Cembalokonzert in g-Moll

Das Cembalokonzert in g-Moll ist ein spätbarockes dreisätziges Instrumentalkonzert für Solo-Cembalo, zwei Violinen, Viola und Basso (Violoncello) in der Tonart g-Moll. Die Pianistin und Cembalistin Irene Hegen, die 1997 erstmalig einen vollständigen Stimmensatz davon entdeckte,[1] erwägt seine Entstehung um 1734.[2] Jahrzehntelang galt als Urheberin des Cembalokonzertes Wilhelmine von Preußen, auch bekannt als Wilhelmine von Bayreuth (1709–1758), deren Urheberschaft von der Opernforscherin Sabine Henze-Döhring bestritten und dafür Johann Gotthilf Jänichen (1701–~1750) propagiert wird.
Geschichte
Noten und Wilhelmines Autorschaft des Koncertes wurden erstmals 1890 im Katalog der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel aktenkundig. Das dort[3] aufbewahrte Stimmenmanuskript stammt von einem Bayreuther Hofkopisten als Werk „di Wilhelmine“, das ist Wilhelmine von Preußen (1709–1758),[4] die ab 1731 mit Markgraf Friedrich von Bayreuth verheiratet war. Nachdem bereits bei der Katalogisierung der HAB durch Emil Vogel die Solostimme für das Cembalo fehlte, wurde erst 1997 in Weimar eine vollständige Fassung durch Irene Hegen gefunden.
Dieses Manuskript – „Quelle Weimar“, eine weitere Stimmenabschrift – existierte offensichtlich zunächst anonym. Später wurden zwei Komponistennamen, „Foerster“ (durchgestrichen) und (mit anderer, späterer Schrift:) „Jaenichen“ auf seinem Titelschild angegeben. Eine zweizeilige Ordnungsnummer am rechten oberen Rand des Umschlags („7. g.“) stammt aus der Zeit davor. Die neue Nummer samt Titel lautet „No. 1 Concerto à Cembalo concertato [...]“.
Das Autograph oder eine Partitur des Concerto wurden bisher nicht bekannt.
Aufbewahrt in der Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek Weimar wurde die neugefundene „Quelle Weimar“ beim Brand 2004 weitgehend vernichtet, es existiert aber eine Fotokopie des Originals.[5] Die Quelle entstammte der Thüringischen Landesbibliothek Weimar[6] und ist nicht im Katalog der persönlichen Bibliothek der Herzogin Anna Amalia enthalten.
2008 wurde Wilhelmines Autorschaft am Cembalokonzert von Sabine Henze-Döhring angezweifelt und inzwischen ausgeschlossen. Ihr Hauptargument für die Autorschaft Jaenichens ist, dass er im Incipit-Katalog Breitkopf von 1763 als Autor des Konzertes angegeben ist.
Die Wolfenbütteler Abschrift
Von den wenigen erhaltenen musikalischen Werken Wilhelmines, die verstreut an verschiedenen Orten gefunden wurden,[7] war in der Reihenfolge des (offiziellen) Auffindens das erste (1890) die Abschrift des Konzertes in g-Moll.[8] Diese Noten in der HAB in Wolfenbüttel sind die „Quelle Wolfenbüttel“.
Bayreuther Kopist
Sie wurde von einem Bayreuther Hofkopisten geschrieben und von ihm mit di Wilhelmine autorisiert. Dieser Kopist wird beim RISM als „Copist 34 (Bayreuth court)“ geführt. Im Bayreuther Stadtarchiv gibt es die Flotow-Sammlung, die mehrere von ihm geschriebene Musikstücke Bayreuther Hofkomponisten enthält. Eine weitere Notenabschrift dieses Kopisten in der HAB, die Oper L’Huomo von Andrea Bernasconi, bestärkt, dass er Zugang zu den Noten der Bayreuther Hofkapelle hatte. Bei der Bindung dieser Opern-Partitur wurde dasselbe Papier verwendet wie bei den neugefundenen Noten des Cembalokonzertes.[9]
Nach Vergleich mit der 1997 in Weimar gefundenen vollständigen Stimmenabschrift (Quelle Weimar) entpuppte sich Quelle Wolfenbüttel als gekürzte Fassung, für deren Bearbeitung die Partitur am Hofe vorhanden gewesen sein muss.
