Bulgarische Wiedergeburt
Die Bulgarische Wiedergeburt (bulgarisch: Българско национално възраждане, Bălgarsko nazionalno wăsraschdane oder einfach Възраждане, Wăsradschane) war eine Periode in der bulgarischen Geschichte gegen Ende der 500-jährigen osmanischen Fremdherrschaft.
Dieser Zeitabschnitt wird datiert vom Ende des 17. Jahrhunderts bis zur Befreiung Bulgariens von den Türken 1878 im russisch-türkischer Krieg von 1877/78 (Türkenkriege; in Bulgarien als "russisch-türkischer Befreiungskrieg" bezeichnet) und der Gründung des Fürstentums Bulgarien.
Die bulgarische Geschichtsschreibung bezeichnet mit dem Begriff Bulgarische Wiedergeburt die Epoche der "Nationalen Befreiung Bulgariens", also die nationale Wiedergeburt - die Entwicklung eines eigenen bulgarischen Nationalbewußtseins.
Wiedergeburt wird hier nicht in der sonst üblichen Bedeutung als kulturelle Wiedergeburt - also Renaissance - verstanden.
(Anmerkung: osmanisch und türkisch wird in diesem Artikel synonym verwendet)
bulgarische nationale Wiedergeburt
Die Bulgarische Wiedergeburt in den von rund 6 Mio. Bulgaren bewohnten bulgarischen Gebieten des Osmanischen Reiches wird in der bulgarischen Geschichtsschreibung auch oft als "bulgarische nationale Wiedergeburt" bezeichnet - im Sinne von nationaler Rückbesinnung nach 400 Jahren türkischer Fremdherrschaft. Diese bulgarische nationale Wiedergeburt trieb den Befreiungsprozess Bulgariens über 100 Jahre an, bis die nationalen Unabhängigkeit 1878 erreicht wurde.
Während der osmanischen Fremdherrschaft, die in der bulgarischen Geschichtsschreibung (sowohl der kommunistischen, als auch der postkommunistischen) durchgehend mit den pathetischen Begriffen "osmanisches Joch" (османското иго) und "osmanische Sklaverei" (османско робството) bezeichnet wird, bestand das ehemalige mächtige Bulgarische Reich nur noch als eine osmanische Provinz (Vilayet Rumelien). Bis auf einige Klöster (besonders im Rilakloster) war die bulgarische Sprache in der Führungsschicht von der eingewanderten Türken verdrängt worden. Erst nach 100 Jahren bulgarischer nationaler Wiedergeburt entstand das heutige Bulgarien als Nationalstaat.
Mit der Geburt des nationalen Selbstbewußtseins wurde auch die nationale bulgarische Befreiungsbewegung geboren, die die Vernichtung der osmanischen feudalen Herrschaft zum Ziel hatte.
Beginn der Wiedergeburt
Um die Datierung des Beginns der Bulgarischen Wiedergeburt wurde früher intensiv diskutiert. Zeitgenossen dieser Periode datierten den Beginn der Wiedergeburt auf die späten 1820er Jahre.
Später schlug Marin Drinow (1838-1906) vor, den Beginn der Periode der Bulgarischen Wiedergeburt auf das Jahr 1762 zu datieren, der Veröffentlichung des ersten bulgarischen Geschichtsbuches "Istorija Slawjanobolgarskaja" (История славянобългарска; "Geschichte der Slavobulgaren"). Geschrieben wurde es von dem Mönch Paisi Chilendarski - knapp 400 Jahre nach dem Verlust der bulgarischen Unabhängigkeit.
Der Beginn der bulgarischen Wiedergeburt wird durch die ersten klaren Zerfallsprozesse des Osmanischen Reiches markiert.
Perioden
Die Bulgarische Wiedergeburt wird in drei Perioden eingeteilt:
- erstePeriode: früher Periode (1762 bis beginnendes 19.Jh.)
- zweite Periode: mittlere Periode (von den osmanischen Reformen 1820 bis 1850 bis zum Krimkrieg)
- dritte Periode: späte Periode (vom Krimkrieg bis zur Befreiung Bulgariens von er osanischen Fremdherrschaft 1878).
Im europäischen Maßstab begann die Bulgarische Wiedergeburt relativ spät. Zu dieser Zeit wurde in anderen europäischen Ländern die Renaissance bereits vom Zeitalter der Aufklärung abgelöst.
