984
- Georg May: Der Glaube der nachkonziliaren Kirche. Wien 1983