Die Weimarer Abschrift
Die 1997 entdeckte „Quelle Weimar“ des Konzerts, die ursprünglich anonym aufbewahrt wurde, ist die einzig vollständige. Sie weist zwei deutlich später angegebene Komponistennamen auf: Förster (durchgestrichen) und Jänichen.[10]
Diese Quelle Weimar enthält die vermisste Solostimme und ist um ein Drittel länger als Quelle Wolfenbüttel. Beide sind als praktisches Stimmen-Manuskript überliefert und beide weisen Aufführungsspuren und Verbesserungen auf. Quelle Weimar wurde von zwei unbekannten Schreibern angefertigt, ein dritter fügte dem zweiten Satz der Cembalostimme eine improvisatorische Cembalo-Passage (Kadenz/Cadenza) an.
Capriccio
Auffällig: Im ersten Satz dieser Abschrift steht nach dem Fermatenzeichen (vor dem Da Capo des Orchester-Ritornells) die Aufforderung „si sona Capriccio“ (hier spiele man ein Capriccio), also eine Kadenz. Die wörtliche Bezeichnung „Kadenz“ für den bei Solo-Konzerten üblichen virtuosen Einschub vor Satzende war demnach bei der Abfassung der Handschrift (noch) nicht geläufig, ein Zeichen seiner frühen Entstehungszeit.
Zur Geschichte des Solo-Tastenkonzertes
Die Geschichte der Tastenkonzerte beginnt deutlich später als jene z. B. der Violinkonzerte Antonio Vivaldis.[11][12] Ein zeitlicher Anhaltspunkt für erste Solo-Tastenkonzerte sind Johann Sebastian Bachs Bearbeitungen nach eigenen Violin-(u. a.) Konzerten „um“ 1738 (Partitur in Staatsbibliothek zu Berlin): darin noch keine wörtliche Anweisung „Cadenza“ oder „Capriccio“.[13]
Es stellt sich die Frage, ob „Quelle Weimar“ einmal im Besitz von Anna Amalias Vorgänger Herzog Ernst August war.[14]
Jänichen im Breitkopf-Katalog

Über Johann Gotthilf Jänichen (* 1701 in Halle, † vor 1750 in Berlin), Sohn des Hallenser Pädagogen und Liederdichters Johann Jänichen ist persönlich kaum etwas bekannt, es heißt, dass er ein guter Cembalist gewesen sei[15] und bei Christian Ludwig von Brandenburg als Sekretär angestellt war.[16] In Telemanns „Musique de Table“ (1733) ist „Jenichen aus Berlin“ als Subskribent verzeichnet, übrigens auch Foerster. Jänichens Name ohne Vorname (auch Jaenichen, Jenichen) gelangte mit zwei Kompositionen, darunter das g-Moll Cembalokonzert um das es hier geht, in den umfangreichsten Musikalienkatalog der Musikgeschichte, den Breitkopf-Katalog, der ein Verkaufskatalog war. Dieser besteht aus mehreren Folgen ab 1762 gedruckter Incipit-Kataloge mit den Notenanfängen von Tausenden Musikstücken. In dem Band von 1763 wird das Cembalo-Konzert in g-Moll mit Incipit (Notenanfang des Musikstücks), wie gesagt, unter „Jenichen“ geführt.
Zuweisung mit Fragestellung
Jänichen als Verfasser des Cembalokonzertes g-Moll im Breitkopf-Katalog: Es handelt sich dabei um eine ungesicherte Zuweisung, wie sie in diesem Katalog oft vorkommt.[17] Dass im Breitkopf-Katalog viele Noten Berliner Herkunft verzeichnet sind, weist auch auf die Möglichkeit – wie auch immer – der Erwähnung oder Verwechslung des Namens Jaenichen hin. Über Schwierigkeiten hinsichtlich der Autorenzuweisungen dieses Verkaufskatalogs schreibt der Inhaber des Leipziger Musikalienlagers Johann Gottlob Immanuel Breitkopf selbst:[18]
„Wie manchen Streit hat man nicht auszumachen, und wie manchen geheimen Kampf zu überwinden, wenn man jedem Verfasser das Seinige geben, und die unter verschiedenen Nahmen [beide Wörter hervorgehoben] vorkommenden Stücke ihren wahren Meistern zueignen will? Und wenn man in so zweifelhaften Fällen, dergleichen mir gar oft vorgekommen sind, durch Nachfragen nicht viel herausbringt […]“
Bayreuther Hofkopist Oboist Tiefert?
