Zum Inhalt springen

Gehorsam

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Dies ist eine alte Version dieser Seite, zuletzt bearbeitet am 2. Mai 2023 um 06:26 Uhr durch Stilfehler (Diskussion | Beiträge) (Pädagogik der Aufklärung). Sie kann sich erheblich von der aktuellen Version unterscheiden.

Gehorsam ist das Befolgen von Geboten oder Verboten durch entsprechende Handlungen oder Unterlassungen.

Gehorsam bedeutet die Unterordnung unter den Willen einer Autorität, das Befolgen eines Befehls, die Erfüllung einer Forderung oder das Unterlassen von etwas Verbotenem. Die Autorität ist meistens eine Person oder eine Gemeinschaft, kann aber auch eine Ideologie, ein Gott oder das eigene Gewissen sein. Man kann zwischen freiwilligem und erzwungenem Gehorsam unterscheiden. Gehorsam kann von einer rein äußerlichen Handlung bis zu einer inneren Haltung reichen.

Das Gegenteil von Gehorsam ist Ungehorsam.

Bedeutung in Erziehung und Gesellschaft

Gehorsam ist wie alle anderen Erziehungsziele kein für immer feststehender Wert. Vielmehr verändert sich die Bedeutung von Gehorsam in unserer Gesellschaft auch mit ihren Normen und Werten; diese gelten oder entwickeln sich allmählich und verlieren wieder an Bedeutung – so auch der Gehorsam und die Unterordnung. Ebenso ist die Bedeutung von Gehorsam nicht in allen sozialen Schichten oder Gruppierungen gleich groß. Im Allgemeinen war Gehorsam in Arbeiterfamilien bis Ende des 20. Jahrhunderts stärker ausgeprägt als in aufstrebenden Mittelschichten, bei denen persönliche Freiheit stärker im Vordergrund steht (s. Gustav Grauer, Literatur). Der Rang des Gehorsams, seine Einschätzung bei unterschiedlichen Erziehungszielen, ist, ähnlich wie auch andere Erziehungsvorstellungen, Ziele, Orientierungen und Leitvorstellungen, in verschiedenen sozialen Milieus sehr unterschiedlich.

Wort- und Begriffsgeschichte

Etymologie

Das Adjektiv gehorsam und das Substantiv Gehorsam und existieren bereits im Althochdeutschen als (ga)hôrsam, gihôrsam bzw. (gi)hôrsamî.[1] Grundlage ist das ahd. Verb hôrran, hôran, das auf ein rekonstruiertes protogermanisches *hauzjan, *hausjan zurückgeht und „hören“, „zuhören“, „Folge leisten“ bedeutet. Im Mittelhochdeutschen bilden sich die Formen (ge)hôrsam bzw. gehôrsam(e) heraus, wobei das Substantiv bis in diese Zeit ein Femininum war.[2][3] Entsprechendes wie für gehorsam/Gehorsam gilt für das Adjektiv ungehorsam (ahd. un[gi]hôrsam → mhd. un[ge]hôrsam und das Substantiv Ungehorsam (ahd. un[gi]hôrsamî → mhd. un[ge]hôrsam[e]).[4] Als gehoorzaam bzw. gehoorzaamheid erscheinen das Adjektiv gehorsam und das Substantiv Gehorsam auch im Niederländischen.[5]

Das Verb horchen (engl. hark) ist eine Frequentativbildung von hören, die sich als hôrchen, horchen erstmals im Mittelhochdeutschen nachweisen lässt.[6] Auch die abgeleitete Form gehorchen (ursprünglich: „[verstärktes] horchen“) erscheint zuerst im 13./14. Jahrhundert.[7]

Die Wörter gehören, (un)gehörig und hörig gehen auf dieselbe Wurzel wie gehorsam zurück und sind damit etymologisch eng verwandt.[8][9][10][11]

Mittelalter

Aus dem Mittelalter ist das wahrscheinlich um 1400 entstandene Buch des Gehorsams erhalten, ein Prosatraktat in Form eines geistlichen Sendschreibens an eine Nonne, dessen zentrales Thema Funktion, Grundlagen und Erscheinungsformen der klösterlichen Grundhaltung des widerspruchslosen und freudigen Gehorsams sind.[12]

