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Tötung von Nahel Merzouk

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Schriftzug im Stadtteil Planoise von Besançon

Die Tötung von Nahel Merzouk durch einen Polizisten ereignete sich am Morgen des 27. Juni 2023 im Pariser Vorort Nanterre im Zuge einer Verkehrskontrolle. Der Fall sorgt für große Aufregung und entfachte eine erneute Debatte über Gewalt und Rassismus in der französischen Polizei und führte in den darauffolgenden Tagen zu landesweiten Protesten, Ausschreitungen und Gewaltakten.

Nahel Merzouk

Der zum Todeszeitpunkt 17-jährige Nahel Merzouk war polizeibekannt, unter anderem wegen fünfmaligen Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte (seit 2021, zuletzt eine Woche vor seinem Tod). In der Gerichtsakte des algerisch-französischen Jugendlichen, die 15 Eintragungen bzw. Fälle umfasst, sind auch die Verwendung falscher Nummernschilder, das Fahren ohne Versicherung, der Verkauf und Konsum von Drogen[1][2] und Hehlerei dokumentiert.[3] Er war nicht vorbestraft,[4] hätte aber im September 2023 vor Gericht erscheinen müssen.[3]

Polizist

Der Polizist, der den tödlichen Schuss abgegeben hat, Florian M., war zum Zeitpunkt der Tat 38 Jahre alt und diente zuvor in Afghanistan. Er ist wegen vorsätzlicher Tötung angeklagt und wurde am 29. Juni 2023 in Untersuchungshaft genommen, da die Voraussetzungen für den Waffeneinsatz nicht erfüllt gewesen seien.[5]

Hergang

Nach Angaben der Staatsanwaltschaft Nanterre bemerkten zwei Motorradfahrer der Polizei (Direction de l’ordre public et de la circulation (DOPC)) nach Übernahme ihrer Schicht einen Mercedes-Benz AMG der A-Klasse mit polnischem Kennzeichen, der mit hoher Geschwindigkeit auf der Busspur fuhr und von einer Person in offensichtlich jungem Alter gesteuert wurde. Die Motorradfahrer aktivierten ihre Sondersignalanlagen und forderten den Fahrer an einer roten Ampel auf, zu parken. Der Fahrer überfuhr dann die rote Ampel. Die Polizisten verfolgten das Auto und meldeten den Vorfall. Der Fahrer des Fahrzeugs beging mehrere Verkehrsverstöße, gefährdete einen Fußgänger und einen Radfahrer. Wegen eines Staus musste das Fahrzeug schließlich anhalten.[6] Die abgestiegenen Polizisten befahlen dem Fahrer stehenzubleiben, richteten ihre Waffen auf ihn und forderten ihn auf, die Zündung auszuschalten.[7] Als er der polizeilichen Aufforderung nicht Folge leistete (refus d’obtempérer), sondern anfuhr, gab einer der beiden Polizisten einen Schuss ab, der den Fahrer im Brustkorb traf. Das Fahrzeug fuhr noch ein Stück weiter und kollidierte mit einem Stadtmöbel. Die hinten sitzende Person wurde beim Aussteigen aus dem Wagen festgenommen; der Beifahrer flüchtete. Der Polizist, der den Schuss abgegeben hatte, leistete dem Fahrer Erste Hilfe. Dessen Tod wurde um 9:15 Uhr festgestellt.[8]

Nach ersten Angaben der Polizei hatte ein Beamter einen Schuss abgegeben, während der junge Autofahrer auf ihn zugefahren war. Diese von der Gewerkschaft Unité SGP Police-Force Ouvrière unter Berufung auf Notwehr übernommene Version wurde obsolet, nachdem ein Video in den Sozialen Medien veröffentlicht worden war, das zeigt, dass einer der Beamten mit der Waffe in Höhe des Fahrertürfensters auf den Fahrer des Wagens zielte, wobei er seinen linken Ellenbogen an der vorderen Ecke des Fahrertürfensters abstützte und seine linke Taille seitlich an die Motorhaube drückte. Der Polizist schoss, als der Fahrer anfuhr.[9][10]

Ausschreitungen

Brennender Pkw in Champigny-sur-Marne (30. Juni 2023)

