Kurzgeschichte
Die Kurzgeschichte (eine Lehnübersetzung des englischen Begriffs "short story") ist eine besondere, moderne literarische Form der Kurzprosa, deren Hauptmerkmal in einer starken Komprimierung des Inhaltes besteht.
Gattungsabgrenzung
Kurzgeschichte im engeren Sinn kennzeichnet modern short stories, eine Gattung, die Anfang des 20. Jahrhunderts entstand. Der Oberbegriff für "kurze" (Kürze meint nicht nur die reine Länge) Geschichten lautet deshalb korrekterweise Kurzprosa. Der Begriff Kurzgeschichte hat sich aber mit der Zeit zu einer allgemeinen Bezeichnung für Kurzprosa ausgeweitet.
Von der Kurzgeschichte abzugrenzen ist die Novelle, die in ihrer Länge auch 30 Seiten deutlich überschreiten kann und sich dadurch auszeichnet, dass sie eine stringentere Handlung und einen strukturierteren Rahmen besitzt.
Was ist eine Kurzgeschichte?
(short story [Sc:t 'stc:ri])
Das Wort „Kurzgeschichte" ist eine Lehnübersetzung aus dem Amerikanischen. Sie sind kurze realistische Prosaerzählungen, die sich im 19. Jahrhundert in literarischen Texten entwickelten. Die Entwicklung deutscher Kurzgeschichten setzte sich erst nach 1945 durch und begann als Trümmerliteratur. In der Trümmerliteratur spiegelt sich der Krieg in der Literatur wider. Man versuchte Ursachen sowie Ergebnisse zu finden und gab persönliche Erfahrungen und Erlebnisse wieder. Das Ziel der Trümmerliteratur ist es, dass der Leser einer Kurzgeschichte weiterdenkt. Die deutsche Kurzgeschichte entwickelte sich aus vielen Formen der Kurzprosa u.a. aus der Novelle und Anekdote (Anekdote: scharf charakterisierende Erzählung über eine historische Persönlichkeit oder Begebenheit, Novelle: klassische Form entstand in der ital. Renaissance). Kurzgeschichten sind durch eine Reihe von Merkmalen gekennzeichnet, die jedoch nicht immer alle vorhanden sein müssen. Typische Erkennungszeichen sind vor allem der geringe Umfang und eine scheinbare Momentaufnahme eines nur kleinen Ausschnitts aus der Wirklichkeit. Kurzgeschichten halten das Ende offen, um dem Leser eine Anregung zur Diskussion oder zum Weiterdenken zu liefern. Das Ziel des Autors ist es, den Menschen das Gefühl der Verbundenheit zu geben. Bedeutende Vertreter der Kurzgeschichte sind u.a. Edgar Allan Poe, der spannende und phantasiereiche Erzählungen schrieb, und Ernest Hemingway, der ein amerikanischer Hauptvertreter der „verlorenen Generationen" zwischen den Weltkriegen war. Die Merkmale seiner Prosa waren vor allem die Verherrlichung des männlichen Mutes und die unbeschönigte Wahrheit, die von ihm teilweise mit brutalem Realismus gestaltet wurde. Sehr bekannte deutsche Vertreter waren u.a. Wolfgang Borchert, der von ungewöhnlicher innerer Dynamik und sprachlicher Intensität schrieb, Heinrich Böll, der für seine satirische Erzählweise 1972 einen Nobelpreis erhielt, Franz Kafka und natürlich Günther Kunert. Das Ziel eines Autors war, eine Selbstverständigung zu schaffen.
Merkmale
Es gibt keine einheitlichen Merkmale, die bei jeder Kurzgeschichte vorkommen müssen, und "Kurzgeschichte" als Begriff ist nicht trennscharf. Die gegenwärtige literarische Praxis der Kurzgeschichtenschreiber entscheidet über die Merkmale, die mit dem Begriff "Kurzgeschichte" in Verbindung gebracht werden. Handlung und Konflikt können sich völlig in einen Menschen verlagern, so dass diese innere Handlung bedeutsamer ist als das rein äußere sichtbare Geschehen (Wechselwirkung). Trotzdem lassen sich einige Merkmale finden, die allerdings nicht immer auftreten:
- Die Geschichte soll in einem Leseakt gelesen werden können
- Geringer Umfang
- Meist personaler Erzähler
- Keine Einleitung (bzw. sehr kurze Einleitung) d.h. keine Exposition
- Sofortiger Einstieg in die Handlung (in medias res)
- Offener Schluss oder eine Pointe
- => Der offene Schluss "zwingt" den Leser förmlich dazu, über das Geschehen nachzudenken
- Konfliktreiche Situation, geprägt von vielen Emotionen
- Ein oder zwei Hauptpersonen stehen im Mittelpunkt (es gibt jedoch auch Kurzgeschichten mit deutlich mehr Hauptpersonen/ Hauptfiguren).