Pädagogik des Protestantismus

In der frühneuhochdeutschen Zeit verwendet Luther (1483–1546) das Wort „Ungehorsam“ in seiner Bibelübersetzung (1522) meist, um die Unbotmäßigkeit zu bezeichnen, mit der Menschen sich dem Willen und den Geboten Gottes widersetzen (z. B. 5. Mose 31,27 EU); im Neuen Testament gebraucht er es daneben vereinzelt auch als Bezeichnung für kindliche Unfolgsamkeit gegenüber den Eltern (z. B. Römer 1,30 EU). Die Luthersche Pädagogik gründet sich wesentlich aufs vierte Gebot („Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf daß dir’s wohlgehe und du lange lebest auf Erden.“[13]), aus dem Luther eine kindliche Gehorsamspflicht ableitet.[14][15] Luther konstatiert, dass selbst Jesus Christus seinen Eltern „untertan“ war (Lukas 42,51 EU).[16] Allerdings missbilligt er eine Erziehung, bei der Kinder nur aus Angst vor Strafe gehorchen, und empfiehlt, dem Bibeltext entsprechend, vielmehr eine Erziehung, in der Eltern bei ihren Kindern Ehrerbietung – also gleichermaßen Furcht wie Liebe – erwecken.[15] Gehorsam erwartete Luther – abgeleitet aus dem vierten Gebot, da Führungsgewalt delegierbar sei[17] – darüber hinaus nicht nur von Kindern, sondern auch von allen untergeordneten Mitgliedern eines Hauses, also auch vom Gesinde,[18][19] sowie auf höherer Ebene von den Untertanen jeglicher Obrigkeit.[15][20][21] Den Gehorsam vor Gott stellt Luther jedoch über jede weltliche Gehorsamspflicht.[22][23]

Charakteristisch für die Pädagogik Johann Arndts (1555–1621) war die Überzeugung, dass das Kind vom Mutterleib an voller böser Unarten sei, unter denen er auch den Ungehorsam nennt.[24] Arndt führt die angeborene Bösartigkeit auf den Ungehorsam Adams zurück, der sich Gottes Verbot widersetzte, vom Baum der Erkenntnis zu essen; Jesus Christus dagegen, der sich dem Willen seines göttlichen Vaters bis in den Kreuzestod fügte, stehe für Gehorsam, Sitte und Freundlichkeit, wobei Arndt freilich nicht einen weltlichen, sondern einen Glaubensgehorsam meint.[25] Christus habe Gottes Gehorsamsgebot erneuert und für alle Christen verbindlich gemacht.[26] Wie später Francke, lehnte auch Arndt einen „eusserlichen gehorsam“ ab, der sich dem Zwang beugt und Heuchelei sei, und forderte ein „gehorsames Hertz aus liebe“.[27]

Für August Hermann Francke (1663–1727), den herausragenden Pädagogen des Halleschen Pietismus, war der Gehorsam – nach der Liebe zur Wahrheit und vor dem Fleiß – eine jener Kardinaltugenden, die den Menschen zu Gott hin führen.[28] Francke unterscheidet zwischen einem „äußerlichen“ Gehorsam, der darauf zielt, Menschen zu gefallen, und einem an Gott gerichteten „rechten Hertzens-Gehorsam“. Zu den Ausgangspunkten seiner Pädagogik zählt das Paulus-Wort „Und ihr Väter, reizet eure Kinder nicht zum Zorn, sondern zieht sie auf in der Vermahnung zum HERRN.“ (Epheser 6,4 EU) In seinem 1698 erschienenen Traktat Von Erziehung der Jugend Zur Gottseligkeit und Klugheit warb Francke für eine erzieherische „Gemüths-Pflege“, die darin bestehe, dass zwar der Wille des jungen Menschen „unter den Gehorsam“ gebracht werde, es diesem Willen aber leicht gemacht werden solle, ohne Zwang zu folgen, indem dem Verstand des Zöglings „heilsame Lehren“ geboten werden, insbesondere durch das gute Vorbild der ihn umgebenden Erwachsenen, aber auch durch den Katechismus und die Geschichten der Bibel. Der Eigenwille des Kindes müsse zwar gebrochen werden, jedoch „mit sehr grosser Liebe, Sanfftmuth und Gedult“. „Durch den hertzlichen Gehorsam wird die Herrschafft des eigenen Willens und Fürwitzes niedergeleget, und das Hertz immer mehr und mehr erniedriget und demütig gemacht, auch zu einer ungeheuchelten Bescheidenheit und Freundligkeit angewiesen“. Anders als Luther sieht Francke die Gesellschaft nicht als eine vertikale Ordnung, in der Untergeordnete dem jeweils Übergeordneten zu gehorchen haben, sondern fordert mit Paulus („und seid untereinander untertan in der Furcht Gottes“, Epheser 5,21 EU), dass wahre Christen „auch ihres gleichen, und geringern“ gehorchen.[29]