Die erste Periode
Die erste Periode umfaßt das Ende des 18. Jahrhunderts (1762) bis zu den 20er Jahren des 19. Jh. Diese Periode ist gekennzeichnet von einem sich beschleunigenden Zerfall des türkischen Wirtschaftssystems und der türkischen militärpolitischen Ordnung. Das Osmanische Reich wandelte sich von einer Großmacht zu einem zweitrangigen Land. In der türkischen und der bulgarischen Wirtschaft entstanden frühkapitalistische Verhältnisse in den Waren- und Finanzbeziehungen.
Die zweite Periode
Die zweite Periode fällt mit den Reformen im Osmanischen Reich zusammen - während der 20er Jahre des 19. Jh. Tanzimat (innere Reformbemühungen in der Türkei von Mahmud II.) - bis zum Krimkrieg 1856.
Es begannen zwei nationale Bewegungen -
- für die kirchliche Unbhängigkeit vom griechisch-orthodoxen Patriarchen;
- für die geistige Bildung des bulgarischen Volkes (новобългарска просвета).
In die zweite Periode fällt auch die nationale Befreiung Griechenlands vom Osmanischen Reich (Griechische Revolution).
Seit der osmanischen Fremdherrschaft (seit ca. 1390) war die Bildung und Literatur unter den Bulgaren ausgerottet worden. Die gebildeten Bulgaren waren ermordet oder nach Kleinasien verschleppt worden, bzw. in die benachbarten slawischstämmigen Länder geflohen. Auch der kulturelle Austausch mit dem europäischen Ausland war nach der jahrhundertelangen türkischen Fremdherrschaft zum Erliegen gekommen. Lediglich in den bulgarischen Klöstern war es ab 1500 wieder zu einer zaghaften Rückbesinnung auf die kulturellen bulgarischen Wurzeln gekommen. Hier überlebte das bulgarische Nationalbewußtsein die türkische Fremdherrschaft. Da die bulgarische Kirche aber stark griechisch geprägt war, war der Kampf um das Zurückdrängen des griechischen Einflusses in der bulgarischen Kirche (für eine eigenen bulgarischen Kirche) ein Hauptpfeiler im nationalen Unabhängigkeitskampf.
Die Griechen hatten bei den Orthodoxen stets das Sagen, obwohl auch Bulgaren, Rumänen und Serben Teil des Orthodoxen Millet waren.
Die dritte Periode
Die dritte Periode begann nach dem Krimkrieg 1856. Mit dem Aprilaufstand (1876)begann der befaffnete Kampf und die gewaltsame Abschlußperiode der Loslösung Bulgariens vom osmansichen Reich.
Die dritte Periode der Bulgarischen Wiedergeburt endete mit der Gründung des Fürstentums Bulgariens 1878 (als Folgedes russisch-türkischen Krieges 1977/78 - Türkenkriege).
Die Bulgaren nahmen an den Kriegen von Österreich und Russland gegen das Osmanische Reich teil und unterstützen die Aufstände der Serben, Griechen und Rumänen. Nach dem Krimkrieg (1853-1856) erreichte die bulgarische nationale Befreiungsbewegung ihre Höhepunkte, was mit der Tätigkeit ihrer wichtigsten Organisatoren - Georgi Rakowski, Ljuben Karawelow, Wassil Lewski und Christo Botew - zusammenhing.
Das bulgarische Ostrumelien wurde erst 1885 national unabhängig.
Diese dritte Periode war durch das Zusammenwirken der drei "Hauptstoßrichtungen" der Bulgarischen Wiedergeburt gekennzeichnet:
- Kampf um Aufklärung und Bildung (in bulgarischer Sprache),
- Kampf für eine selbständige Kirche,
- Kampf für nationale Befreiung.
Der vollständige Zerfall des Osmanischen Reiches ("Kranker Mann am Bosporus") und die internationalen Konflikte, die durch die Orientalische Frage ("Ostfrage", "Türkenfrage") ausgelöst wurden, schafften günstige Voraussetzungen für das Anwachsen einer starken nationalen bulgarischen Bewegung. In dieser Periode vollendete sich der Prozess der Herausbildung der bulgarischen Nation und 1870 wurde Bulgarien dann international anerkannt.
Die Bulgarische Wiedergeburt als Periode des Übergangs zu kapitalistischen gesellschaftlich-ökonomischen Beziehungen (Übergang von der Naturalwirtschaft zur Marktwirtschaft), ähnelt zwar anderen europäischen Ländern, hatte aber ihre Besonderheit wegen der Leitrolle des nationalen Befreiungskampfes.