Es kam noch am selben Tag zu gewalttätigen Ausschreitungen. Diese weiteten sich bald auf mehrere französische Städte und auch auf die belgische Hauptstadt Brüssel aus. Bei den Unruhen wurden bis Ende Juni 522 Polizisten verletzt und 875 Menschen festgenommen.[11] Daraufhin entschied die Regierung unter Präsident Emmanuel Macron, bis zu 45.000 zusätzliche Polizisten zu mobilisieren. Macron erklärte, dass der Schuss des Polizisten nicht zu erklären oder entschuldigen sei.[12] Von Seiten der Opposition wurde der Regierung vorgeworfen, zu schwach zu regieren, unter anderem da diese sich weigerte, einen Ausnahmezustand zu verhängen.[13] Die Großmutter des 17-Jährigen rief die Randalierenden zur Ruhe auf und sagte, sie nutzen Merzouk als Vorwand.[14]

Auch in der Nacht zum 1. Juli kam es erneut zu Gewalt, Bränden und Plünderungen; z. B. in Lyon, Marseille und Grenoble,[15] 1311 Menschen wurden festgenommen.[16] Dem französischen Innenministerium zufolge sind in jener Nacht 1350 Autos ausgebrannt und es habe 2650 Brände auf öffentlichen Straßen gegeben.[17] Jedoch nahmen nach der Beerdigung von Nahel Merzouk die Proteste ab.[18]

Zusätzlich zu den Hunderten von Verletzten starben bei den Unruhen zwei Menschen: ein unbeteiligter Mann durch einen Schuss, der aus den Reihen von Plünderern abgeben wurde, und ein Jugendlicher, der vom Dach eines Supermarktes stürzte.[19][20][21]

In der Nacht vom 1. auf den 2. Juli kam es zu einem Angriff auf das Tor des Hauses des Bürgermeisters in L’Haÿ-les-Roses, Vincent Jeanbrun. Die unbekannten Täter durchbrachen mit einem Auto das Tor zum Grundstück, anschließend setzten sie das Fahrzeug und einige Mülltonnen in Brand. Jeanbruns Frau und seine beiden Kinder wurden auf der Flucht mit Feuerwerkskörpern angegriffen und dabei zum Teil verletzt.[22][23][24] Die Staatsanwaltschaft nahm Ermittlungen wegen Mordversuchs auf.[25]

Das Mémorial des Martyrs de la Déportation auf der Île de la Cité, das der 200.000 während des Zweiten Weltkriegs in Konzentrationslagern ermordeten französischen Deportierten gedenkt, wurde von Randalierern mit Sprüchen wie „Wir werden mit euch eine Shoah veranstalten!“ («on va vous faire une Shoah») beschmiert.[26]

Spendenaktionen

Nachdem für die Familie des Getöteten ein Spendenkonto eingerichtet worden war, richtete Jean Messiha, der Gründer des rechten Think Tanks Institut Apollon,[27] und Unterstützer des rechtsextremen Politikers Éric Zemmour (Reconquête), ein Spendenkonto für den tatverdächtigen Polizisten ein. Die gesellschaftskonservative Zeitung Le Figaro berichtete, Messiha habe mit der Aktion in Konkurrenz zu dem Spendenaufruf treten wollen.[14][28]