Die von ihm kopierte Oper befindet sich zusammen mit dem Cembalokonzert nach „vorsichtiger Beurteilung“ einer Bibliothekarin der HAB in der Sammlung (wenn auch nicht im Bibliothekskatalog) von Philippine Charlotte, Wilhelmines Schwester und ab Herbst 1759 Schwiegermutter des Markgrafen Friedrich (1711–1763). Es könnte sich um den „Oboist Tiefert“ handeln, der ab 1755 im Bayreuther Hofkalender, ab 1764 dort als Copist betitelt ist: 1759 ist er („Differt“) mit einem Notenkopierauftrag in einem umfangreichen Kostenbuch hauptsächlich über ein neues Comödienhaus in Bayreuth anlässlich der zweiten Hochzeit Markgraf Friedrichs mit Sophie Caroline Marie von Braunschweig-Wolfenbüttel verzeichnet.[19] Sehr wahrscheinlich galt dieser Auftrag einem Mitbringsel für die Schwester seiner 1758 gestorbenen Frau Wilhelmine. Denn im selben Jahr (Herbst 1759) fand seine (zweite) Hochzeit in Wolfenbüttel statt, wo sich heute Cembalokonzert in g-Moll und die kostbar gebundene Bayreuther Oper L’Huomo befinden.
Wilhelmine oder Jänichen?
Die Weimarer Handschrift vermittelt hinsichtlich der Autorenfrage den ungesicherten Stand einer Vermutung gleich zweier Komponisten (s. o.), die (damals offenbar) in Frage kamen und erst später auf den Umschlagtitel des Konzerts geschrieben wurden; so zeigt sie zwei verschiedene Katalognummern: eine rechts oben am Rand (7), die andere auf dem Titelschild (1).[20]
Die Proklamierung für Jänichen als Autor des Cembalokonzertes in g-Moll steht aufgrund des späteren Eintrags „Jaenichen“ in der Weimarer Quelle mit Recht durch die zusätzliche Incipit-Angabe unter seinem Namen im Breitkopf-Katalog zur Debatte, sodass sich damit zwei Autorennamen für das Cembalokonzert gegenüberstehen, Wilhelmine und Jänichen. Somit beweisen die Befunde der beiden Handschriften des Cembalokonzertes in g-Moll, dass die Proklamierung für Jänichens als allein in Frage kommenden Autoren des Konzerts nicht begründbar ist.
Argumente für die Komponistin
In verschiedenen Rundfunksendungen jüngst und im Internet-Magazin VAN wurde behauptet, „Wilhelmine könne man nicht Komponistin nennen“.[21] Das Gegenteil beweisen ihre praktisch-musiktheoretischen Künste als Begleiterin, ihr Komponieren schon in Berlin, die beiden Autographen Flötensonate und Oper Argenore; dass ihre Notensammlung (mit weiteren Kompositionen von ihr) verschollen ist, dafür kann sie nichts.
Beispiele
- Das Berliner Zusammentreffen mit den Violinisten Pietro Antonio Locatelli und Johann Gottlieb Graun im Jahr 1728, wo „die älteste Prinzeßin“ anlässlich des Besuchs Augusts des Starken in einem Konzert „zwei Stunden lang“ am Cembalo begleitete, das beinhaltete den sogenannten „Generalbass“, eine Grunddisziplin des Komponierens.[22]
- Während ihrer Zimmerhaft 1730 aufgrund der Katte-Katastrophe beschäftigte sie sich mit Lesen, Schreiben und „Komponieren von Musikstücken“.[23]
- Dann 1730/31 ihre Angabe, sie habe vorgegeben zu komponieren, um Zeit zugewinnen, als die Heiratsvermittler ihres Vaters sie bedrängten – es war innerhalb ihres häuslichen Kreises eine gewohnte Sache, zu komponieren.[24]
- Einen offiziellen Bericht aus Bayreuth im Dezember 1733 gibt der Komponist und Musik-Theoretiker Georg Andreas Sorge aus Lobenstein, der am 19. Dezember 1733 musizierend am Bayreuther Hof weilte,[25] wobei er als ‚sichtbarer Zeuge‘ bei ‚DERO Cammer-Music‘ Wilhelmines ‚ganz ausnehmende Fertigkeit‘ in ‚dieser Wissenschaft und Kunst‘ praktisch und theoretisch erlebte.