Politische Philosophie der Aufklärung

Der englische Staatstheoretiker Thomas Hobbes (1588–1679), der vor der Aufklärung lebte, dieser mit seiner Vertragstheorie aber wichtige Impulse lieferte, wendet in seinem Hauptwerk, dem 1651 erschienenen Leviathan, den christlichen Gehorsamsbegriff ins Säkulär-Politische. Bürgerlicher Gehorsam ist für ihn – noch vor Gesetzen, Frieden, Nächstenliebe und gesellschaftlichem Leben – die wichtigste Voraussetzung für jedes auf menschlicher Vereinbarung basierende Gemeinwesen:[30]

“The condition of man in this life shall never be without inconveniences; but there happeneth in no Commonwealth any great inconvenience but what proceeds from the subjects’ disobedience and breach of those covenants from which the Commonwealth hath its being.”

„Die Lage des Menschen wird in diesem Leben niemals ohne Unannehmlichkeiten sein; aber es gibt in keinem Gemeinwesen größere Unannehmlichkeit als die, die aus dem Ungehorsam der Staatsangehörigen und ihrem Bruch jener Vereinbarungen hervorgehen, aus denen das Gemeinwesen besteht.“

Thomas Hobbes: Leviathan, Chapter 20: Of Dominion Paternal and Despotical

Hobbes’ Landsmann John Locke (1632–1704) hatte Luthers Diktum, dass aus dem vierten Gebot eine Gehorsamspflicht für Untertanen herzuleiten sei, durch Robert Filmer (um 1588–1653) rezipiert und trat dieser Auffassung in seinen Zwei Abhandlungen über die Regierung (1689) explizit entgegen. Locke führt hier eine Unterscheidung zwischen politischem Gehorsam einerseits und einer Pflicht andererseits ein, „die wir Personen schulden, die keinen Anspruch auf Souveränität, noch irgend welche politische Autorität besitzen, wie die Obrigkeit sie über Untertanen besitzt“.[31][32]

Pädagogik der Aufklärung

In der Pädagogik der Aufklärung erhielt der Begriff des Gehorsams eine Wendung ins Weltliche. An die Stelle der Erziehung zum Christentum trat hier die Erziehung zur Vernunft. Damit entfiel der Gehorsam gegen Gott; Kant (1724–1804) beispielsweise hielt am Konzept des Gehorsams jedoch fest, weil er davon überzeugt war, dass ohne Gehorsam ein Lernen und eine Teilhabe am Gemeinwesen nicht möglich seien:

„Zum Charakter eines Kindes, besonders eines Schülers, gehört vor allen Dingen Gehorsam. Dieser ist zweyfach, erstens: ein Gehorsam gegen den absoluten, dann zweytens aber auch gegen den für vernünftig und gut erkannten Willen eines Führers. Der Gehorsam kann abgeleitet werden, aus dem Zwange, und dann ist er absolut, oder aus dem Zutrauen, und dann ist er von der andern Art. Dieser freywillige Gehorsam ist sehr wichtig; jener aber auch äußerst nothwendig, indem er das Kind zur Erfüllung solcher Gesetze vorbereitet, die es künftighin, als Bürger erfüllen muß, wenn sie ihm auch gleich nicht gefallen.“

