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Hugo Dingler

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Hugo Albert Emil Hermann Dingler (* 7. Juli 1881 in München; † 29. Juni 1954 in München) war ein Philosoph und Wissenschaftstheoretiker.

Seine Eltern waren Dr. phil. et med. Hermann Dingler, zunächst Kustos am Botanischen Garten München, dann Assistent des Botanikers Carl Wilhelm von Nägeli, später ordentlicher Professor der Botanik an der Forsthochschule Aschaffenburg, und Maria Dingler, Tochter des Chemikers Emil Erlenmeyer, geboren in München.

Leben

Nach der Schulzeit am humanistischen Gymnasium in Aschaffenburg studierte Hugo Dingler Mathematik und Physik an den Universitäten Erlangen, Göttingen und München, u.a. bei Ferdinand von Lindemann, Felix Klein, Johannes Stark und Walter Lietzmann.

Bereits während seines Studiums hatte er damit begonnen, sich mit wissenschaftstheoretischen Fragestellungen zu befassen. 1902/1903 studierte er in Göttingen bei Edmund Husserl. Durch entsprechende Diskussionsbeiträge von Felix Klein und David Hilbert wurde er auf die beginnende Grundlagendebatte in der Mathematik des 20. Jahrhunderts aufmerksam.

Nachdem er 1906 an der Technischen Universität München bei Ferdinand von Lindemann zum Dr. phil. in den Fächern Mathematik, Physik und Astronomie promoviert hatte, strebte Dingler eine Hochschullaufbahn an. Sein erstes Habilitationsgesuch 1910 an der Technischen Hochschule München scheiterte an formalen Kriterien. 1912 gelang dann die Habilitation an der Universität München, mit dem Prüfungsthema „Über wohlgeordnete Mengen und zerstreute Mengen im allgemeinen“; sie war für das enge Lehrgebiet „Methodik, Unterricht und Geschichte der Mathematik“ gültig.

Im Ersten Weltkrieg nahm Dingler an Fronteinsätzen teil und wurde zum Offizier befördert. Als Realschullehrer sammelte er erste Lehrerfahrung, daneben wirkte er zunächst als Privatdozent. Im Wintersemester 1913/1914 kündigte er „Elementarmathematik vom höheren Standpunkt“ an, außerdem eine zweistündige Einführung in die „Geschichte der Mathematik vom Altertum bis jetzt“. Auch las er über Philosophie und Wissenschaftsgeschichte. 1916 war er wohl der einzige Dozent an einer deutschen Universität, der das Gebiet „Didaktik der mathematischen Wissenschaften“ vertrat. 1919 erschien die kulturphilosophische Studie Die Kultur der Juden [1].

1920 wurde Dingler außerordentlicher Professor der Universität München, 1932 Ordinarius der Philosophie an der Technischen Hochschule Darmstadt. Außerdem lehrte er an der Pädagogischen Hochschule Mainz. In Darmstadt wurde Dingler Opfer inneruniversitärer Intrigen, nachdem er einen ihm untergebenen Bibliothekar entlassen hatte. Er wurde 1934 zwangspensioniert. Einer verbalen Äußerung Arthur Lieberts 1938 in Belgrad zufolge [2] hatte bei seiner Demission eine angebliche „judenfreundliche“ Gesinnung eine Rolle gespielt, die mit der oben genannten Buch-Publikation Die Kultur der Juden begründet worden war. Offiziell wurde seine Pensionierung mit notwendigen Umstrukturierungs- und Einsparungsmaßnahmen erklärt. 1933 wurde ein erstes Gesuch, in die NSDAP aufgenommen zu werden, nicht bearbeitet, und er mußte sich gegen eine polizeiliche Anzeige zur Wehr setzen, unbefugterweise das Parteiabzeichen getragen zu haben. Es ist eine Reihe antijüdischer Äußerungen Dinglers überliefert, die bis ins Jahr 1913 zurückreicht [3]. Seit Frühjahr 1936 befaßte sich Dingler auch mit Rassenfragen [4]. 1934 erhielt er einen Lehrauftrag an der Universität München, der nach einem gescheiterten Gutachterkampf - in dem ihn Sympathiesanten der Deutschen Physik vergeblich unterstützt hatten - im Sommersemester 1936 endete.

Nach dem Zweiten Weltkrieg scheiterten Dinglers Versuche, an die Universität München zurückzukehren und erneut einen Lehraufrag zu erhalten. Seinen Bemühungen standen diesmal die alliierten Siegermächte im Wege. 1945 wurde ihm die Lehrbefugnis für Hochschulen verweigert. Ausschlaggebend war gewesen, daß er während der NS-Zeit - zwischen 1933 und 1945 - regelmäßig an wissenschaftlichen Zusammenkünften von Vertretern der „Deutschen Physik" teilgenommen hatte. Wie er selbst auch, stand diese Gruppe von oppositionellen Außenseitern der Physik insbesondere der modernen Relativitätstheorie mit beträchtlicher Skepsis gegenüberer. In neuerer Zeit wurde ihm in diesem Zusammenhang und aus anderen Gründen eine antijüdische Grundhaltung vorgeworfen [5] [6].

