Verratsfall Carsten L.
Der Verratsfall Carsten L. ist die mutmaßliche Spionage für Russland und der Landesverrat eines Referatsleiters im Bundesnachrichtendienst (BND), der am 21. Dezember 2022 zur Verhaftung des Doppelagenten führte.
Ermittlungen
Ausgangspunkt der Ermittlungen gegen Carsten L. soll ein Hinweis eines ausländischen Nachrichtendienstes aus dem Oktober 2022[1] gewesen sein, wonach Russland über BND-Unterlagen verfüge. Eine Überprüfung, wer im BND auf diese Unterlagen zugegriffen hatte, engte den möglichen Täterkreis ein. Eine vor einiger Zeit routinemäßig durchgeführte Sicherheitsüberprüfung von Carsten L., die mit vier Jahren ungewöhnlich lange dauerte, hatte keine Auffälligkeiten ergeben.[2][3] Bereits Wochen vor seiner Verhaftung wurde Bundeskanzler Olaf Scholz über den möglichen Verratsfall informiert.[4] Sie erfolgte am 21. Dezember 2022 durch das Bundeskriminalamt[2] wegen des dringenden Tatverdachts auf Landesverrat. Der Vollzug der Untersuchungshaft wurde angeordnet,[5] wozu er in die Justizvollzugsanstalt München gebracht wurde.[6] Das Haus des Carsten L. sowie seine Berliner Wohnung und dessen Büro in Berlin-Mitte und einer weiteren Liegenschaft wurden durchsucht. Die Ermittlungen führt der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof.[7]
BND-intern soll der Verratsfall durch ein Sicherheitsteam aufgeklärt werden.[8] Seine Reisebewegungen der vergangenen Monate werden geprüft.[2]
Neben dem investigativen Rechercheverbund NDR, WDR und Süddeutsche Zeitung und dem Magazin Der Spiegel beschäftigt sich auch die internationale Investigativplattform Bellingcat mit dem Verratsfall Carsten L.[9]
Verratsumfang
Im Jahr 2022 soll Carsten L. Informationen, die ein Staatsgeheimnis darstellen, über den Mittelsmann, Informations- und Geldkurier Arthur E. (siehe unten) an den russischen Inlandsgeheimdienst FSB übergeben haben. Dabei soll es sich unter anderem um ausgedruckte Screenshots geheimer Tabellen und Daten zu russischer Opferzahlen im Ukrainekrieg gehandelt haben, die der BND wohl im Rahmen verdeckter Operationen abgefangen hatte. Mit den Dokumenten waren dem russischen Geheimdienst möglicherweise Rückschlüsse auf die Spionagemethoden des BND möglich.[9]
Während seiner Tätigkeit in der Abteilung Technische Aufklärung soll Carsten L. umfangreiche Zugänge zu Informationen aus der Fernmeldeaufklärung gehabt haben, darunter auch Aufkommen von ausländischen Nachrichtendiensten.[10][11] Carsten L. habe sich wiederholt Verschlusssachen zu Russland und dem Ukrainekrieg vorlegen lassen. Er soll im Jahr 2022 von Arthur E. angeworben worden sein, der ihm für den Verrat eine hohe Geldsumme versprach.[3]
Person
Carsten L. soll zur Festnahme 52 Jahre alt und als Soldat der Bundeswehr um das Jahr 2010[12] als Oberstleutnant[9] in den BND gewechselt sein. Dort soll er zuletzt als Oberst (Besoldungsgruppe A 16) und Referatsleiter in der damaligen Abteilung Technische Aufklärung (TA) in Pullach im Isartal und Berlin verwendet worden sein. Er soll im Herbst 2022 wenige Wochen vor seiner Festnahme Leiter des Bereichs Personelle Sicherheit in Berlin geworden sein, der unter anderem Sicherheitsüberprüfungen von Bewerbern und Mitarbeitern des BND durchführt, in diesem Bereich jedoch aufgrund von Urlaubszeiten bislang kaum gearbeitet haben.[2][13]
Carsten L. wohnt in einer Doppelhaus-Hälfte am Stadtrand von Weilheim in Oberbayern[4] Zudem hat er eine Wohnung in Berlin. Beim Sportverein TSV 1847 Weilheim war er Trainer für Jugendfußballmannschaften und langjährig als Jugendleiter aktiv. Carsten L. galt in seinem Sportverein als autoritär, aber eher unauffällig.[4] Kurz vor seiner Verhaftung beendete er die Vorstands- und Vereinstätigkeit aufgrund der Versetzung nach Berlin. Im Verein sollen daraufhin Materialien der Partei Alternative für Deutschland (AfD) von ihm gefunden worden sein.[14] Während der Flüchtlingskrise in Europa 2015/2016 im Dezember 2015 und erneut im Dezember 2016 soll er der AfD jeweils 100 Euro gespendet haben, 2016 explizit für die Bundestagswahl 2017.[3] Personen aus seinen Umfeld haben ihn als „national“ bis „sehr national“ beschrieben; dies soll im BND bekannt gewesen sein.[1]
Carsten L. soll Jäger sein und mehrere Waffen legal besessen haben.[15] Seit April 2021 lernte er Französisch.[4]
Motiv
Carsten L. soll im Job frustriert gewesen sein. In privaten Gesprächen soll er wiederholt abfällig über den BND gesprochen und fundamentale Kritik an der deutschen Regierung geäußert haben.[3] Carsten L. soll politisch weit rechts eingestellt sowie staatsverdrossen sein. Er soll sich radikalisiert und das „Vertrauen in den Staat verloren“ haben.[16] Für den Verrat sei Carsten L. eine hohe Geldsumme versprochen worden sein. Es soll keine finanziellen Unregelmäßigkeiten und Hinweise auf eine Erpressung geben.[15][4][17]
Mittäter
Arthur E.
