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Cemal Kemal Altun

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Gedenkstein für Cemal Kemal Altun vor dem Gebäude Hardenbergstraße 20

Cemal Kemal Altun (* 13. April 1960 in Samsun (Türkei)[1]; † 30. August 1983 in West-Berlin) war ein türkischer Asylbewerber in Deutschland, der 1983 während seines Abschiebungverfahren im Zusammenhang mit der ihm drohenden Auslieferung an die türkische Militärdiktatur Suizid beging. Aufgrund eines spektakulären tödlichen Sprungs des 23-Jährigen aus dem sechsten Stock des Verwaltungsgerichts in Berlin erregte der Fall ein bundesweites Aufsehen. Altun gilt als erster in einer Reihe politischer Flüchtlinge, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aus Angst vor der Auslieferung an ein Unrechtsregime selbst töteten.

Leben

Altun war schon früh – als Jugendlicher – politisch engagiert und in der linksgerichteten Republikanischen Volkspartei organisiert. Aufgrund von Reden auf Versammlungen und Flugblättern geriet er als Schüler und Student bereits ins Visier der nationalistischen Kräfte und wurde mehrfach angegriffen. Nach dem Militärputsch am 12. September 1980 wurden dann unzählige Regimekritiker, auch aus Altuns nächstem Umkreis, verhaftet, gefoltert oder ermordet. Am 8. November 1980 floh der kaum 20-jährige Student Altun über Rumänien nach Bulgarien, Ungarn, in die Tschechoslowakei und über die DDR nach West-Berlin zu seiner dort lebenden Schwester. Wenige Monate später beantragte der Türke, als ihm bekannt wurde, dass die türkischen Behörden ihm eine Beteiligung an der Ermordung des Politikers Gün Sazak unterstellten, politisches Asyl. Wegen des türkischen Haftbefehls wurde dann Altun allerdings, anstatt Asyl zu erhalten, am 5. Juli 1982 in West-Berlin inhaftiert. Am 21. Februar 1983 bewilligte die Bundesregierung die Auslieferung Cemal Altuns an die Türkei, in deren Militärdiktatur dem jungen Türken jedoch der „Tod durch unmenschliche Haftbedingungen, Folter oder Hinrichtung“ (amnesty international) drohte. Die Abschiebung wurde denn auch durch eine am 2. Mai 1983 von einer durch die Europäische Kommission für Menschenrechte in Straßburg zugelassenen Beschwerde gegen die Auslieferung Altuns zunächst aufgehalten. Nach 13 Monaten unter verschärften Bedingungen in dem Moabiter Gefängnis wurde er aber bereits im März 1983 laut seinem Anwalt Wolfgang Wieland einmal mit den Worten „Jetzt geht’s Richtung Türkei“ aus seiner Zelle geholt und zum Flughafen geleitet. Als die Anerkennung des Türken als politisch Verfolgter erfolgt war (der Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten des Innenministeriums aber wiederum dagegen Klage einreichte), hatte der Fall Altun bereits eine europaweite Solidarität mit dem Asylbewerber ausgelöst.

Suizid

Ein weiteres Verfahren zur Klärung der Frage, ob Altun der türkischen Militärregierung ausgeliefert werden könne, fand ab dem 29. August im sechsten Stock des Verwaltungsgerichts Berlin statt. Am zweiten Verhandlungstag lief Altun, nachdem ihm die Handschellen geöffnet wurden, auf ein offenes Fenster im Gerichtsaal zu und stürzte sich 25 Meter hinunter. Notärzte konnten nur noch den Tod des jungen Mannes feststellen.

Die Bundesregierung reagierte bestürzt, war aber der Meinung, dass man mit einer Verzweiflungstat nicht habe rechnen können.

Amnesty international schaltete hingegen eine Todesanzeige für Altun, in der es unter anderem hieß: „Die fortschreitende Aushöhlung des Asylrechts und die Atmosphäre der Ausländerfeindlichkeit haben ihm das Vertrauen in das Grundgesetz genommen. Im Alter von 23 Jahren starb er als Opfer einer Politik, die die guten Beziehungen zu den türkischen Militärs über den Schutz eines verfolgten Menschen stellte.“ Amnesty bezeichnete die Verzweiflung Altuns als verständlich, die Haltung der Verantwortlichen hingegen nicht.

In einem letzten Versuch den Sachverhalt zu klären wurde Cemal Kemal Altun sechs Monate nach seinem Tod vom Gericht das Asylrecht zugesprochen.

Auswirkungen

Von den Regierungspolitikern als „Einzelfall“ bezeichnet, war der Suizid Altuns für SPD und Grüne gleichsam Anlass für heftige Vorwürfe gegen die Ausländerpolitik der Regierung, insbesondere den zuständigen Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann. Auch der spätere Außenminister Klaus Kinkel, der als Staatssekretär im Bundesjustizministerium die Auslieferung Altuns an die türkische Militärdiktatur befürwortet haben soll, wurde scharf angegriffen. Altuns Anwalt Wieland bestätigte diese Haltung Kinkels allerdings nicht; ihm zufolge hatte der Staatsekretär sogar, nur mündlich zwar, zugesichert, Altun würde nicht ausgeliefert.

