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Reform der deutschen Rechtschreibung von 1996/Pro und Kontra

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Dieser Artikel ist seiner Länge wegen aus dem Artikel Reform der deutschen Rechtschreibung von 1996 ausgelagert; er resümiert die Argumente, die in der öffentlichen Debatte für und gegen die Rechtschreibreform angeführt wurden.

Den Regeln der Wikipedia entsprechend, ist dieser Artikel nicht als Diskussionsforum gedacht. Es sollen vielmehr stichhaltige Argumente einer über viele Jahre geführten öffentlichen Diskussion in möglichst kompakter und nüchterner Weise übersichtlich dargestellt werden. Es sollen nur sprachwissenschaftlich vertretbare Argumente referiert werden.

Zum Inhalt der Reform, also den einzelnen Neuregelungen der deutschen Rechtschreibung, siehe Reform der deutschen Rechtschreibung von 1996. Zum Zustandekommen der Reform, zur Chronologie der öffentlichen Auseinandersetzung, zum Stand der Umsetzung und zu Plänen einer Reform der Reform, siehe Geschichte der deutschen Rechtschreibung.

Zu Ziel und Zweck der Reform

Vereinfachung des Schreibenlernens

Erklärtes Ziel der Rechtschreibreform war, das Schreiben und das Schreibenlernen zu erleichtern. Einige Regeln der alten Rechtschreibung seien so kompliziert gewesen, dass sie selbst von gut ausgebildeten Schreibern nicht sicher beherrscht würden.

Dagegen wird eingewandt, dass die allermeisten Bürger erheblich mehr lesen als schreiben und Texte im übrigen sehr viel häufiger gelesen als geschrieben werden. Bequeme Lesbarkeit sei also wesentlich wichtiger als erleichterte Schreibbarkeit.

Aufbrechen des Dudenmonopols

Sprachwissenschaftler, auch in der Dudenredaktion selbst, waren unglücklich über die 1955 erfolgte Beauftragung der Dudenredaktion mit der Regelung von Zweifelsfällen der deutschen Rechtschreibung (siehe Geschichte der deutschen Rechtschreibung: Reform von 1996).

Der derzeitige Vorsitzende der Zwischenstaatlichen Kommission, Karl Blüml, zugleich Mitarbeiter des "Österreichischen Wörterbuchs" (!), äußerte 1998: "Das Ziel der Reform waren gar nicht die Neuerungen. Das Ziel war, die Rechtschreibregelung aus der Kompetenz eines deutschen Privatverlags in die staatliche Kompetenz zurückzuholen" [Der Standard, Wien, 31.01./01.02.1998, S. 13].

Vonseiten der Kritiker der Rechtschreibreform wurde diese Behauptung jedoch als Scheinargument gewertet: Bertelsmann, einige deutsche Schulbuchverlage und der Dudenverlag selbst hätten ein enormes wirtschaftliches Interesse an der Rechtschreibreform gehabt. Einer der Rechtschreibreformer war zum Beispiel der Leiter der Dudenredaktion, Professor Günther Drosdowski.

Zum Zustandekommen der Reform

Kritiker werfen der Kultusministerkonferenz vor, dass die Zusammensetzung der Kommission der Sache nicht dienlich gewesen sei, indem ihr zahlreiche Fachleute angehörten, die in ihrem Fach für isolierte und ungewöhnliche Meinungen bekannt sind.

Günther Drosdowski urteilte über die Rechtschreibkommission: "ein Rüpelstück schon allein die Besetzung". Drosdowski jedoch ist für den Duden verantwortlich, dessen Monopol durch die Reform durchbrochen wurde.

Anfang 2003 wurde in der Süddeutschen Zeitung darauf hingewiesen, dass einige Mitglieder der Kommission ein wirtschaftliches Interesse an der Rechtschreibreform hatten.

Zudem habe sich die Politik zu eilig dazu hinreißen lassen, weil der Bertelsmann-Verlag bereits dadurch Tatsachen geschaffen hatte, dass er bereits vor der Unterzeichnung des Wiener Abkommens die Auflage fertig gedruckt hatte. Außerdem habe die Politik die Zusage gebrochen, dass die Reform zurückgenommen werde, sobald in einem Bundesland die Rechtschreibreform per Volksentscheid gekippt würde.