Die westeuropäischen Länder, die mit ihren inneren Problemen beschäftigt waren und mit der Aufteilung ihrer Kollonialbesitzungen, begannen sich für den Orient nicht als Schlachtfeld, sondern als Sphäre von Wirschafts- und Handelsinteressen zu interessieren. Während der zweiten Hälfte des 18. Jh. vertiefte sich die Krise im Osmanischen Reich, die sich bereits Ende des 16 Jh. abzeichnete.
In dieser Periode verstärken England, Frankreich und die Niederlande ihre Bemühungen und zwangen das Osmanische Reich wirtschaftliche Aktivitäten dieser Länder auf seinem Territorium zuzulassen. So wurde das Osmanische Reich im 18. Jh. immer mehr in den europäischen Handel einbezogen. Eine Reihe westeuropäischer Firmen entfalteten ihre Aktivitäten in den Balkanprovinzen und somit auch in den bulgarischen Gebieten.
Die Niederlagen in einigen Kriegen, die Entwicklung des internationalen und des nationalen Handels und die Entwicklung der Waren-Geld-Beziehungen in der Wirtschaft des Osmanischen Reiches zerstörten endgültig das althergebrachte Lehenssystem (Tımar) als Grundlage der Wirtschaft.
Gegen Mitte des 18. Jh. hörte das Osmanische Reich auf eine stabile Militärmacht und ein streng zentralistischer Staat zu sein. Es wurde stark erschüttert von wirtschaftlichen, sozialen und pilitischen Problemen.
Im 18.Jh. und Anfang des 19. Jh. durchlebten die bulgarischen Territorien wichtige wirtschaftliche Veränderungen. Das besondere osmanische Lehenssystem brach zusammen - Timar-System (военно-ленната система; ленно-спахийската система) (Lehen für höhere militärische Staatsbedienstete). Die Lehensleute kamen ihren Verpflichtungen gegenüber dem Sultan nicht mehr nach und bemühten sich, die vom Sultan überlassenen Lehen, in ihren Privatbesitz zu bringen. Sie wollten Eigentümer des Bodens werden, da dieser eine sichere Einkommensquelle war. Auf den angeeigneten Ländereien schafften die neuen Eigentümer große landwirtschaftliche Produktionseinheiten (Großgrundbesitz). Parallel dazu erweiterte sich das Recht auf Privatbesitz am Boden.
Durch des Verschwindens des Timar-Systems veränderte sich der Status der Bauern. Sie befreiten sich allmählich von ihren lokalen Herren und begannen, wenn auch in begrenztem Umfang, sich am Kauf und Verkauf des Bodens zu beteiligen.
Die Viehzuch, die vorher hauptsächlich für den Eigenbedarf betrieben wurde, erlebte einen starken Aufschwung und der Viehhandel entwickelte sich schnell als eigenständiger Wirtschaftszweig.
Das Wirtschaftsleben in den bulgarischen Städten nahm einen spürbaren Aufschwung. Das bulgarische Handwerk begann nun auch für den Export zu produzieren. Es entstanden Industriezentren.
Während der zweiten Hälfte des 18. Jh. und am Beginn des 19. Jh., setzten bedeutsame demografische Migrationsbewegungen ein, die zur Bulgarisierung der Städte führten. Viele alte städtische Zentren erlebten eine Wiederbelebung.
Die Transport- und Kommunikationswege wurden stark ausgebaut (Straßen, Eisenbahnlinien, Häfen in Warna, Burgas und an der Donau, Telegrafennetz). Ausländisches Kapital fand verstärkt seinen Weg in die osmanische Wirtschaft und in die bulgarischen Territorien. Der europäische Warenaustausch bezog auch allmählich die bulgarischen Gebiete mit ein. Der Außenhandel förderte den Ausbau eines Außenhandelsnetzwerkes. Bulgarische Erzeugnisse tauchten auf dem großen Markt des Osmanischen Reiches und den Märkten des europäischen Auslands auf. Es entstanden Zentren bulgarischer Händler, Handelshäuser und Firmen in Konstantinopel (30.000 Bulgaren), Österreich, Ungarn, Transylvanien, der Walachei, Russland, Bessarabien.
Gegen Ende des 18. Jh. verwandelte sich Bulgarien in ein Gebiet mit intensivem Handel, der ca. 20 % des Handels im Osmanischen Reich ausmachte. Damit verbunden war die Profilierung einiger bulgarischer Städte als Zentren des Handels.