Commons: Tötung von Nahel Merzouk – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. INFO EUROPE 1 - Mort de Nahel: l'adolescent connu pour 15 mentions au fichier des antécédents judiciaires. 28. Juni 2023, abgerufen am 1. Juli 2023 (französisch).
  2. A Nanterre, un ado de 17 ans tué par la police lors d’un contrôle routier: ce que l’on sait des faits. 27. Juni 2023, abgerufen am 1. Juli 2023 (französisch). (ado ist eine Abkürzung für adolescent)
  3. a b Niklas Bender: Wie aber hältst du’s mit der Repression? In: FAZ.net. 1. Juli 2023, abgerufen am 3. Juli 2023.
  4. Paul Kirby: France shooting: Who was Nahel M, shot by French police in Nanterre? In: bbc.com. 29. Juni 2023, abgerufen am 3. Juli 2023 (englisch).
  5. Mort de Nahel, 17 ans, à Nanterre: Ouverture d'une information judiciaire pour homicide volontaire, les conditions d'usage de l'arme du policier n'étaient "pas réunies" indique le procureur, L’Indépendant online, 29. Juni 2023.
  6. Niklas Bender: Wie aber hältst du’s mit der Repression? In: FAZ.net. 1. Juli 2023, abgerufen am 3. Juli 2023: „Bereits ein Dutzend Mal war er festgenommen worden, wegen Fahrens ohne Führerschein und Versicherung, Verwendens falscher Nummernschilder, Drogenbesitzes, Hehlerei und Widerstands gegen die Staatsgewalt – und gleich vier Mal wegen des Nichtbefolgens polizeilicher Anordnungen“
  7. Mort de Nahel: le récit de la course-poursuite, minute par minute, lefigaro.fr, 29. Juni 2023 (französisch)
  8. Mort de Nahel: le procureur de Nanterre détaille le déroulé des faits. In: bfmtv.com. 29. Juni 2023, abgerufen am 1. Juli 2023 (französisch).
  9. Nanterrre: Polizist erschießt 17-Jährigen - schwere Krawalle bei Paris, sueddeutsche.de, 28. Juni 2023, abgerufen am 3. Juli 2023, Zitat: „Ein vom Sender France Info verifiziertes Video zeigt, wie einer der Beamten seine Waffe auf Höhe der Fahrertür auf das stehende Auto richtete. Die Situation scheint unter Kontrolle zu sein, hektische Bewegungen sind nicht zu erkennen. Als der 17-Jährige am Steuer plötzlich losfährt, feuert der Beamte aus nächster Nähe auf den Jugendlichen und trifft ihn tödlich in die Brust.“
  10. Nahel M. tué par un policier à Nanterre: les images du drame, lemonde.fr, 28. Juni 2023, abgerufen am 3. Juli 2023
  11. Emeutes en France: 875 interpellations, selon un nouveau bilan Emeutes en France: Emmanuel Macron reporte sa visite en Allemagne, prévue ce dimanche, CNews, 1. Juli 2023 (französisch)
  12. "Nicht zu erklären und nicht zu entschuldigen". In: tagesschau.de. 29. Juni 2023, abgerufen am 2. Juli 2023.
  13. Laura Kayali und Paul de Villepin: France braces for more violence with armored vehicles, extra cops deployed. Politico, 30. Juni 2023, abgerufen am 2. Juli 2023 (englisch).
  14. a b n-tv NACHRICHTEN: Franzosen überschütten Polizisten mit Geld. Abgerufen am 2. Juli 2023.
  15. Wieder Plünderungen und brennende Autos, tagesschau.de, 1. Juli 2023.
  16. Trauerfeier für 17-Jährigen - Weitere Unruhen in Frankreich. In: stern.de. 1. Juli 2023, abgerufen am 3. Juli 2023.
  17. Bei Unruhen in Frankreich über 1300 Autos ausgebrannt, SWI swissinfo.ch, 1. Juli 2023.
  18. Benoit Van Overstraeten, Horaci Garcia: Sporadic violence, but calmer night in France after family buries teenager. Reuters, 15. April 2013, abgerufen am 2. Juli 2023 (englisch).
  19. Mort de Nahel: en Guyane, un homme décède en marge des émeutes, Huffington Post, 30. Juni 2023.
  20. Un jeune homme qui participait aux émeutes est mort, INFO RTL, 30. Juni 2023 (französisch)
  21. Emeutes dans les banlieues: le jeune homme blessé durant une attaque est décédé, Nice-Matin, 30. Juni 2023 (französisch)
  22. French PM slams 'particularly shocking' attack on mayor's home. In: France 24. 2. Juli 2023, abgerufen am 2. Juli 2023 (englisch).
  23. Paris riots: Suburban mayor's wife hurt as rioters attack their home. In: BBC News. 2. Juli 2023, abgerufen am 2. Juli 2023 (englisch).
  24. Krawalle in Frankreich - Haus eines Bürgermeisters angegriffen – Frau und Kind verletzt. In: srf.ch. 2. Juli 2023, abgerufen am 3. Juli 2023.
  25. Frankreich: Randalierer attackieren Haus eines Kommunalpolitikers. In: deutschlandfunk.de. 2. Juli 2023, abgerufen am 3. Juli 2023.
  26. Memorial to Holocaust victims, WWII resistance defaced during riots in France, timesofisrael.com, 1. Juli 2023, abgerufen am 3. Juli 2023
  27. Jean Messiha explique son départ de Reconquête: «Je reprends mes activtées intellectuelles à l'institut Apollon». In: CNews. 28. April 2022, abgerufen am 3. Juli 2023 (französisch).
  28. Mort de Nahel: une cagnotte de soutien au policier auteur du tir dépasse les 200.000 €, Le Figaro, 1. Juli 2023 (französisch)