Argumente gegen die Rechtschreibreform von 1996

Deskription contra Präskription: Die Reformkritiker wenden sich gegen die Sprachnormung bzw. Präskription, d.h. gegen die willkürlichen und undemokratischen Eingriffe der Reformer in die Rechtschreibung und damit in die natürliche Sprachentwicklung. Sie fordern die Beibehaltung der bisherigen Methode der Deskription, d.h. eine differenzierte Beschreibung des Sprach- bzw. Schreibgebrauchs (Usus).

Kulturelle Kontinuität: jede Rechtschreibreform schafft - zusätzlich zum Zahn der Zeit und nicht derselben Weise - Distanz zwischen uns und unserem kulturellen Erbe: alte Bücher werden der mit der Rechtschreibreform aufgewachsenen Generation noch älter erscheinen, als sie es aus stilistischen und inhaltlichen Gründen tun, weil auch die Schreibweise antiquiert erscheinen wird. Neuauflagen in neuer Rechtschreibung lösen dieses Problem, schaffen dabei aber ein neues, größeres, wenn Ausdrucksnuancen verändert werden.

Biographische Kontinuität: eine Rechtschreibreform bedeutet einen Eingriff in die Beziehung eines Lesers zu seiner Sprache. Der Schriftsteller Reiner Kunze spricht von der Aura der Wörter:

Das Wort besitzt eine Aura, die aus seinem Schriftbild, seinem Klang und den Assoziationen besteht, die es in uns hervorruft, und je wichtiger und gebräuchlicher ein Wort ist, desto intensiver und prägender ist diese Aura. Wer sie zerstört, zerstört etwas in uns, er tastet den Fundus unseres Unbewußten an. Wird man also ständig mit Wörtern konfrontiert, deren Aura zerstört ist, weil sie zerschnitten sind (»weit gehend« statt »weitgehend«), weil sie so, wie sie jetzt geschrieben werden, anders klingen (»Anders Denkende« statt »Andersdenkende«) oder weil man ihnen eine Packung von drei »s« verpaßt und ihnen dann eine Spreizstange eingezogen hat (»Fluss-Senke«), dann ist die Wahrnehmung dieser Zerstörung jedesmal ein Mikrotrauma, eine winzige psychische Läsion, was auf die Dauer entweder zu Sprachdesensibilisierung, Abstumpfung und Resignation oder zu zunehmend unfreundlicheren Gefühlen denen gegenüber führt, die das alles ohne Not verursacht haben.

In ähnlichem Sinne äußerten sich schon Wittgenstein und Grillparzer zu früheren Rechtschreibreformen.

Ästhetische Argumente: Eine alte Schreibweise sei schlicht und einfach schöner gewesen als eine neue. Dieses Argument wurde 1901 gegen den Wegfall des h in Athem und Heimath angeführt; 1996 richtete es sich vor allem gegen die ss-ß-Neuregelung, gegen Dreifachbuchstaben, die Ersetzung von ph durch f ("Katastrofe") und gegen einzelne Änderungen von e in ä.

Ausgrenzung einzelner Bevölkerungsgruppen: Behindertensysteme, die Letterntexte in so genannter Blindenschrift oder akustische Ausgaben umwandeln, arbeiten nach festen Regeln und Wörterlisten. Die Rechtschreibreform erfordert eine Anpassung oder komplette Neuprogrammierung dieser Systeme, was oft an der Finanzierungsfrage scheitert. Die Gruppe der Sehbehinderten, die auf diese Systeme angewiesen ist, wird damit stark benachteiligt und muss eine mangelhafte Abbildung neuer Texte hinnehmen.
Beispiel: ich mußte -> neue Schreibung: ich musste -> akustische Ausgabe: ich Mus Schte