Immanuel Kant: Über Pädagogik (1803), S. 73

Kant unterscheidet zwischen dem Gehorsam des Kindes und dem des Jünglings. Gegenstand des ersteren ist die Befolgung von Regeln; bei Verstößen wird bestraft (wobei die Bestrafung idealerweise die Vernunft des Kindes stimuliert und zum Wachsen bringt). Beim Jüngling besteht der Gehorsam „in der Unterwerfung unter die Regeln der Pflicht. Aus Pflicht etwas thun, heißt: der Vernunft gehorchen.“[33]

Rousseau (1712–1778) hatte bereits 1762 in seinem pädagogischen Hauptwerk, Émile oder Über die Erziehung, geschrieben: „Seinen Eltern soll er [Émile] Ehrerbietung erweisen, Gehorsam dagegen nur mir [dem Erzieher] allein. Das ist meine erste oder vielmehr meine einzige Bedingung.“[34] Diesen Gehorsam hat Rousseau jedoch ausdrücklich nicht als einen „knechtischen Gehorsam“ (obéissance), sondern als kindgemäßes Folgen (dépendance) konzipiert. Das Kind „ist andern nur infolge seiner Bedürfnisse unterworfen und weil sie eine bessere Einsicht von dem besitzen, was ihm dienlich oder schädlich, für seine Erhaltung zuträglich oder nachteilig ist“ und fühlt darum Schwäche, leidet unter dieser aber nicht.[35] Das Kind solle, wenn es in die Hände des Erziehers gegeben wird, weder dessen Verhalten als Ausübung eines Befehlsrechts noch sein eigenes Verhalten als Akt des Gehorsams empfinden:[36]

„J’ai déjà dit que votre enfant ne doit rien obtenir parce qu’il le demande, mais parce qu’il en a besoin, ni rien faire par obéissance, mais seulement par nécessité. Ainsi les mots d’obéir & de commander seront proscrits de son dictionnaire, encore plus ceux de devoir & d’obligation ; mais ceux de force, de nécessite d’impuissance & de contrainte y doivent tenir une grande place.“

„Ich habe bereits ausdrücklich gesagt, daß euer Kind nie deshalb etwas erhalten darf, weil es dasselbe verlangt, sondern nur, weil es dessen bedarf, ferner daß es nichts bloß aus Gehorsam tun soll, sondern weil es die Notwendigkeit erheischt. Deshalb müssen die Wörter gehorchen und befehlen und noch mehr die Ausdrücke Pflicht und Schuldigkeit aus seinem Wörterbuch gestrichen werden; dagegen muß den Wörtern Kraft, Notwendigkeit, Ohnmacht und Beschränkung darin ein großer Platz eingeräumt werden.“

Jean-Jacques Rousseau: Émile, ou De l’éducation. Livre II, Seite 106[37]

Statt zu gehorchen, soll das Kind Notwendigkeiten erkennen: „Verlangt man von ihm Gehorsam, obwohl es den Nutzen dessen, was man ihm befiehlt, nicht einzusehen vermag, so schreibt es die ihm erteilten Befehle der Laune, der Absicht, es zu quälen, zu, und wird sich nur widerwillig fügen.“[38] Ganz anders sah Rousseau allerdings die Erziehung von Mädchen – als künftigen Gattinnen, die ihren Ehemännern Gehorsam (obéissance) und Treue (fidélité) schulden:[39]

„La gêne même où elle la tient, bien dirigée, loin d’affaiblir cet attachement, ne fera que l’augmenter, parce que la dépendance étant un état naturel aux femmes, les filles se sentent faites pour obéir. […] Que les filles soient toujours soumises, mais que les mères ne soient pas toujours inexorables.“