Der Tod Altuns hatte, durch das breite Aufsehen, das er erregte, längerfristige Auswirkungen auf die bundesweite Flüchtlingsarbeit, die unter anderem zur Gründung von Pro Asyl führten. Heiko Hoffmann von Pro Asyl sprach in einer Rede am 31. August 2003 in der Berliner Kirche zum Heiligen Kreuz davon, dass diese „von Ad-hoc-Bündnissen wie zum 40. Jahrestag der Befreiung mit Anzeigen wie ‚Hände weg vom Asylrecht‘ (initiiert unter anderen von amnesty international, der AWO und terre des hommes und unterzeichnet von über 100 Persönlichkeiten, darunter der Abgeordnete Otto Schily), über die ‚Konferenzen der Freien Flüchtlingsstädte‘, über regionale und landesweite Gründungen von Flüchtlingsräten, bis zu regelmäßigen Treffen der in der Flüchtlingsarbeit tätigen Verbände im Umfeld von UNHCR und ZDWF in Bonn [gingen].“

Die Gründung von Asyl in der Kirche in Berlin geht unmittelbar auf eine initiative Zusammenarbeit eines Unterstützungskomitees für die Freilassung Cemal Kemal Altuns zurück.

Dem mit Altun ersten bekannt gewordenen Fall eines Flüchtlings, der in Deutschland Suizid aus Furcht vor der Abschiebung beging, folgten noch weit über hundert vergleichbare Fälle. Auch laut Hoffmann habe zumindest „in der Politik [der Suizid Altuns] weder zum Umdenken noch zu einer Humanisierung der Asylpolitik“ geführt. Ähnlicher Meinung war Peter Döbel in einem Kommentar zum zwanzigsten Jahrestag des Suizids Kemal Cemal Altuns im heute-journal, in welchem er ein Nachdenken darüber forderte, warum Asylbewerber wie Altun immer wieder die Hoffnung und den Glauben an die „Garantien unserer Verfassung“ verlieren: „Musste er bei uns an dieser Angst sterben? Steht nicht im Grundgesetz: Politisch Verfolgte genießen Asyl? Steht da nicht auch, dass hier jeder Mensch die Gerichte zu Hilfe rufen darf? Es steht da.“

Gedenkstätten

Kemal-Altun-Platz in Kassel

In der Kasseler Nordstadt erhielt im Frühjahr 1988 der Platz vor den als Kulturzentrum genutzten Gebäuden des ehemaligen Schlachthofes (Einmündungsbereich der Gottschalkstraße in die Mombachstraße) offiziell den Namen Kemal-Altun-Platz. An der Seitenwand des Schlachthofgebäudes wurde ein Relief des türkischen Bildhauers Eyüp Öz angebracht, das auf das Schicksal Altuns Bezug nimmt. Es zeigt eine Hand, die in Ketten gelegt ist und eine Rose hält. Zusammen mit der darunter angebrachte Inschrift „POLITISCH VERFOLGTE GENIEßEN ASYLRECHT (Art. 16.2.2 GG)“ soll es an die hoffnungslose Situation von Abschiebehäftlingen erinnern.

Cemal-Kemal-Altun-Mahnmal in Berlin

Auch vor dem ehemaligen Berliner Verwaltungsgericht, vor dem Altun den Tod fand, befindet sich heute ein Mahnmal für Cemal Kemal Altun. Die etwa vier Meter hohe, zwei Meter lange und einen Meter breite Steinskulptur des Künstlers Akbar Behkalam [2] ist von oben her mittig aufgebrochen und lässt zwei Hände erkennen. Auf beiden Seiten des Mals ist zu lesen – einmal in deutscher, einmal in türkischer Sprache: „Cemal Kemal Altun stürzte sich am 30. August 1983 als politischer Flüchtling hier aus dem Fenster des Verwaltungsgerichts aus Angst vor Auslieferung in den Tod. Politisch Verfolgte müssen Asyl erhalten.“ Das Denkmal wurde 1996 von der damaligen Bezirksbürgermeisterin Berlin-Charlottenburgs, Monika Wissel, enthüllt.

Kemal-Altun-Platz“ in Hamburg

Im Hamburger Stadtteil Ottensen wurde das brachliegende Gelände der ehemaligen Eisengießerei Menck & Hambrock von der Hamburger Bevölkerung inoffiziell Kemal-Altun-Platz genannt. Im Stadtplan so nicht verzeichnet, benutzt selbst die Hamburger Bürgerschaft diesen Namen in ihren Schreiben. Offiziell bestätigt wurde er jedoch nie.

Film

Die deutsch-türkische Filmregisseurin Ayşe Polat drehte über das Schicksal Altuns 1992 den Kurzfilm Fremdennacht.

Siehe auch

Quellen

  1. Deutschlandradio: Vor 20 Jahren. In West-Berlin stürzt sich der Asylbewerber Kemal Altun in den Tod., 30. August 2003 (Stand 2. November 2006)
  2. Bildhauerei in Berlin Mahnmal Cemal Kemal Altun, 1996