Interkulturelle Diskontinuität: Reformkritiker argumentieren, das Ansehen des Deutschen als Fremdsprache habe durch die kontrovers geführte Diskussion um die Rechtschreibreform und die als undemokratisch bewertete Einführung des neuen Regelwerks im Ausland stark gelitten.
Viele ausländische Universitäten, vor allem im osteuropäischen und asiatischen Raum, können sich ein Umstellen des Lehrmaterial-/Buchbestandes auf die neue Rechtschreibung finanziell nicht leisten und sind daher gezwungen, mit Lehrwerken in der hergebrachten Rechtschreibung zu arbeiten. Umgekehrt sehen sich die ausländischen Studierenden mit dem neuen Regelwerk konfrontiert, so werden Zugangstests in der neuen Rechtschreibung abgehalten (Test Deutsch als Fremdsprache, TestDaF). Die Schaffung einer Vielzahl von Kann-Regeln, die sowohl die hergebrachte als auch eine neue Schreibung erlauben, erhöht den Lernaufwand für Nicht-Muttersprachler.
Das Interesse, Deutsch als Fremdsprache zu wählen, hat damit teilweise drastisch abgenommen, meist zugunsten des Englischen.

Zur Grundsatzentscheidung gegen eine durchgehend etymologisch begründete Rechtschreibung

Der Richtungsstreit zwischen etymologisch begründeter und phonetisch ableitbarer Schreibung durchzieht die gesamte Geschichte der deutschen Rechtschreibung.

Besonderes Unverständnis rief jedoch die von Herrn Augst propagierte Pseudostammschreibung hervor, wonach nicht die tatsächliche Etymologie entscheidend ist, sondern, welche Etymologie ein ungebildeter und ungeübter Schreiber vermuten würde. Die Pseudostammschreibung nach Augst wurde in der Rechtschreibreform in einigen Einzelfällen umgesetzt.

Zur Grundsatzentscheidung für die Freigabe alternativer Schreibweisen

Schon immer gab es Rechtschreibfragen, die auf Grundlage der amtlichen Regeln nicht eindeutig beantwortet werden konnten; im Zweifel stand dem Schreiber frei, sich nach seinem Gutdünken für eine der möglichen Schreibungen zu entscheiden. In der reformierten Schreibung gibt es nun ganze Klassen von Fällen, in denen Alternativschreibungen zur Auswahl stehen (insbesondere bei der Schreibung von Fremdwörtern, bei der Groß- und Kleinschreibung, bei der Getrennt- und Zusammenschreibung, bei der Schreibung mit Bindestrich, bei der Interpunktion und bei der Trennung am Wortende). Mit jeder Revision der reformierten Schreibung wächst die Zahl zulässiger Alternativen weiter an.

Manche Kritiker sehen darin einen Verlust an Einheitlichkeit der geschriebenen Sprache. Andererseits wird unter allen Einzelregelungen der Rechtschreibreform am heftigsten die Vereinheitlichung der Getrennt- und Zusammenschreibung beanstandet, die nach Meinung der Kritiker einen Verlust an Ausdrucksmöglichkeiten bedeutet.

Allerdings geben Alternativen Schreibern auch demokratische Mittel in die Hand, innerhalb eines Übergangszeitraums über die sinnvollste Schreibweise zu entscheiden, indem sie sich mit der Zeit einbürgert. Der Schreiber erhält durch die Alternativen also die Chance, weniger gute Schreibweisen durch bessere zu ersetzen. Ob er sie annimmt, ist ihm selbst überlassen.

In diesem Zusammenhang ist interessant, dass einer der profiliertesten Kritiker der Rechtschreibreform, Prof. Theodor Ickler, darauf hinweist, dass die alte Rechtschreibung wesentlich mehr Alternativschreibungen zuließ, als den meisten Schreibern bewusst war:

Was die Grammatik erlaubt, kann die Orthographie nicht verbieten. Das ist der Kernsatz einer richtigen Dudenexegese. [...] Einmal aufmerksam geworden, entdeckt man, daß fast alle Dudenregeln Kann-Bestimmungen sind, Spielräume eröffnen. [...] Fast alle Bedenken, die man gegen Widersprüche und Haarspaltereien des Duden vorgebracht hat, lassen sich nach dem Prinzip der wohlwollenden Interpretation beseitigen. [Fetisch der Norm. In: FAZ 14.11.97, S. 41].

Das gilt auch nach der Rechtschreibreform. Die Rechtschreibreform beinhaltet Regeln und Wortlisten. Die Wortlisten können nicht vollständig sein. Im Zweifelsfall werden sie durch Regeln ergänzt. "Sciencefiction" ist der Wörterbucheintrag. Beispiel: Nach den Regeln kann man aber auch richtig schreiben: "Science-Fiction", obwohl es nicht im angegebenen Wörterverzeichnis steht. Ähnliches ist der Fall bei den Kommaregeln. Sie geben an, wo ein Komma stehen soll, und wo keines zu stehen braucht. Bei wohlwollender Auslegung kann man weiterhin Kommas schreiben, um die Satzstruktur leichter verständlich zu machen, also auch dort, wo es nicht mehr nötig ist.

