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Deutscher Sprachpurismus

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Unter Sprachpurismus (auch Sprachreinigung) wird der Versuch verstanden, alle Fremd- und Lehnwörter aus einer Sprache zu entfernen, indem aus dem Material der eigenen Sprache neue Wörter gebildet werden. Die zugrundeliegende Hypothese, es gebe „reine“ Sprachen, findet freilich in der Sprachgeschichte wenig Halt, da fast sämtlichen Sprachen immer im Bezug zu anderen Sprachen standen und gegenseitig Elemente des Wortschatzes und grammatikalische Strukturen entlehnten.

Deutsche Sprachpuristen von Zesen, Wolff, Campe

Sprachpurismus aus und um Deutschland

Barock und Aufklärung

Es gibt eine längere Tradition von Vereinen, deren Bemühungen in der Regel neben der Liebe zur deutschen Muttersprache früher auch eine mehr oder minder ausgeprägte nationalistische Haltung als Hintergrund hatten.

Die älteste deutsche Sprachgesellschaft, die Fremdwörtern entgegenwirken wollte, war die Fruchtbringende Gesellschaft, die 1617 gegründet wurde. Es folgten weitere Sprachgesellschaften mit ähnlichen Zielen. Zu dieser ersten Phase schreibt der Dudenverlag:

„Eine erste Konjunktur erlebt die Fremdwortkritik im 17. Jahrhundert, und zwar vor allem im Umfeld der so genannten Sprachgesellschaften. Diese patriotischen Vereinigungen wurden mit dem Anspruch ins Leben gerufen, einem konstatierten allgemeinen Sittenverfall entgegenzuwirken.“

Pointiert zusammengefasst wurde die Thematik von dem Satiriker Johann Michael Moscherosch (1601–1669):

„Fast jeder Schneider will jetzund leider/ Der Sprach’ erfahren sein und redt latein,/ Wälsch und französisch, halb japonesisch,/ Wann er ist doll und voll, der grobe Knoll./ Ihr bösen Teutschen, man sollt’ euch peitschen,/ Daß ihr die Muttersprach so wenig acht.“

In der Folge kam es immer wieder zu Eindeutschungen insbesondere lateinischer und französischer Begriffe. Die erfolgreichsten Vorschläge stammen insbesondere von folgenden Sprachpuristen:

  • Dem Schriftsteller Philipp von Zesen (1619–1689), dem die deutsche Sprache Begriffe wie „Abstand“, „Besprechung“ oder „Entwurf“ verdankt.
  • Dem Philosophen Christian Wolff (1679–1754), der durch die Eindeutschung lateinischer Fachbegriffe die Grundlage für den Aufschwung der deutschen Philosophie im 18. Jahrhundert legte („Grundlage“ ist eine Bildung Wolffs für lat. fundamentum).
  • Dem Schriftsteller, Pädagogen und Verleger Joachim Heinrich Campe (1746–1818), auf den Wörter wie „Altertum“, „Erdgeschoss“ oder „tatsächlich“ zurückgehen.

Andere Neubildungen der genannten Herren konnten sich indes nicht durchsetzen („Meuchelpuffer“ für „Pistole“; „Jungfernzwinger“ für „Kloster“). Ob es sich bei dem berühmten „Gesichtserker“ für „Nase“ je um einen ernstgemeinten Vorschlag oder vielmehr um eine Satire auf den Sprachpurismus gehandelt hat, ist unklar.

In vielen Fällen existieren heute sowohl der ursprüngliche als auch der puristische Begriff parallel weiter (wie das bereits erwähnte Paar „Fundament“/„Grundlage“, wobei es gegebenenfalls Bedeutungsunterschiede, Unterschiede in der regionalen Verbreitung und Nutzung (manche Begriffe gelten als regional oder veraltet) oder andere Unterschiede geben kann.

Kritik erfuhr der Sprachpurismus bereits von Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832), der sich dafür aussprach, Fremdwörter nicht zu verpönen, sondern produktiv aufzunehmen.