- In Erinnerung daran widmete er ihr den dritten Teil seines Vorgemach der Komposition,[26] in dem es speziell um die Septimen und Dissonanzen geht.[27]
- Im zweiten Satz des Konzertes („Andante“, Streicher: „Cantabile“) sind im Cembalo rezitativische, typisch lautenistische Akkordbewegungen komponiert und zu einer Solovioline ergeben sich auffällige, enharmonische Übergänge.[28] Diese enharmonischen Modulationen weisen auf die Praxis der Laute bzw. auf die Lautenistin Wilhelmine und die Modulationskünste ihres Lautenlehrers Silvius Leopold Weiss.[29][30]
- Für Wilhelmine als Autorin des Cembalokonzertes spricht die bekannte Schreiberhand des Bayreuther Hofkopisten des MS. Wolfenbüttel „di Wilhelmine“, die u. a. im Bayreuther Stadtarchiv (Flotow-Sammlung) nachzuweisen ist,[31] sowie das bunte Umschlagpapier des Cembaloheftes (MS. Weimar), welches auch in Bayreuther Markgrafenbibliotheken (heute Universitätsbibliothek Bayreuth) Verwendung fand; dann weisen auf Bayreuth die verwandtschaftlichen Beziehungen zu den Herzogtümern Weimar und Braunschweig-Wolfenbüttel, in deren Bibliotheken die beiden Concerto Mss aufbewahrt sind.
Ms. Wolfenbüttel (vom Bayreuther Copisten) ist eine erleichterte Fassung des Concerto (etwa für den Gebrauch eines weniger routinierten Ensembles, wie es wohl anlässlich der Hochzeit 1759 zum Einsatz kam), für deren Herstellung das originale Partiturautograph in Bayreuth noch vorhanden gewesen sein muss (heute sind Wilhelmines Noten verschollen).
Zu den „Erleichterungen“: gleich zu Beginn auf Zählzeit „Eins“ wurde in der Bassstimme der Grundton G hinzugesetzt, um den rhythmisch Beginn der Violinen auf „Eins +“ (d. h. erst nach der Achtelpause) zu erleichtern. Eine weitere Erleichterung ist insbesondere auch der Wegfall der harmonisch/intonatorisch schwierigen Takte (enharmonische Takte) des zweiten Satzes, die im Übrigen für ein Cembalo sprechen, dessen Stimmsystem dafür angepasst bzw. geeignet gewesen sein muss (mit Vierteltönen?? Das ist ein Extra-Thema, da ergibt sich auch die Frage nach der Bauweise des von Sorge mitgebrachten Pantalon-Klaviers.) Welcher Art Bezug zu dem später im Titel (Ms. Weimar) notierten Komponisten „Foerster“ besteht, muss verfolgt werden.[32] Der musikalische Beitrag des Sekretärs und „guten Musicus, sonderlich im Clavier-Spielen“ Jänichen zur Musikpflege Christian Ludwigs von Brandenburg, dem Johann Sebastian Bach 1721 seine Brandenburgischen Konzerte widmete und die Frage, auf welchem Weg Jänichen in den Leipziger Breitkopf-Katalog aufgenommen wurde, wären auch interessant zu wissen.[33]--!>
Öffentliche Kontroverse zur Frage der Autorschaft