Zu einzelnen Regelungen

Laute und Buchstaben

Die Änderung von Laut-Buchstaben-Zuordnungen führte zahlreiche Änderungen oder Alternativen ein. Diese wurden teilweise mehr, teilweise weniger akzeptiert.

ss-ß-Schreibung und Dreifachbuchstaben

Die Umstellung der Schreibung von ß und ss hat von allen Teilen der Rechtschreibreform die augenfälligste Änderung des Schriftbildes mit sich gebracht; allerdings ist es auch die einzige Regel, die Lehrer konsequent korrigieren, und die von Befürwortern der Rechtschreibreform konsequent angewandt wird. Zur heftigen technischen Kritik an der Neuregelung gesellt sich Protest gegen die Umstellung des gewohnten Schriftbildes an sich (siehe oben: Einwände gegen jede Rechtschreibreform).

Die Neuregelung der ss-ß-Schreibung ist ein Kompromiss der Reformer, die ursprünglich das ß ganz abschaffen wollten, und gibt vor, vereinfachen zu wollen: der alte Merkspruch: "ss am Schluss bringt nur Verdruss" wird abgeschafft. Der Neuregelung zufolge steht ss immer da, wo bisher nach kurzem Vokal ß stand, ß selber steht nur noch nach langem Vokal. Allerdings wird der Lernaufwand nicht wesentlich geringer, denn die Regel greift nur dort, wo früher ß stand. Der Schreiber muss weiterhin wissen, wann er s am Wortende schärfen muss: so schreibt sich weiterhin Verständnis, Bus, die Last, aber Kompromiss, muss, lasst!.

Befürworter argumentieren, Wörter blieben als solche bewahrt: lassen --> er lässt statt er läßt. Doch hier hat sich das - angebliche - Problem nur verschoben. So sieht die Reform gießen --> er goss statt er goß vor, während anderes gar nicht erst berührt wird (essen - er aß).

Die ss-ß-Schreibung sei zu einer der Hauptfehlerquellen von Anwendern der rechtschreibreformierten Regeln geworden (siehe Prof. Harald Max: Rechtschreibleistung vor und nach der Rechtschreibreform: was ändert sich bei Grundschulkindern?): die neue Erklärung setze nur noch phonologisch an und leite so zu Fehlschreibungen wie "Verständniss". Man habe zusätzlich die Wahlmöglichkeit - und damit die Unsicherheit - der Schreibenden vergrößert. Wo früher am Wortende Auswahl zwischen zwei Schreibweisen (s oder ß: Bus – Kuß) war, gelte es jetzt, zwischen drei Schreibweisen unterscheiden zu müssen (s, ss oder ß: Las – Bass – Maß). Die Zufallstrefferquote werde von 50% auf 33% vermindert, zumal je nach Dialekt, Soziolekt oder Idiolekt lange und kurze Vokale nicht treffsicher unterschieden werden könnten (ist das kurz oder lang?). Dabei blieben die Hauptprobleme, die durch die Regel beseitigt werden sollen, bestehen: man müsse weiterhin zwischen das und dass unterscheiden, ebenso wie bei ist und isst. Im Gegenteil, hier verschärfe sich das Problem, denn die Verwechslungsgefähr sei wegen der nun noch ähnlicheren Wortbilder größer.

Auch wird eine der wichtigsten Funktionen des ß verkannt und zerstört: der Silbenfuge. Wörter wie Missstand sind nicht nur wegen fehlender Ästhetik kritisiert worden, sie sind angeblich auch zweifellos schwerer zu lesen. Die Schreibung von Meßergebnis als Messergebnis zwinge den Leser, das Wort zweimal zu lesen, denn die erste Lesung ist automatisch Messer-gebnis. Dem ist freilich entgegenzuhalten, dass Wörter niemals einzeln gelesen werden, sondern immer in Gruppen. Außerdem war auch bisher schon bei vielen Wörtern die Bedeutung nur aus dem Zusammenhang zu erschließen (so bei "Schloß"/"Schloss"). - Das ß als Verhinderung der Trennung als s-s fällt weg, so trennen Computerprogramme nun Mes-sergebnis statt Meß-ergebnis - was aber nur bedeutet, dass diese Programme verbessert werden müssen. Da es in der Schweizer Rechtschreibung ohnehin kein ß gibt, hat außerdem für die Programme das Problem auch schon vor der Reform bestanden.