Hugo Dinglers Grab befindet sich in Aschaffenburg. Sein katalogisierter, allgemein zugänglicher wissenschaftlicher Nachlaß wird an der im Schloß Johannisburg untergebrachten Hofbibliothek Aschaffenburg aufbewahrt und umfaßt neben einem umfangreichen Briefwechsel mit zahlreichen Geistesgrößen seiner Zeit eine aus ca. viertausend Bänden bestehende Privatbibliothek.

Werk

Dingler arbeitete zeitlebens an den Grundlagen der Mathematik und Physik. Dabei entwickelte er eine operationalistische Philosophie einer konstruktiven Mathematik und der so genannten Protophysik. Zentral ist der Gedanke, mit normierten Handlungen einen Aufbau der Wissenschaften unter strenger Beachtung des von ihm entwickelten so genannten Prinzips der methodischen Ordnung (Einhaltung einer wissenschaftlichen Reihenfolge) derart vorzunehmen, dass logische Zirkelhaftigkeit vermieden wird.

Dingler ist Urheber einer so genannten Methodischen Philosophie, die zirkelfreie Aussagensicherheit anstrebt [7]. Sein philosophisches Werk gilt als operationalistische und pragmatische Wissenschaftstheorie. Dingler übte insofern Einfluß auf die zeitgenössischen Richtungen der Methodischen Philosophie (Erlanger Konstruktivismus und Methodischer Kulturalismus) aus. Für die Protophysik sah er die Möglichkeiten vor, die das so genannte Dreiplattenverfahren zur Herstellung und Definition von Ebenen hat, um das Ebnen aus einer Alltagspraxis zu bestimmen, anstatt die Ebeneneigenschaften aus Axiomen abzuleiten. [8]. Dingler hatte sich außerdem mit wissenschaftgeschichtlichen, didaktischen, kulturphilosophischen und ethischen Fragen befaßt.

Dinglers Wirken als Wissenschaftstheoretiker stand im Zeichen einer permanenten Gegnerschaft zur modernen Relativitätstheorie. Er lehnte die von David Hilbert, Albert Einstein und anderen entwickelte Allgemeine Relativitätstheorie als zirkulär ab [9] [10] [11]. Seiner Auffassung nach kann die Geometrie, die die Erfahrungsgrundlage der Physik ist [12], nicht durch die Erfahrung selbst revidiert werden. Für die Physik favorisierte er das von Newton eingeführte spekulative Konzept des (nicht beobachtbaren) absoluten Raums [13] Dieser wissenschaftliche Disput entartete allmählich zur persönlichen Fehde mit dem populären Hauptrepräsentanten der modernen Relativitätstheorie: Albert Einstein. Hatte Dingler noch 1929 seinem Kontrahenten zum 50. Geburtstag einen wohlwollenden Artikel in einer Münchner Zeitung gewidmet, so entlud sich sein Unmut wenig später in persönlichen Animositäten - bis hin zu mehr oder weniger unverhohlener Polemik mit antijüdischen Einlassungen.

Werke

  • Grenzen und Ziele der Wissenschaft, München 1910.
  • Die Grundlagen der Naturphilosophie, Leipzig 1913.
  • Die Kultur der Juden - Eine Versöhnung zwischen Religion und Wissenschaft, Leipzig 1919.
  • Physik und Hypothese - Versuch einer induktiven Wissenschaftslehre nebst einer kritischen Analyse der Fundamente der Relativitätstheorie, Berlin/Leipzig 1921.
  • Die Grundlagen der Physik - Synthetische Prinzipien der mathematischen Naturphilosophie, Berlin/Leipzig 1923.
  • Der Zusammenbruch der Wissenschaft und der Primat der Philosophie, München 1926.
  • Das Experiment - Sein Wesen und seine Geschichte, München 1928.
  • Metaphysik und Wissenschaft vom Letzten, München 1929.
  • Das System - Das philosophisch-rationale Grundsystem und die exakte Methode der Philosophie, München 1930.
  • Philosophie der Logik und der Arithmetik, München 1931.
  • Geschichte der Naturphilosophie, Berlin 1932.
  • Das Handeln im Sinne des höchsten Zieles - Absolute Ethik, München 1935.
  • Die Methode der Physik, München 1938.
  • Von der Tierseele zur Menschenseele - Die Geschichte der geistigen Menschwerdung, Leipzig 1941.
  • Grundriß der methodischen Philosophie, Füssen 1949.
  • Storia Filosofica delle Scienza, Milano 1949.
  • Das physikalische Weltbild, Meisenheim/Glan 1951 (Beihefte zur philosophischen Forschung 4).
  • Il Metodo della Ricerca nelle Scienze, Milano 1953.
  • Die Ergreifung des Wirklichen, München 1955.
  • Aufbau der exakten Fundamentalwissenschaft München 1944, 1964² (neu herausgegeben von P. Lorenzen; von der Erstauflage von 1944 hatten nur wenige dutzend Exemplare die Bombardierungen des Verlagshauses überstanden).