Im 19. Jh. festigte sich der Gedanke einer panslawischen Einheit. Die Idee zur Herstellung der bulgarischen Staatlichkeit wurde wiedergeboren.
Bedeutung der bulgarischen Wiedergeburtsperiode
Die Bulgarische Wiedergeburt war ein relativ kurzer Zeitabschnitt der bulgarischen Geschichte, aber eine außerordentlich dynamische Periode der historischen Entwicklung Bulgariens.
In dieser Periode gab es ein starkes ökonomisches Wachstum und radikale Veränderungen in allen Sphären des sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen Lebens.
Die Bulgaren begannen einen Kampf, in dem sie die Wiederfindung ihrer Identität und die Trennung von den restlichen Gebieten des Osmanischen Reiches anstrebten. Dieses Bestreben gipfelte in dem Kampf für neubulgarische Bildung und Kultur und in dem Kampf für eine selbstständige bulgarische Kirche.
bulgarisches Bürgertum
Die Bulgarische Wiedergeburt stellt einen komplizierten Prozess der Auflösung der feudalen Beziehungen und der Verbreitung bürgerlicher Ideen dar. In der schwach entwickelten bürgerlichen Gesellschaft in den bulgarischen Gebieten bildete sich allmählich ein Bürgertum heraus, deren Fundament aus Bauern und Handwerkern bestand.
bulgarische Kultur
Die Veränderungen im kultuerellen und geistigen Leben wurden angetrieben durch die Gründung der Neubulgarischen Aufklärungsbewegung (новобългарското просветно движение) und des Streben nach einer eigenen bulgarischen Kirche. Ziel war die Loslösung der Bildung und Kultur von hellinistischen Einflüssen, sowie die Begründung einer eigenen materiellen und geistigen Kultur. Eine wesentliche Seite dieser Entwicklung zur nationalen Unabhängigkeit war der Kampf gegen die griechische Kirchenmacht.
bulgarische Nation
Die tiefen Veränderungen in der Gesellschaft, die Freiheit zu wirtschaftlicher Initiative und geistiger Freiheit führten zur Bildung der bulgarischen Nation. Die bulgarische Nation entstand in seinen ethnischen Grenzen auf einem gemeinsamen Territorium - mit einer einheitlichen Schriftsprache und gesprochenen Sprache. Es wuchs und erneuerte sich das Bewußtsein einer einigenden kulturellen Tradition. Es entstand ein nationaler Markt.
Der Umschwung in der bulgarischen Gesellschaft, die Freiheit für ökonomische Initiativen und freie Wahl der Religion führte zur Bildung der bulgarischen Nation in seinen ethnischen und historischen Grenzen, die Mösien (einschließlich der südlichen Dobrudscha) und Thrakien umfaßten.
Architektur, Literatur
Die Bulgarische Weidergeburt Periode prägte auch eine charakteristische Architektur, die noch heute in bugarischen Städten wie Trjawna, Kopriwschtiza, Weliko Tarnowo zu sehen ist.
Das reiche Literaturerbe von Autoren wie Iwan Wasow und Christo Botew inspirierte den Kampf der Bulgaren für die Unabhängigkeit und eine autonome Kirche.
Feiertag der nationalen Wiedergeburt
Der 1. November wird in Bulgarien als "Tag der kulturellen Führer der Periode der Bulgarischen Wiedergebur" begangen.
sonstiges
Das Aufsatzthema "Bulgarische Wiedergeburt" ist auch für studentische Aufnahmeprüfungen an Universitäten beliebt.
Aktivisten der Wiedergeburt
("Wiedergeburtler" - bulg. Възрожденец) - geistige Führer und Lehrer
- Paisi Hilendarski (Паисий Хилендарски)
- Sophronius von Wratsa (Софроний Врачански)
- Petar Beron (Петър Берон)
- Wasil Aprilow (Васил Априлов)
- Batscho Kiro (Бачо Киро)
- Emanuil Waskidowitsch (Емануил Васкидович)
- Najden Gerow (Найден Геров)
- Joakim Gruew (Йоаким Груев)
- Marin Drinow (Марин Дринов)
- Aleksandar Eksarch (Александър Екзарх)
- Gawril Krastewitsch (Гаврил Кръстевич)
- Wasil Kantschow (Васил Кънчов)
- Nikola Michajlowski (Никола Михайловски)
- Nedelja Petkowa (Неделя Петкова)
- Andrej Petkowitsch (Андрей Петкович)
- Grigor Parlitschew (Григор Пърличев)