Umlautschreibung zur Stärkung des Stammprinzips

Die Änderung von e in ä in einzelnen Wörtern soll das Stammprinzip verstärken und damit Schreibweisen ableitbar machen. Dies wurde auch vor der Reform in vielen Fällen beachtet, die Reform war aber um weitere Vereinheitlichung bemüht, um weitere Ausnahmefälle abzubauen.

Gegen die Änderung von e in ä wird argumentiert, dass in einigen besonderen Fällen die Unterscheidbarkeit eines Wortpaars aufgehoben wird: aufwendig von Aufwand gegenüber aufwändig für auf der Wand, greulich von grausam zur Unterscheidung von gräulich von grau. Diese Fälle sind in ihrer Zahl gering, kommen aber relativ häufig vor.

Weitere Kritik richtet sich insbesondere gegen Fälle, in denen eine Volksetymologie legitimiert (oder durch die Reform erst suggeriert) wird (belämmert zu Lamm, schnäuzen zu Schnauze, einbläuen von blau).

Befürworter entgegnen, dass es für die Erlernbarkeit irrelevant sei, ob die Schreibweise auf historisch korrekter Etymologie beruhe (dazu oben: zur Grundsatzentscheidung gegen eine durchgehend etymologisch begründete Rechtschreibung). Sie sehen darin eine Anpassung an den Sprachgebrauch und somit eine Vereinfachung.

Fremdwörter

Begrüßt wurde von einigen die Möglichkeit, Endungen wie -graphie fortan als -grafie zu schreiben. Hierdurch wird nach Meinung der Reformbefürworter der Lesefluss erleichtert.

Beanstandet werden Mischformen aus etymologischer und eingedeutschter Schreibung: Orthografie mit th, aber ohne ph. Warum "ph" als etymologisch anzusehen sei, wird jedoch fraglich, wenn man bedenkt, dass dieser Laut im Griechischen Alphabet mit einem einzigen Zeichen dargestellt wird, wobei er in klassischer Zeit überdies als [ph] und nicht wie heute im Deutschen als [f] artikuliert wurde.

Ein weiterer Einwand der Gegner ist, dass durch die weit gehend phonetische Schreibung von Fremdwörtern und damit die Vergrößerung der Distanz zwischen ursprünglichem und deutschem Wort das Bildungsniveau noch weiter gesenkt werde. Reformbefürworter unterstellen da, dass solche Kritiken in ihrem Wesen als Gesellschaftspessimismus zu bezeichnen seien, der sich nur an sprachlichen Einzelheiten manifestiere, aber mit der Sprache und deren Verschriftung eigentlich nichts zu tun habe.

Zu begrüßen ist im Prinzip, dass es nicht Sache der deutschen Sprache sein kann, alle Fremdwörter immer so wie in der Gebersprache zu schreiben. Überdies gibt es seit längerer Zeit Beispiele von erfolgreicher grafischer Eindeutung, vgl. Keks aus engl. cakes, Streik aus engl. strike, Plüsch aus französ. peluche usw. Die Reform führt also diese Linie weiter.

Dagegen kann man argumentieren, dass die deutsche Sprache sich durch diese Eindeutschungen aus dem Verband der anderen westeuropäischen Kultursprachen Französisch und Englisch verabschiedet, die beide ebenfalls das Prinzip der etymologischen Schreibung von Fremdwörtern kennen, dies im Gegensatz zu anderen europäischen Sprache wie etwa Italienisch (vgl. dittongo "Diphthong", teatro "Theater" usw.).