Literatur

  • Wilhelm Krampf, Die Philosophie Hugo Dinglers, München 1955.
  • Wilhelm Krampf, Hugo Dingler - Gedenkbuch zum 75. Geburtstag, München 1956.
  • Peter Janich (Hrsg.), Wissenschaft und Leben - Philosophische Begründungsprobleme in der Auseinandersetzung mit Hugo Dingler, Bielefeld 2006 ISBN 3-89942-475-1.
  • Bruno Thüring, „Dr. Hugo Dingler, Universitätsprofessor, München“, Aschaffenburger Jahrbuch 3, 408 - 411 (1956).
  • Jörg Willer, Relativität und Eindeutigkeit - Hugo Dinglers Beitrag zur Begründungsproblematik, Meisenhaim 1973.
  • Kirstin Zeyer, Die methodische Philosophie Hugo Dinglers und der transzendentale Idealismus Immanuel Kants; Hildesheim 1999 ISBN 3-487-10812-7.
  • Ulrich Weiß, „Die andere Seite der Medaille - Das ‚Irrationale' im Verhältnis zu Hugo Dinglers Methodik", in: Peter Janich (Hrsg.), Entwicklungen der methodischen Philosophie, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1992 ISBN 3-518-28579-3.

Quellen

  1. Hugo Dingler, Die Kultur der Juden - Eine Versöhnung von Religion und Wissenschaft, Leipzig 1919. (Mit spärlichen Literaturangaben; der letzte Satz der Abhandlung lautet: „Zur Religionsphilosopie siehe im übrigen die vorzüglichen Schriften von Konstantin Östreich.“ Gemeint war der Philosoph und Psychologe Traugott Konstantin Oesterreich; * 15. Sept. 1880 in Stettin, † 28. Juli 1949 in Tübingen.)
  2. Denis Silagi, „Begegnung mit Hugo Dingler“, in: Wilhelm Kranpf (Hrsg.), Hugo Dingler - Gedenkbuch zum 75. Geburtstag, München 1956, S. 9 - 15.
  3. Eckart Menzler-Trott, Gentzens Problem. Mathematische Logik im nationalsozialistischen Deutschland, Basel 2001, ISBN 3764365749.
  4. Belegt ist dies durch ein Manuskript mit dem Titel „Die seelische Eigenart der jüdischen Rasse - Eine biologisch-psychologische Untersuchung", das er vergeblich zur Veröffentlichung eingereicht hatte.
  5. Ulrich Weiß, „Die andere Seite der Medaille - Das ‚Irrationale' im Verhältnis zu Hugo Dinglers Methodik", in: Peter Janich (Hrsg.), Entwicklungen der methodischen Philosophie, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1992 ISBN 3-518-28579-3.
  6. Gereon Wolters, „Opportunismus als Naturanlage: Hugo Dingler und das ‚Dritte Reich' ", in: Peter Janich (Hrsg.), Entwicklungen der methodischen Philosophie, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1992.
  7. Hugo Dingler, Aufsätze zur Methodik, Hamburg 1987 (herausgegeben von Ulrich Weiß).
  8. Hugo Dingler, Beiträge zur Kenntnis der infinitesimalen Deformation einer Fläche (Dissertation, Amorbach 1907)
  9. Hugo Dingler, Kritische Bemerkungen zu den Grundlagen der Relativitätstheorie (Vortrag gehalten auf der 85. Versammlung deutscher Naturforscher un Ärzte, zuerst publiziert in Physikalische Zeitschrift 21, 668-675, 1920), Leipzig 1921.
  10. Hugo Dingler, Relativitätstheorie und Ökonomieprinzip, Leipzig 1922.
  11. Hugo Dingler, „Bilanz der Relativitätstheorie", Süddeutsche Monatshefte, 1925.
  12. Hugo Dingler, Die Grundlagen der angewandten Geometrie - Eine Untersuchung über den Zusammenhang zwischen Theorie und Erfahrung in der exakten Wissenschaft; Leipzig 1911.
  13. Hugo Dingler, „Das Problem des absoluten Raums. In historisch-kritischer Behandlung.“, Jahrbuch der Radioaktivität und Elektronik 19, Nr. 3, 165 - 214 (1922).