- Ein entscheidender Einschnitt aus dem Leben der handelnden Person bzw. Figur wird erzählt
- Chronologisches Erzählen hauptsächlich im Präteritum (Vergangenheit), keine Zeitsprünge
- Einsträngige Handlung
- Wenig Handlung
- Lakonischer Sprachstil
- Metaphern und Leitmotive weisen den Leser auf wichtige Gesichtspunkte der Geschichte hin.
- Themen sind Probleme der Zeit.
- Die Figuren sind Menschen, die nicht herausragen (Vgl. Alltagsmenschen), sie sind keine Helden.
- Es bleiben noch Fragen übrig (offenes Ende), der Leser muss zwischen den Zeilen lesen.
Geschichte
Kurzgeschichten entstanden als short stories im Bereich der anglo-amerikanischen Literatur (z. B. Edgar Allan Poe; Sherwood Anderson; F. Scott Fitzgerald; Ernest Hemingway, William Faulkner; Sinclair Lewis) und setzten sich nach dem Zweiten Weltkrieg auch in Deutschland durch.
In Deutschland entstanden in der Nachkriegszeit bedeutende Kurzgeschichten z. B. von Wolfgang Borchert, Heinrich Böll, Wolfdietrich Schnurre, Ilse Aichinger, Hans Bender, Elisabeth Langgässer, Alfred Andersch, Marie Luise Kaschnitz, Siegfried Lenz, Wolfgang Weyrauch und Gabriele Wohmann. Ab Mitte der 1960er-Jahre hat diese literarische Gattung einen Teil ihrer Bedeutung verloren. Weitere Komprimierung und Reduktion führten zur Kürzestgeschichte; Verfasser solcher Texte sind unter anderem Peter Bichsel, Kurt Marti, Helga M. Novak und Thomas Bernhard.
Zitate
- "Uns fehlt der Optimismus des 19. Jahrhunderts, zu glauben, diese Welt ließe sich auf fünfhundert Seiten einfangen; deshalb wählen wir die kurze Form!" (Jorge Luis Borges)
- "Eine Kurzgeschichte ist eine Geschichte, an der man sehr lange arbeiten muss, bis sie kurz ist." (Vicente Aleixandre)
- "Mein hartgesottener Ehrgeiz kann nicht ablassen von dieser Form. Nimmt man sie wirklich ernst, dann wird die Kurzgeschichte - das ist meine Meinung - zur schwierigsten aller Prosaformen, denn keine andere verlangt vom Autor soviel Disziplin." (Truman Capote)
- "Je mehr Du kürzest, desto häufiger wirst Du gedruckt." (Anton Tschechow)
- "Ein Kunstwerk kann sozusagen nicht kurz genug sein, denn auf seiner gedrängten Kürze beruht sein Wert." (Gilbert Keith Chesterton)
- "Da gibt es Kurzgeschichten, die lesen sich wie ein Achtzeiler von Goethe, randvoll mit sprachlichen, gedanklichen und gefühlsmäßigen Beziehungen und Verdichtungen. Andere wieder erscheinen so komprimiert, daß sie beim Lesen zerknallen wie Handgranaten." (Wolfgang Liebeneiner)
- "Entschuldige die Länge des Briefes, ich hatte keine Zeit mich kurz zu fassen!" (Johann Wolfgang von Goethe)
Siehe auch
Literatur
Textsammlungen
- Erzählte Zeit. 50 Kurzgeschichten der Gegenwart. Hrsg. von Manfred Durzak. Reclam, Stuttgart 1980 [u.ö.].
- Schlaglichter. Zwei Dutzend Kurzgeschichten. Mit Materialien. Hrsg. von Herbert Schnierle-Lutz. Klett, Stuttgart 2001.