„Selbst der verständige Zwang, in welchem die Tochter notwendig gehalten werden muß, wird diese Zuneigung nicht schwächen, sondern nur erhöhen, denn Abhängigkeit ist ein den Frauen natürlicher Zustand, und schon die Mädchen fühlen, daß sie zum Gehorchen geboren sind. […] Die Töchter sollen also immer gehorsam, die Mütter jedoch auch nicht immer unerbittlich sein.“

Jean-Jacques Rousseau: Émile, ou De l’éducation. Livre V, Seite 221, 223[40]

Rechtliche Perspektive

In Deutschland ist eine Gehorsamspflicht in bestimmten Fällen gesetzlich festgeschrieben. So unterliegen Beamte auf Grundlage von § 62 Bundesbeamtengesetz (BBG) einer „Folgepflicht“, sind also z. B. verpflichtet, dienstliche Anordnungen ihrer Vorgesetzten auszuführen. Strafgefangene sind auf Grundlage von § 82 Strafvollzugsgesetz (StVollzG) verpflichtet, Anordnungen der Vollzugsbediensteten zu befolgen.

Ungehorsam

Beispiel für bürgerlichen Ungehorsam: Trotz mehrerer Verbotsschilder werden unter einem Vordach Fahrräder abgestellt.

Das Gegenteil von Gehorsam ist Ungehorsam. Je nach gesellschaftlichem Hintergrund ist damit negativ und abwertend Widerstand oder Renitenz gemeint (aus der Sicht des Erziehenden oder Herrschenden), während Gehorsam als Tugend eingefordert wurde. Spätestens seit der Kinderladen-Bewegung gilt Ungehorsam als Option durchaus als erstrebenswert, was (nach Neill und Milgram etwa) viel zu selten eingeübt wird. Gehorsamsverweigerung, Ziviler Ungehorsam, Zivilcourage sind in vielen Situationen notwendige Fähigkeiten, beispielsweise bei der Durchsetzung von Menschenrechten.