Das Bundeskriminalamt verhaftete am 22. Januar 2023 den 31-jährigen Deutschen mit deutsch-russischem Hintergrund Arthur E. am Flughafen München bei seiner Einreise aus aus Miami in den Vereinigten Staaten, der des Landesverrats in Mittäterschaft dringend verdächtig ist. Der Vollzug der Untersuchungshaft wurde angeordnet.[18]
Arthur E. ist nicht im BND beschäftigt und soll mit Edelmetallen, Edelsteinen und Diamanten handeln. Er soll eine schillernde Figur mit großem Ego sein. Er soll 1991 im Raum Wolgograd geboren worden sein und übersiedelte bald darauf mit seiner Familie als Spätaussiedler nach Deutschland. 1999 soll er aus der russischen Staatsbürgerschaft entlassen und fortan nur noch die deutsche Staatsangehörigkeit gehabt haben. Im Januar 2009, kurz vor seinem 18. Geburtstag, trat er als Soldat auf Zeit mit einer Verpflichtungszeit von zwölf Jahren in die Bundeswehr ein. Dort wurde er zum IT-Unteroffizier und Fernmelder ausgebildet und war in Mainz eingesetzt. Im Sommer 2015 soll er an der Führungsunterstützungsschule der Bundeswehr in Feldafing um seine vorzeitige Entlassung gebeten haben, die Ende Juli 2015 erfolgte. In der Bundeswehr soll er nie negativ aufgefallen sein.[1][9]
Artur E. soll in einer unauffälligen, eher anonymen Umgebung in einem Mehrfamilienhaus im Südwesten Münchens gemeldet sein. Er soll ein Vielflieger gewesen und häufig gereist sein, darunter nach Ascherbaidschan (Baku), Brasilien, China (Shanghai), Georgien (Tiflis), Ghana, Guinea-Bissau, Israel, Katar (Doha), Russland, Schweiz (Genf, Zürich), Serbien (Belgrad), Senegal, Sierra Leone, in die Vereinigte Arabische Emirate und die Vereinigten Staaten (darunterLos Angeles und New York City). Seit 2019 reiste er insgesamt 45-mal nach Moskau, davon seit Beginn des Ukrainekrieges 6-mal. Auch zu Beginn des Ukrainekrieges hielt sich Arthur E. bis Anfang April 2022 in Moskau auf. Von Moskau reiste er wiederholt nach Dubai. In Russland hielt er sich auch in Kasan, Kirow, Nischnekamsk und Sotschi auf.[9][1]
Im Mai soll er an einer Veranstaltung des russischen Fahrzeugherstellers KAMAZ teilgenommen haben, als Geschäftsführer der Firma Jamal Trading aus Sierra Leone.[19][20][21] Mit einer Partnerin meldete er eine Import-Export-Firma in Frechen bei Köln an. Sein Name soll auch in Zusammenhang mit Öl-Geschäften in Nigeria auftauchen.[9][1]
Carsten L. und Arthur E. sollen sich 2021 über einen Bekannten bei einem Fußballfest in Weilheim erstmals kennen gelernt haben. Der Kontakt soll 2022 wieder aufgenommen und intensiviert worden sein. Carsten L. soll sich bei weiteren Treffen für die häufigen Geschäftsreisen des Arthur E. nach Afrika interessiert haben. Arthur E. soll Carsten L. 2022 angeworben und ihm eine hohe Geldsumme versprochen haben.[9][1]
Mindestens zweimal, vom 6. bis 10. Oktober sowie vom 31. Oktober bis 11. November 2022, ist Arthur E. via Istanbul nach Moskau gereist, um dort Unterlagen in einem Restaurant an zwei Angehörige des russischen Inlandsgeheimdiensts FSB zu übergeben. Diese sollen sich über die teilweise schlechte Lesbarkeit beschwert haben. Beim zweiten Treffen habe er einen Umschlag mit Bargeld als Gegenleistung erhalten. Die Bezahlung von Carsten L. sei über Arthur E. erfolgt.[9]
Während die Flüge des Arthur E. in Datenbanken nachvollziehbar sind, sind es seine Grenzübertritte laut Bellingcat nicht. Dies deutet darauf hin, dass der FSB seine Reisen versuchte zu verschleiern.[9]