So begann alles: Im Jahr 2008 gab es auf einer wissenschaftlichen Tagung in Bayreuth zum Jubiläumsjahr der Bayreuther Markgräfin Wilhelmine eine „kleine Sensation“ zum Thema. Man habe entdeckt, dass nicht Wilhelmine das unter ihrem Namen bekannte Cembalokonzert in g-Moll komponiert habe, sondern ein anderer Komponist: Johann Gotthilf Jänichen. Ein Zeitungsartikel nannte dies das „vielleicht spektakulärste Ergebnis der Forschungen zum Wilhelmine-Jahr“.[34] Diese Ergebnisse wurden in einem Buch über Wilhelmine und die Musik veröffentlicht.[35] Von diesem Buch gehen Ansätze aus, den Schwerpunkt auf Wilhelmines Wirken als Mäzenin in den Vordergrund zu stellen insbesondere auf Kosten ihrer kompositorischen Kompetenz.[36] Auch in drei folgenden Aufsätzen derselben Autorin wird die (spätere) Nennung des Namens „Jaenichen“ auf der Weimarer Quelle (neben dem durchgestrichenen „Foerster“) und aufgrund des Konzert-Incipits im Breitkopf-Katalog von 1763 unter „Jenichen“ wiederholt als Beweis seiner Autorschaft betont,[37] ohne die Wolfenbütteler Quelle ernst zu nehmen. Im neuesten Buch über Wilhelmine (2018) ist neun Jahre später ohne näheren Kommentar zu lesen, das Cembalokonzert sei Wilhelmine „angedichtet“ worden.[38]
Dennoch gab es seitdem mehrere Neueinspielungen unter Wilhelmines Namen sowie Rundfunkübertragungen. Die Bayreuther Universitäts-Bibliothek, die ihren Katalog dahingehend umgestellt hatte, dass z. B. die moderne Notenausgabe des Konzerts[39] unter dem Namen Jänichen zu suchen war (obwohl unter „Wilhelmine“ gedruckt), kehrte inzwischen zurück zur ursprünglichen Bezeichnung. Zugleich dürfte, vermutlich durch die Tatsache, dass das markgräfliche Opernhaus Bayreuth 2012 zum Weltkulturerbe gekürt und nach Renovierung zur Attraktion wurde, Markgräfin Wilhelmine und das Konzert vermehrt in den Fokus des Interesses gerückt sein. So entstand zeitweise ein Durcheinander, dazu gehört eine schriftliche Programmankündigung im Mai 2020 des Bayerischen Rundfunks,[40] wo als Autorin „Wilhelmine von Jänichen“ angegeben ist oder der Artikel[41] des Internet-Magazins für klassische Musik VAN, der bezüglich Wilhelmine sexistische Kommentare des Alte-Musik-Spezialisten Reinhard Goebel wiedergibt und im Kontext behauptet wird, Wilhelmine könne man nicht Komponistin nennen. Zeitweise hat der Bayerische Rundfunk Wilhelmines Namen bei Sendung des Konzertes – wohlgemerkt: aufgenommen unter ihrem Namen – unter Johann Gotthilf Jänichen gesendet.[42]
Sendung unter „Johann Gotthilf Jänichen/Wilhelmine von Bayreuth“
- Samstag, Cembalokonzert in g-Moll: 6. Mai 2023 im Bayerischen Rundfunk.
Historiografischer Anspruch?
In der Zeitschrift „Opernwelt“ vom März 2010 ist in der Rezension über das oben erwähnte Buch Markgräfin Wilhelmine und die Bayreuther Hofmusik[43] zu lesen, dass es um den „historiografischen Anspruch“ gehe, mit „lieb gewordener Verklärung und Vereinfachung“ [der Geschichte Wilhelmines, sprich ihrer Bedeutung als Komponistin] „aufzuräumen und zu klären, was sich noch klären lässt.“ Henze-Dörings Befund wurde offenbar von keinem einzigen Rezensenten nachgeprüft.
Liest man Georg Andreas Sorges (1703–1778), des Lobensteiner Organisten, Komponisten und Theoretikers[44] Widmung seiner Kompositionslehre an Wilhelmine[45], die sich explizit auf eine musikalische Begegnung mit ihr am 19. Dezember 1733 in Bayreuth bezieht,[46] kann es keinen Zweifel an ihrer kompositorischen Kompetenz in Theorie und Praxis geben.
Jänichen zugeschriebene Werke: ist Wilhelmine als Komponistin ausschließbar?