Unterscheidung von Arten

Ein Soldat wird mit einer Prügelstrafe „diszipliniert“.
Militärischer Gehorsam
ist ein strikt erzwungenes Befolgen von Befehlen und Anordnungen. Das Nichtbefolgen, also der Ungehorsam, zieht häufig Sanktionen nach sich und bedeutet oft ein Risiko für die Sicherheit anderer. In besonderen Fällen kann aber das Verweigern des Gehorsams auch geboten sein, so die Befehlsverweigerung aus rechtlichen oder ethischen Gründen. Das Spannungsverhältnis zwischen Befehl und Gewissen hat Heinrich von Kleist literarisch in seinem Drama Der Prinz von Homburg aufgearbeitet.
Kindlicher Gehorsam
das Sich-Fügen von Kindern in den Familienverband, das sich aus einem natürlichen Abhängigkeitsverhältnis zu den Eltern ergibt. Im übertragenen Sinn versteht man darunter auch das kindlich-kindische Verhalten Erwachsener. Im Kontext der Pädagogik der Aufklärung (19. Jahrhundert) wurde angenommen, dass Gehorsam des Kindes gegenüber dem Erziehenden die Voraussetzung dafür sei, dass das Kind einen Entwicklungszustand erreichen könne, in dem es seine unfrei machende Natur überwindet und für Bildung zugänglich wird. Nachdem diese Erziehungsphilosophie bereits von der Reformpädagogik in Frage gestellt und erziehungshistorisch abgelöst worden war, haben in den 1970er Jahren Katharina Rutschky und Alice Miller die Pädagogik der Aufklärung, für die sie nun das Schlagwort der „schwarzen Pädagogik“ prägten, einer psychoanalytischen Deutung unterzogen, bei der sie statt der aufklärerischen Intention eine vermutete prekäre seelische Verfassung des Erziehenden in den Mittelpunkt stellten, den weniger sein erzieherisches Ziel als vielmehr sein persönliches Selbsterhöhungsbestreben dazu treibe, den Willen des Kindes zu brechen. Alexander Sutherland Neill sah den kindlichen Gehorsam im Gegensatz zu Freiheit und Selbstbestimmung; diese Art von Gehorsam hatte für ihn keinen Wert und förderte lediglich die Anpassung an bestehende oder geforderte soziale Strukturen. Arno Gruen ging noch einen Schritt weiter, indem er den Gehorsam aus der bisherigen Sicht als Ursache sowohl für die Unterentwicklung von Identität und Selbstbewusstsein, für die Reduzierung der Empathie und Kritikfähigkeit als auch für die Minderung der Realitätswahrnehmung beschrieb.[41]
Solidarischer Gehorsam
ein Sich-Einfügen in die Gruppe aus Solidarität, auch wenn man im Einzelnen nicht selbst von einer Idee oder Handlung überzeugt ist.
Soziologischer Gehorsam
„Gehorsam“ als zentrales definitorisches Merkmal für „Herrschaft“ im Kontrast zur „Macht“ bei dem Soziologen Max Weber.
Gehorsam als erzwungenes Verhalten
in extremen Drucksituationen (siehe dazu die Gehorsams-Experimente von Stanley Milgram und das Stanford-Prison-Experiment), was freilich, laut Aussage Milgrams, den meisten Zeitgenossen nicht schwerfällt. Er vermutet: Wir haben keine Verhaltensmuster erlernt, die man Widerstehen (gegen unsinnige Befehle oder Autorität) nennen könnte.
Freiwilliger Gehorsam
gegenüber Regeln, die als gut anerkannt sind (wie die Zehn Gebote), gegenüber dem Willen Gottes überhaupt[42] (vgl. Resignation, Gelassenheit) oder gegenüber dem eigenen Gewissen – man könnte hier auch von „Unterordnung“ sprechen. Damit verwandt ist
Gehorsam in religiösen Gemeinschaften
in Ordens-, aber auch anderen Gemeinschaften als freiwilliges Gelübde gegenüber dem Oberen im Sinne der evangelischen Räte Armut, Keuschheit und eben Gehorsam.
Gehorsam als Selbstdisziplin
Dahinter steht eine Haltung, die den Sinn von Anordnungen und das ihnen zugrunde liegende Sozialgefüge positiv sieht.
Vorauseilender Gehorsam
Das Erspüren einer Erwartung; bevor eine Anweisung ausdrücklich formuliert wurde, wird schon „gehorcht“. Als Maxime der Jesuiten wurde es erstmals formuliert. Er spielte eine bedeutende Rolle für die Wirksamkeit nationalsozialistischer Kampforganisationen.
Kadavergehorsam
Er ist das sacrificium intellectus, also das Opfer des Verstandes, nach einer Wendung aus den Ordensregeln des Jesuitenordens. Blinder Gehorsam ist eine andere Variante des an die Autorität sozialer Organisationen verschenkten Ichs, beispielsweise in der Floskel „Die Partei hat immer recht“.

Siehe auch

Literatur

  • Gustaf Grauer: Leitbilder und Erziehungspraktiken. In: Familienerziehung, Sozialschicht und Schulerfolg. b:e tabu 24, Weinheim 1971, S. 37–58.
  • Friedrich Koch: Der Kaspar-Hauser-Effekt. Über den Umgang mit Kindern. Leske und Budrich, Opladen 1995, ISBN 978-3-8100-1359-0.
  • Stanley Milgram: Das Milgram-Experiment – Zur Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autorität. Rowohlt Verlag, Reinbek 1982, ISBN 3-499-17479-0.
  • Alexander Sutherland Neill: Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek, ISBN 3-499-16707-7, S. 157 f. (Gehorsam und Disziplin).
  • Mathias Wirth: Distanz des Gehorsams – Theorie, Ethik und Kritik einer Tugend. Mohr Siebeck, Tübingen 2016, ISBN 978-3-16-154086-8.
Commons: Obedience – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien
Wiktionary: gehorsam – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen
Wikiquote: Gehorsam – Zitate