19. Jahrhundert

1885 wurde der Allgemeine Deutsche Sprachverein gegründet. Zum Abschnitt des „II. Reiches“ schreiben Autoren der Universität Bristol:

„Als wichtigstes Anliegen der sprachpflegerischen Arbeit im behandelten Zeitabschnitt wird durchweg die Bekämpfung des Fremdwortes herausgestellt, die vor allem mit nationalen Motiven begründet wird: Die Überflutung der deutschen Sprache mit fremden Wortgut wird als ‚geistige Sklaverei‘ und als Ursache für die Beeinträchtigung des Nationalgefühls und Volksbewußtseins gewertet…“

Zeit des Nationalsozialismus

Während der NS-Zeit lebte diese Tradition fort, obwohl bei der Führung (Führererlass vom 19. November 1940) Bedenken bestanden, ein zu starker Purismus könnte zur Rückständigkeit führen ([1]). Vermutlich aus ähnlichen Motiven wurden im darauffolgenden Jahr mit dem „Normalschrifterlass“ die „deutschen Schriften“ zugunsten der international gebräuchlicheren lateinischen Schriften zurückgezogen.

Victor Klemperer beschreibt in seinem Buch „LTI“ überdies, dass im Dritten Reich gerade Fremdwörter als Mittel der Verschleierung verwendet wurden:

„Ein schön gelehrtes Signum, wie ja das „Dritte Reich“ von Zeit zu Zeit den volltönenden Fremdausdruck liebte: Garant klingt bedeutsamer als Bürge und diffamieren imposanter als schlechtmachen. (Vielleicht versteht es auch nicht jeder, und auf den wirkt es dann erst recht.)“

Ey jetzt alda

Heute sind in dieser Frage Vereine wie der Verein Deutsche Sprache tätig. Er richtet sich vor allem gegen Anglizismen. Zu seinen Engagement schreibt der Verein:

„Die Geringschätzung der Muttersprache, der Mangel an Sprachloyalität gefährden in diesen Ländern die Funktion der Sprache als gesellschaftliches Verständigungsmittel. Gleichzeitig (v)erklären tonangebende Sprecher, Meinungsführer und Politiker die Amerikanisierung zu einer begrüßenswerten Folge der Globalisierung. (…) Diese Entwicklung ist nicht nur eine Modeerscheinung – sie schwächt vielmehr auch die sprachliche und kulturelle Eigenständigkeit der europäischen Länder bis hin zur politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Abhängigkeit Europas von den USA.“

Gleichwohl ist anstelle der im 17. und 18. Jahrhundert üblichen Eindeutschungen eher der gegenläufige Trend zu beobachten, die Tendenzen zur Anglisierung der deutschen Sprache zeigen. Zwar werden vereinzelt technische Begriffe aus dem Englischen eingedeutscht, wie etwa „Laufwerk“ für drive. Anderen Vorschlägen blieb der Erfolg versagt („Schlappscheibe“ für „Diskette“). Im Regelfall werden die Originalwörter beibehalten („CD“, „Internet“). Zum Teil kommt es sogar zur Bildung künstlicher „englischer“ Begriffe, die es in dieser Sprache gar nicht oder mit anderer Bedeutung gibt („Handy“, „Bodybag“; siehe auch Denglisch und Scheinanglizismus). Auch verdrängen Anglizismen manchmal etablierte deutsche Begriffe („Jogging“ statt „Dauerlauf“, „CD-Player“ statt „CD-Spieler“).

In einer globalisierten Welt verliert der Sprachpurismus ohnehin zunehmend an Praktikabilität. Zu aktuellen Formen siehe auch Frankreich. Im deutschsprachigen Raum fühlen sich viele Menschen bei Sprachpurismus überdies mitunter an die Sprachpolitik der Nazis erinnert.

Bei Nationalisten ist es indes üblich, restlos alle Anglizismen durch deutsche Entsprechungen zu ersetzen, etwa „Weltnetz“ für Internet oder „T-Hemd“ für T-Shirt.

Damit sich eine eigensprachliche Bildung durchsetzen kann, muss sie kurz oder treffend-bildhaft sein, und das ersetzte Fremdwort muss störend wirken, etwa durch seine Aussprache, Betonung oder auch eine nicht lautgerechte Schreibweise in der Zielsprache („Team“, das im Deutschen meist wie [tiːm] ausgesprochen wird).

Situation in anderen Ländern

Siehe auch

Sprachpflege, Sprachkritik, Sprachschutzgesetz, Sprachpolitik, Sprachverfall, Sprachpanscher.

Literatur

  • Peter von Polenz: Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart: 17. und 18. Jahrhundert, Band 2, de Gruyter Berlin-New York 1994, 498 Seiten.
  • Sprachgeschichte und Sprachkritik, Festschrift für Peter von Polenz zum 65. Geburtstag. de Gruyter, Berlin 1993