Eine historiographische Forschungslücke ist es jedoch, das gleichzeitige Wirken und Nebeneinander des Musikers Jänichen und der Musikerin Wilhelmine im Berliner Schloss zur Zeit der Spätphase der Musikpflege Christian Ludwigs von Brandenburg nicht unter die Lupe zu nehmen. Kann man eine Verwechslung Jänichen/Wilhelmine ausschließen, zu einer Zeit, als Prinzessinnen ihre Kompositionen normalerweise nicht öffentlich machten? Als Untersuchungsobjekt bieten sich die Johann Gotthilf Jänichen zugeschriebenen Arien an (s. Wikip. Artikel). Die vier Teutschen Arien sind Jänichen zugeschrieben. Drei davon wenden sich in der Überschrift an eine Hoheit, den Prinz oder Fürst der Brennen(=Brandenburg). Sie haben also Bezug zum fürstlichen Arbeitgeber Jänichens Christian Ludwig von Brandenburg-Schwedt. Mit so einem Titel waren es Kompositionen mit offiziellem Charakter bei öffentlichen Aufführungen. Derartige Werke dürften einem leitenden Musiker (Kapellmeister) am Hofe zuzuschreiben sein. War Jänichen so etwas? Andererseits: Wilhelmines Jugendwerke sind unbekannt, aber ohne solche müsste sie quasi „aus dem Stand“ ihre Oper Argenore geschrieben haben, wenn es nicht vorher von ihr Werke wie diese Arien gab. Es könnte nämlich auch eine Verwechslung gegeben haben, indem Wilhelmines Werke, in diesem Falle Arien, Jänichen unterschoben wurden. Denn: ihr persönlicher Fingerabdruck, ihre Notensammlung, die beim Schlossbrand in Bayreuth 1753 ausdrücklich gerettet wurde: wo ist sie geblieben, wer hat je danach gefragt?
Siehe auch
- Frank Piontek: Cembalokonzert nicht von Wilhelmine Dezember 2008
- Wilhelmine von Bayreuth und ihr orchestre
Literatur
- Wilhelmine von Bayreuth (1709–1758): Concerto in g für Cembalo obligato und Streicher. Mit Faksimileseiten und ausführlichem Text. Furore-Edition 2526, Kassel 2000, hrsg. von Irene Hegen
- Irene Hegen: Neue Dokumente und Überlegungen zur Musikgeschichte der Wilhelminezeit. In: P. Niedermüller, R. Wiesend (Hrsg.): Musik am Hofe der Bayreuther Markgräfin Wilhelmine. Symposion zum 250. Jubiläum des Markgräflichen Opernhauses am 2. Juli 1998 (Schriften zur Musikwissenschaft. Hrsg. vom Musikwissenschaftlichem Institut der Johannes Gutenberg-Universität Mainz) Are Edition Mainz 2002, ISBN 3-924522-08-1, S. 27–57.
- Irene Hegen: Musikalische Verschlüsselungen. Autobiografische Spuren in den Kompositionen von Wilhelmine von Bayreuth. In: Günter Berger (Hsgb.): Wilhelmine von Bayreuth heute. Archiv für Geschichte von Oberfranken, Bayreuth, Sonderband 2009
- Sabine Henze-Döhring: Markgräfin Wilhelmine und die Bayreuther Hofmusik. Heinrichs-Verlag Bamberg 2009
- Rashid-S. Pegah: »…und Fama hat dich auserkoren«. Eine Studie zur Musikpflege am Hof von Markgraf Christian Ludwig von Brandenburg. In: Peter Wollny (Hrsg.): Bach-Jahrbuch. 103. Jahrgang 2017. Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2017, ISBN 978-3-374-05297-4, S. 109–137
Einzelnachweise
- ↑ Bis dahin fehlte u. a. die Solostimme.
- ↑ „mögliches und wahrscheinliches Entstehungsjahr“, siehe Concerto in G für Cembalo obligato und Streicher – Furore Verlag, S. 31
- ↑ U. a. befindet sich in Wolfenbüttel die Bibliothek von Wilhelmines Schwester Philippine Charlotte von Preußen, zu der das Manuskript vermutlich gehörte.