Einzelnachweise

  1. gehorsam. In: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Abgerufen am 30. April 2023.
  2. Buchstabe H. In: Köbler, Gerhard, Germanisches Wörterbuch, (5. Auflage) 2014. Abgerufen am 30. April 2023.
  3. Buchstabe H. In: Köbler, Gerhard, Althochdeutsches Wörterbuch, (6. Auflage) 2014. Abgerufen am 30. April 2023.
  4. ungehorsam. In: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Abgerufen am 26. April 2023.
  5. gehoorzaam. In: Cabridge Dictionary. Abgerufen am 1. Mai 2023.
  6. Buchstabe H. In: Köbler, Gerhard, Mittelhochdeutsches Wörterbuch, 3. A. 2014. Abgerufen am 30. April 2023.
  7. gehorchen. In: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Abgerufen am 30. April 2023.
  8. gehören. In: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Abgerufen am 1. Mai 2023.
  9. gehörig. In: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Abgerufen am 1. Mai 2023.
  10. ungehörig. In: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Abgerufen am 1. Mai 2023.
  11. hörig. In: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Abgerufen am 1. Mai 2023.
  12. Buch des Gehorsams. In: Wolfgang Achnitz (Hrsg.): Deutsches Literatur-Lexikon. Das Mittelalter. Autoren und Werke nach Themenkreisen und Gattungen. Band 2. De Gruyter, Berlin, Boston 2011, ISBN 978-3-598-24994-5, S. 731 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  13. Luthers Kleiner Katechismus. Das Erste Hauptstück. Die Zehn Gebote. Abgerufen am 26. April 2023.
  14. Martin Luther: An die Ratsherren aller Städte deutschen Landes, dass sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen (1524). In: H. Keferstein (Hrsg.): Dr. Martin Luthers Pädagogische Schriften und Äußerungen. Aus seinen Werken gesammelt und in einer Einleitung zusammenfassend charakterisiert und dargestellt. Hermann Beyer & Söhne, Langensalza 1888, S. 31–49, hier: S. 33 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  15. a b c Martin Luther: Sermon von guten Werken (1520). In: H. Keferstein (Hrsg.): Dr. Martin Luthers Pädagogische Schriften und Äußerungen. Aus seinen Werken gesammelt und in einer Einleitung zusammenfassend charakterisiert und dargestellt. Hermann Beyer & Söhne, Langensalza 1888, S. 51–56, hier: S. 52 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  16. Martin Luther: Predigt am 1. Sonntag nach Epiphaniä. Luc. 2, 4152. In: H. Keferstein (Hrsg.): Dr. Martin Luthers Pädagogische Schriften und Äußerungen. Aus seinen Werken gesammelt und in einer Einleitung zusammenfassend charakterisiert und dargestellt. Hermann Beyer & Söhne, Langensalza 1888, S. 179 f. (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  17. Martin Luther: Großer Katechismus – Das 4. Gebot. In: H. Keferstein (Hrsg.): Dr. Martin Luthers Pädagogische Schriften und Äußerungen. Aus seinen Werken gesammelt und in einer Einleitung zusammenfassend charakterisiert und dargestellt. Hermann Beyer & Söhne, Langensalza 1888, S. 255–259, hier: S. 257 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  18. Martin Luther: Hausregiment. In: H. Keferstein (Hrsg.): Dr. Martin Luthers Pädagogische Schriften und Äußerungen. Aus seinen Werken gesammelt und in einer Einleitung zusammenfassend charakterisiert und dargestellt. Hermann Beyer & Söhne, Langensalza 1888, S. 49 f. (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  19. Martin Luther: Predigt am 1. Sonntag nach der Trifältigkeit. Luc. 10, 23–37. In: H. Keferstein (Hrsg.): Dr. Martin Luthers Pädagogische Schriften und Äußerungen. Aus seinen Werken gesammelt und in einer Einleitung zusammenfassend charakterisiert und dargestellt. Hermann Beyer & Söhne, Langensalza 1888, S. 174 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  