Groß- und Kleinschreibung

Die Rechtschreibreform fördert die Großschreibung vieler Wörter, dies jedoch in sehr unsystematischer Weise:

  • heute früh, aber heute Abend
  • die Übrigen, aber die anderen

Dem Lernenden bleibt nichts, als solche Fälle nunmehr Fall für Fall zu unterscheiden. In vielen Fällen entstanden schwere Grammatikfehler, oder es gingen sogar Bedeutungsunterscheidungen verloren:

  • Bei Abend in Heute Abend handelt es sich um kein Substantiv. Für die Großschreibung gibt es keinen Grund.
  • Leid tun (Leid zufügen) ist etwas anderes als leid tun (Mitleid empfinden). Die Reformer meinen, dieses Problem in einer Revision der Reform dadurch beseitigt zu haben, indem sie beide Formen und zusätzlich noch leidtun erlaubten. Allerdings verschlimmert dies das Problem, denn Leid tun kann immer noch für Mitleid empfinden geschrieben werden und bleibt in dieser Bedeutung weiterhin falsch. Dies und das zusätzliche leidtun (das die Regeln noch beliebiger macht) untergraben das Sprachgefühl des Schreibenden.

Getrennt- und Zusammenschreibung

Die Getrennt- und Zusammenschreibung war bisher nicht amtlich geregelt, sondern beruhte auf Einzelentscheidungen und Wörterbucheinträgen der Dudenredaktion, die diese erst später zu systematisieren versucht hat. Tendenziell sollte bei "wörtlichem" Gebrauch getrennt, bei "übertragenem" Gebrauch zusammen geschrieben werden: Die Besucher sind stehen geblieben (= standen weiterhin), aber Die Besucher sind stehengeblieben (= haben einen Halt gemacht).

Nach Meinung der Reformer war diese Regelung unübersichtlich, kompliziert und unsystematisch.

Als Beispiel für die Willkürlichkeit der bisherigen Regelung wird häufig das Beispiel Auto fahren aber radfahren genannt. Reformgegner antworten, dieses Beispiel beruhe auf einem Missverständnis: bei "richtiger Dudenexegese" [Ickler] habe man daraus, dass nur radfahren, nicht aber autofahren einen eigenen Wörterbucheintrag gehabt habe, keineswegs darauf schließen müssen, dass man je nach Kontext nicht auch autofahren und Rad fahren habe schreiben dürfen (siehe dazu oben: zur Grundsatzentscheidung für die Freigabe alternativer Schreibweisen).

In der Neuregelung wird nicht mehr auf Bedeutungsunterschiede, sondern allein auf grammatische Kategorien abgestellt. Von allen Entscheidungen der Rechtschreibreform hat diese wohl die meiste Kritik auf sich gezogen.

Kritiker nennen zahlreiche Fälle, in denen die nach alter Rechtschreibung zusammen und die getrennt geschriebene Variante unterschiedliche Bedeutungen haben: sitzenbleiben (nicht versetzt werden) aber sitzen bleiben (nicht aufstehen); badengehen (einen Misserfolg haben) aber baden gehen (schwimmen gehen); Schwerbeschädigt aber schwer beschädigt; weiter entwickeln (andauernde Entwicklung) oder weiterentwickeln (Fortschritt). In einigen Fällen stehen die beiden Varianten sogar für ziemlich entgegengesetzte Bedeutungen: schöngefärbt contra schön gefärbt; wohlbekannt contra wohl bekannt.

Es wird kritisiert, dass die Abschaffung der unterschiedlichen Schreibweisen beim Lesen zu Missverständnissen und beim Schreiben zum Verlust an Ausdrucksmöglichkeiten führe.

Reformbefürworter argumentieren, die Bedeutung ergebe sich aus dem Kontext. In Präsens und Präteritum komme man ja auch ohne Unterscheidung von Getrennt- und Zusammenschreibung aus: er blieb sitzen.

Reformbefürworter argumentieren weiterhin, auch in der gesprochenen Sprache gebe es keinen Unterschied zwischen Getrennt- und Zusammenschreibung. Dieses Argument ist jedoch nicht für alle Muttersprachler nachvollziehbar, da sie z. T. kleine Sprechpausen bei Getrenntschreibung machen oder beide Varianten unterschiedlich betonen.

Soweit Reformgegner anerkennen, dass die reformierten Regeln vom phonetischen Standpunkt her vertretbar sind, bleibt ihnen die Argumentationslinie, die geschriebene Sprache sei nicht einfach nur ein Abbild der gesprochenen Sprache, sondern ein System eigenen Rechts: Unterscheidungen, die man in der gesprochenen Sprache nicht höre, könnten nichtdestoweniger in der Schriftsprache sinnvoll sein.