- ↑ Im Wolfenbütteler Katalog „Sophie Friederike Wilhelmine“. Siehe Emil Vogel: Die Handschriften nebst den älteren Druckwerken der Musik-Abteilung der Herzogl. Bibliothek zu Wolfenbüttel. Wolfenbüttel 1890, S. 15.
- ↑ Auch ein Druck 2000 im Furore Verlag.
- ↑ Siehe RISM.
- ↑ Ansbach, Wolfenbüttel, Jagdschloss Herdringen, Weimar; Wilhelmines Notensammlung, die ausdrücklich eines Briefes von Wilhelmine beim Bayreuther Schlossbrand 1753 gerettet wurde, ist trotzdem heute verschollen.
- ↑ Concerto./ à/ Cembalo 0bligato./ duoi Violini./ Violetta./ e/ Basso./ di Wilhelmine/ Incipit (Noten des Anfangsthemas).
- ↑ Bayreuther Vorsatzpapier in Oper L'Huomo, geschrieben vom Bayreuther Kopisten. S. 2 u. 3 = Bayreuther Vorsatzpapier wie Umschlag des Cembalokonzerts Quelle Weimar.
- ↑ Eine erste Katalogisierung rechts oben am Rand des Umschlags (aus Bayreuther Vorsatzpapier) ergibt „7 G“, der später aufgeklebte Titel trägt die Nummer „1“.
- ↑ Die Bezeichnung „Cariccio“ für Kadenz erinnert an das Jahr 1728, als Wilhelmine beim Besuch Augusts des Starken in Berlin am 27. Mai – so der berichtende Wilhelm Stratemann – die beiden Geiger Pietro Antonio Locatelli und Johann Gottlieb Graun im Konzert am Cembalo begleitete. Dabei könnte sie Locatellis Capricci kennen gelernt haben, die er für seine Solo-Konzerte (s. Locatellis Arte del Violino) mit sich führte.
- ↑ Albert Dunning: Pietro Antonio Locatelli. Der Virtuose und seine Welt. 2 Bände. Buren 1981. Bd. I, S. 112.
- ↑ Nur Markierung durch Fermatenzeichen. Siehe Studien-Edition 2020/21 des Henle-Verlags zu BWV 1052 u. BWV 1053.
- ↑ Seine Hochzeit mit der Bayreuther Prinzessin im April 1734 richtete Wilhelmine in Bayreuth aus, für diesen Termin wurde bei Hof ein neues Cembalo (u. a.) angeschafft, was auf Verwendung beim Fest deutet.
- ↑ Johann Christoph von Dreyhaupt: Pagus Neletizi et Nudzici, oder ausführliche diplomatisch-historische Beschreibung des zum ehemaligen Primat und Ertz-Stifft, […] 2. Teil. Emanuel Schneider, Halle 1749/50. Nachdruck: Fliegenkopf, Halle 2002, ISBN 3-930195-70-4, S. 642–643.
- ↑ Laut Rashid-S. Pegah, Bach-Jahrbuch 2017, S. 119f.
- ↑ Robert Dearling: Annotations to The Breitkopf Thematic Catalogue and Supplements. In: Haydn Yearbook IX, Wien 1975, S. 256–302
- ↑ im ersten Band des Katalogs („Nacherinnerung“ 1762)
- ↑ Kostenbuch 1759 (ohne offiziellen Titel, ohne Seitenzahlen) Staatsarchiv Bamberg, GAB 17698.
- ↑ Rand rechts oben bei der Fotowiedergabe meist abgeschnitten: 7.g. auf Titelschild No 1.
- ↑ Merle Krafeld, Big in Bayreuth?, VAN Magazin (20. Mai 2020). https://van-magazin.de/mag/wilhelmine-reloaded/
- ↑ Irene Hegen: Musikalische Verschlüsselungen In: Günter Berger (Hsgb.): Wilhelmine von Bayreuth heute. Das kulturelle Erbe der Markgräfin. Archiv für Geschichte von Oberfranken. Bayreuth, Sonderband 2009, ISSN 0066-6335, S. 187–207 (S. 188).