- Klassische deutsche Kurzgeschichten. Hrsg. von Werner Bellmann. Reclam, Stuttgart 2003. ISBN 3-15-018251-4 [33 Geschichten aus dem Zeitraum 1945 - 1965.]
- Deutsche Kurzprosa der Gegenwart. Hrsg. von Werner Bellmann und Christine Hummel. Reclam, Stuttgart 2005. ISBN 3-15-018387-1 [30 Texte aus dem Zeitraum 1965 - 2004.]
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Interpretationen
- Klassische deutsche Kurzgeschichten. Interpretationen. Hrsg. von Werner Bellmann. Reclam, Stuttgart 2004. ISBN 3-15-017525-9 [33 Interpretationen zu den Texten der 2003 bei Reclam veröffentlichten Anthologie.]
- Deutsche Kurzprosa der Gegenwart. Interpretationen. Hrsg. von Werner Bellmann und Christine Hummel. Reclam, Stuttgart 2006. ISBN 3-15-017531-6 [Interpretationen zu den 30 Texten der 2005 bei Reclam veröffentlichten Anthologie.]
- Hans-Dieter Gelfert: Wie interpretiert man eine Novelle und eine Kurzgeschichte? Reclam, Stuttgart: Reclam 1993. ISBN 3150150302
- Rainer Könecke: Interpretationshilfen: Deutsche Kurzgeschichten 1945-1968. 2. Auflage. Klett, Stuttgart/Dresden 1995.
- Rainer Könecke: Deutschsprachige Kurzprosa zwischen 1945 und 1989. Interpretationen, thematische Bezüge sowie Überlegungen zu ihrem produktionsorientierten Einsatz in der gymnasialen Oberstufe. Klett, Stuttgart/Dresden 2006.
- Bernd Matzkowski: Wie interpretiere ich Fabeln, Parabeln und Kurzgeschichten? Basiswissen Klassen 11-13. Mit Texten. Bange, 2005.
- Paul Nentwig: Die moderne Kurzgeschichte im Unterricht. Georg Westermann, Braunschweig 1967 [u.ö.].
- Franz-Josef Thiemermann: Kurzgeschichten im Deutschunterricht. Texte - Interpretationen - Methodische Hinweise. Kamps, Bochum 1967 [u.ö.].
Forschungsliteratur
- Wolfdietrich Schnurre: Kritik und Waffe. Zur Problematik der Kurzgeschichte. In: Deutsche Rundschau 87 (1961) Heft 1. S. 61-66.
- Hans Bender: Ortsbestimmung der Kurzgeschichte. In: Akzente 9 (1962) Heft 3. S. 205-225.
- Walter Höllerer: Die kurze Form der Prosa. In: Akzente 9 (1962) Heft 3. S. 226-245.
- Jan Kuipers: Zeitlose Zeit. Die Geschichte der deutschen Kurzgeschichtenforschung. Groningen 1970.
- Ludwig Rohner: Theorie der Kurzgeschichte. Athenäum Verlag, Frankfurt a. M. 1973. - 2., verbesserte Auflage. Wiesbaden 1976.
- Manfred Durzak: Die Kunst der Kurzgeschichte. München 1989 (UTB 1519).
- Erna Kritsch Neuse: Der Erzähler in der deutschen Kurzgeschichte. Columbia (S.C.) 1991.
- Manfred Durzak: Die deutsche Kurzgeschichte der Gegenwart. Reclam, Stuttgart 1980. - 3., erweiterte Auflage. Königshausen & Neumann, Würzburg 2002. ISBN 382602074X
- Urs Meyer: Kurz- und Kürzestgeschichte. In: Kleine literarische Formen in Einzeldarstellungen. Reclam, Stuttgart 2002, S. 124-146.
- Hans-Christoph Graf v. Nayhauss (Hrsg.): Theorie der Kurzgeschichte. Überarbeitete und erweiterte Ausgabe. Reclam, Stuttgart 2004. ISBN 3-15-015057-4
- Leonie Marx: Die deutsche Kurzgeschichte. 3., aktualisierte u. erweiterte Auflage. Stuttgart/Weimar 2005 (Sammlung Metzler. 216). ISBN 3-476-13216-1