Schreibung mit Bindestrich

In diesem Punkt ist der Anspruch der Reform, die "Regelung der deutschen Rechtschreibung den heutigen Erfordernissen anzupassen", vergleichsweise leicht nachvollziehbar: die zunehmende Komplexität der heutigen Lebensverhältnisse bringt immer neue, oft mehrgliedrig zusammengesetzte Wörter mit sich. Die Möglichkeit, zusammengesetzte Wörter mit einem Bindestrich in Sinn-Einheiten zu gliedern, kann bei vernünftigem Gebrauch das Lesen erleichtern; sie bereichert die Ausdrucksmöglichkeiten unserer Schriftsprache.

Unverständlich ist nur das Wegfallen des Bindestrichs, wenn drei Vokale bei einem Kompositum auftreten. Man vergleiche das deutlich schneller erkennbare, alte "Kaffee-Ersatz" mit dem neuen "Kaffeeersatz", bei dem die Silbentrennung bzw. Sprechpause in mitten der "e" nicht sofort erkannt werden kann.

Zeichensetzung

Die gelockerte Kommasetzung der rechtschreibreformierten Schreibweise vereinfacht das Schreiben und erschwert das Lesen. Sie wird von vielen Lesern als ermüdend empfunden, da die Unterteilung längerer Sätze in logische Einheiten nicht mehr durchgehend durch Kommata erfolgt und aus dem Zusammenhang rekonstruiert werden muss. Gerade die für die deutsche Sprache typischen Schachtelsätze sind oft kaum noch zu verstehen. Allerdings ist das Setzen von Kommas teilweise nicht verboten, sondern dem Schreiber überlassen. Zur Verdeutlichung der Satzstruktur können auch nach der Reform Kommas gesetzt werden.

Wenn man Kommas weg lässt, ergeben sich auch echte Mehrdeutigkeiten:

  • Der Lehrer empfahl dem Schüler nicht zu widersprechen.
  • Ich bereue es nie meinen Namen geändert zu haben.

Worttrennung

Im Bereich der Worttrennung hat es recht wenige Änderungen gegeben. Am auffälligsten sind der Wegfall des s-t-Trennungsverbots ("Trenne nie ST, denn es tut ihm weh!") und die Neuerung bei ck. Hat ersteres wohl mit dem Setzen der Bleilettern in der Druckerei zu tun gehabt, bei dem es für "st" eine einzelne Letter gab, und ist die Aufhebung des Trennungsverbots hier nachvollziehbar, so wird bei der neuen Regelung für die Trennung von Worten mit "ck" eine ungewöhnliche Regel durch eine andere ungewöhnliche ersetzt. Die Intention war hierbei, eine Ausnahmeregelung abzuschaffen. Wurde ein Wort mit ck geschrieben (wie beispielsweise "Hacke"), dann wurde bei der Silbentrennung dieses durch "k-k" ersetzt: Hak-ke. Nach neuer Schreibung ist jetzt "Ha-cke" richtig. Ein schwer zu widerlegendes Argument der Reformgegner ist hier, dass nicht eine Ausnahmeregelung wegfiel, sondern vielmehr durch eine weitere Ausnahme verkompliziert wurde: Die Ausnahme, dass die Verdoppelung eines Konsonanten im Falle des Buchstaben "k" nicht zu "kk" sondern zu "ck" führt, galt nicht, wenn die beiden Konsonanten durch eine Silbentrennung nicht unmittelbar hintereinander standen. So wurde "Hacke" zu "Hak-ke". Die neue Regelung hat hier eine Ausnahme bei der Ausnahme und schreibt vor, dass das Ende der ersten Silbe mit in die nächste Zeile, an den Anfang der zweiten Silbe, rutscht - aus "Hacke" wird "Ha-cke". Hätte man konsequent die Ausnahme abschaffen wollen, so hätte man "ck" grundsätzlich zu "kk" machen müssen: "Hakke". Eine Trennung wäre frei von Problemen und ohne jeden Zwang zu weiteren Regeln möglich gewesen. Wie man jedoch eine Silbe zu sprechen hat, die mit "ck" beginnt, bleibt offen.

Weiterführende Informationen

Literatur contra