- ↑ Alexander von Gleichen-Rußwurm: Die Markgräfin von Bayreuth, Stuttgart 1925, S. 72.
- ↑ S. Bergers Übersetzung der Memoiren S.
- ↑ Datums-Nachweis durch Brief in: G. B. Volz und Fr. von Oppeln-Bronikowski: Friedrich der Große u. Wilhelmine von Bayreuth Bd. I Jugendbriefe, Leipzig 1924, S. 188. Sorges Widmung schreibt darin (Druck nach 14 Jahren 1747) von einem „Pantalon“, das er ihr 1733 überbrachte und spielte.
- ↑ Irene Hegen: Neue Dokumente und Überlegungen zur Musikgeschichte der Wilhelminezeit. In: Peter Niedermüller, Reinhard Wiesend (Hrsg.): Musik und Theater am Hofe der Bayreuther Markgräfin Wilhelmine. Symposion zum 250.-jährigen Jubiläum des Markgräflichen Opernhauses am 2. Juli 1998. Are, Mainz 2002, S. 27–57, hier S. 35.
- ↑ Siehe Widmung des dritten Teils seines Vorgemach der musikalischen Komposition, die mehr ist als eine diplomatisch-höfliche Widmung. Welch wichtige Rolle dieser Musiktheoretiker spielte, ist zu lesen in Ludwig Holtmeier: Rameaus langer Schatten. Studien zur deutschen Musiktheorie des 18. Jahrhunderts. Olms. Hildesheim, Zürich, New York 2017. Holtmeier bezeichnet in seinem Buch ausdrücklich „die im dritten Band“ von Sorges Vorgemach „entfaltete Dissonanzlehre“ einen „Höhepunkt der Musiktheorie des 18. Jahrhunderts“ (S. 216).
- ↑ Z. B. Takt 18 zu Takt 19, wo sich auf Zählzeit eins die Töne Eis und F gegenüberstehen.
- ↑ Wilhelmine von Bayreuth,Concerto in g, Furore 2000, 2. Satz Takt 12–20. Dazu Text S. 29.
- ↑ Zu Weiß siehe Lothar Hoffmann-Erbrecht: Der Lautenist Silvius Leopold Weiß und Johann Sebastian Bach. In: Gitarre & Laute 9, 1987, Heft 6, S. 19–23.
- ↑ Siehe Répertoire International des Sources Musicales (RISM)
- ↑ Wilhelmine von Bayreuth (1709–1758): Concerto in g. Furore 2000. Dazu Bemerkung S. 31 linke Spalte.
- ↑ Vergleiche Rashid-S. Pegah, Bach-Jahrbuch 2017, S. 119 f.
- ↑ Nordbayerischen Kurier
- ↑ Sabine Henze-Döhring: Markgräfin Wilhelmine und die Bayreuther Hofmusik. Bamberg 2009.
- ↑ Sabine Henze-Döhring 2009: S. 51 und 52 sowie 42, 49 und 75 u. a.
- ↑ Siehe oben: „Jänichen im Breitkopf-Katalog“.
- ↑ Günter Berger: Wilhelmine von Bayreuth. Leben heißt eine Rolle spielen. Pustet Regensburg 2018.
- ↑ Wilhelmine von Bayreuth (1709–1758), Concerto in g, für Cembalo obligato und Streicher. Furore-Edition 2526, Kassel 2000.
- ↑ Programmheft des Bayerischen Rundfunks
- ↑ Artikel der Internet-Zeitschrift für klassische Musik VAN unter "250 Komponistinnen", van-magazin.de
- ↑ Sendung unter Jänichen
- ↑ Opernwelt März 2010, S. 28 (Stefan Mösch).
- ↑ Über ihn siehe Ludwig Holtmeier: Rameaus langer Schatten. Studien zur deutschen Musiktheorie des 18. Jahrhunderts. Olms-Verlag Hildesheim, Zürich, New York 2017.
- ↑ Siehe oben: Vorgemach der Komposition, 3. Teil. Über Septakkorde und Dissonanzen 1747.
- ↑ Brief in Volz I, S. 188, 19. Dezember 1733, wo sie das „Pantalon“ (Clavier) erwähnt, auf das sich auch Sorge in seiner Widmung bezieht.