20. Martin Luther: Eine einfältige Weise zu beten für einen guten Freund, Meister Peter Balbier (1534). In: H. Keferstein (Hrsg.): Dr. Martin Luthers Pädagogische Schriften und Äußerungen. Aus seinen Werken gesammelt und in einer Einleitung zusammenfassend charakterisiert und dargestellt. Hermann Beyer & Söhne, Langensalza 1888, S. 62–64, hier: S. 63 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  21. Martin Luther: Aus den Tischreden. In: H. Keferstein (Hrsg.): Dr. Martin Luthers Pädagogische Schriften und Äußerungen. Aus seinen Werken gesammelt und in einer Einleitung zusammenfassend charakterisiert und dargestellt. Hermann Beyer & Söhne, Langensalza 1888, S. 107–169, hier: S. 143 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  22. Martin Luther: Aus den Tischreden. In: H. Keferstein (Hrsg.): Dr. Martin Luthers Pädagogische Schriften und Äußerungen. Aus seinen Werken gesammelt und in einer Einleitung zusammenfassend charakterisiert und dargestellt. Hermann Beyer & Söhne, Langensalza 1888, S. 107–169, hier: S. 111 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  23. Martin Luther: Predigt am zwölften Sonntag nach der Trifältigkeit. Marc. 7, 31–37. Anno 35 domi. In: H. Keferstein (Hrsg.): Dr. Martin Luthers Pädagogische Schriften und Äußerungen. Aus seinen Werken gesammelt und in einer Einleitung zusammenfassend charakterisiert und dargestellt. Hermann Beyer & Söhne, Langensalza 1888, S. 173 f. (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  24. Johann Arndt: Vier Bücher vom Wahren Christentumb. Band 1. Francke, Böel, Magdeburg 1610, S. 16.
  25. Johann Arndt: Vier Bücher vom Wahren Christentumb. Band 1. Francke, Böel, Magdeburg 1610, S. 25, 39, 87.
  26. Johann Arndt: Vier Bücher vom Wahren Christentumb. Band 1. Francke, Böel, Magdeburg 1610, S. 142.
  27. Johann Arndt: Vier Bücher vom Wahren Christentumb. Band 2. Francke, Böel, Magdeburg 1610, S. 74.
  28. Einleitung. In: Karl Richter (Hrsg.): A. H. Francke. Schriften über Erziehung und Unterricht. Siegismund & Volkening, Leipzig 1872, S. 5–30, hier: S. 26 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  29. August Hermann Francke: Von Erziehung der Jugend Zur Gottseligkeit und Klugheit. In: Karl Richter (Hrsg.): A. H. Francke. Schriften über Erziehung und Unterricht. Siegismund & Volkening, Leipzig 1872, S. 46–112 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  30. Thomas Hobbes: Leviathan. 1651 (Chapter XII: Of Religion).
  31. John Locke: Two Treatises of Government/Book I. (Online bei Wikisource – Chapter VI. Of Adam’s Title to Sovereignty, by Fatherhood – Abschnitt 65).
  32. John Locke: Erste Abhandlung über Regierung. Abgerufen am 30. April 2023 (in deutscher Übersetzung).
  33. Immanuel Kant: Über Pädagogik. 1803, S. 75 f.
  34. Jean-Jacques Rousseau: Émile, ou De l’éducation. Livre I. S. 34 (Online).
  35. Jean-Jacques Rousseau: Émile, ou De l’éducation. Livre II. S. 97 (Online).
  36. Jean-Jacques Rousseau: Émile, ou De l’éducation. Livre II. S. 99 (Online).
  37. Online
  38. Jean-Jacques Rousseau: Émile, ou De l’éducation. Livre IV. S. 362 (Online).
  39. Jean-Jacques Rousseau: Émile, ou De l’éducation. Livre V. S. 251 (Online).
  40. Online
  41. Arno Gruen: Konsequenzen des Gehorsams. 12. April 2003, abgerufen am 2. März 2020.
  42. Papst Benedikt XVI. feierte Messe in Mariazell. In: Panorama › Österreich. 6. Februar 2008. Auf DerStandard.at, abgerufen am 1. November 2022. Zitat Papst Benedikt XVI.: „Im Eintreten in den Willen Gottes kommen wir erst zu unserer wahren Identität. Das Zeugnis dieser Erfahrung braucht die Welt heute gerade mitten in ihrem Verlangen nach ‚Selbstverwirklichung‘ und ‚Selbstbestimmung‘.“