Arthur E. soll einige Tage vor seiner Verhaftung in Deutschland von der US-amerikanischer Bundespolizei Federal Bureau of Investigation aufgesucht worden sein, die ihn schon länger im Visier gehabt haben sollen. Arthur E. vertraute sich dem FBI an. Diese beschlagnahmten Handys, Laptop und eine Festplatte von Arthur E. Er besuchte zusammen mit seiner Frau, einer russischen Zahnärztin, seinen Schwager, der in Florida lebt.[9][3][16]
Mutmaßliche Schutzbehauptungen des Arthur E. sind, Carsten L. habe ihn für den BND angeworben und einen Ausweis in Aussicht gestellt sowie dass er glaubte, bei seinen Treffen mit dem FSB in offizieller geheimer Mission für den BND tätig gewesen zu sein, woran ihm erst später Zweifel kamen.[9]
Weitere Personen
In Verdacht geraten war auch eine Mitarbeiterin von Carsten L., von der er sich Verschlusssachen hatte vorlegen lassen. Ihre Wohnung wurde am 21. Dezember 2022 ebenfalls durchsucht. Sie galt zunächst als Hauptverdächtige, weil sie im Auftrag von Carsten L. auf die verratenen Dokumente zugegriffen hatte, um sie ihm vorzulegen. Der Spionageverdacht gegen sie bestätigte sich indes nicht, weil sie arglos handelte, ohne die Verratsabsichten zu kennen.[5][16][3]
Arthur E. soll den Geldumschlag am Flughafen München im November 2022 einem weiteren BND-Angehörigen übergeben haben, der ihm vor der Zollkontrolle aus dem Flughafengebäude geschleust habe. Gegen den BND-Angehörigen wurde ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Wahrscheinlich wurde er jedoch unwissentlich eingespannt.[9]
Reaktionen
Der Fall Carsten L. löste verschiedene Reaktionen aus. Der BND könnte gegenüber westlichen Partnern an Vertrauen verloren haben, die ihre geheimen Informationen beim BND nicht mehr sicher wähnten.[22] Dies könnte die Zusammenarbeit erschweren, was jedoch kritisch sei, weil von deren Informationen, etwa zur Verhinderung von Terroranschlägen, eine hohe Abhängigkeit herrsche.[23] Der langjährige Beauftragte für die Nachrichtendienste des Bundes, Bernd Schmidbauer, merkte an, dass auch in der CIA die Spionage des Leiters der russischen Gegenspionage Aldrich Ames bis 1994 jahrelang unentdeckt geblieben sei.[8]
Siehe auch
- Liste deutscher Spione
- Liste von Spionagefällen in Deutschland
- Liste von Kontroversen mit BND-Bezug
- Liste von Kontroversen mit deutschem Nachrichtendienstbezug
Literatur
- Jan Friedmann, Matthias Gebauer, Roman Höfner, Roman Lehberger, Fidelius Schmid: Kriegslieder und rustikales Essen. In: Der Spiegel. Nr. 3, 14. Januar 2023, S. 35 (spiegel.de).
Weblinks
- Michael Götschenberg: Mutmaßlicher Mittäter in U-Haft: Der Kurier des BND-Maulwurfs. In: tagesschau.de. 26. Januar 2023 .
- Manuel Bewarder, Florian Flade: BND-Agent soll Geheimes zur Ukraine verraten haben. 26. Dezember 2022 .
Einzelnachweise
- ↑ a b c d e f Manuel Bewarder, Florian Flade und Palina Milling: Spione und Diamanten. In: tagesschau.de. 2. Februar 2023, abgerufen am 3. Februar 2023.
- ↑ a b c d Manuel Bewarder, Florian Flade, Georg Mascolo und Jörg Schmitt: Moskaus Spion beim BND: Ein Maulwurf, der Maulwürfe jagen sollte. In: sueddeutsche.de. 13. Januar 2023, abgerufen am 15. Januar 2023.
- ↑ a b c d e f Holger Stark: Hintermann in der BND-Spionageaffäre festgenommen. In: Zeit Online. 26. Januar 2023, abgerufen am 27. Januar 2023.
- ↑ a b c d e Jan Friedmann, Matthias Gebauer, Roman Höfner, Roman Lehberger, Fidelius Schmid: Kriegslieder und rustikales Essen. In: Der Spiegel. Nr. 3, 14. Januar 2023, S. 35 (spiegel.de).
- ↑ a b Festnahme wegen mutmaßlichen Landesverrats. In: generalbundesanwalt.de. 22. Dezember 2022, abgerufen am 22. Dezember 2022.
- ↑ In diesem Knast sitzt Putin-Spion Carsten L. In: Bild. 11. Januar 2023, abgerufen am 11. Januar 2023.
- ↑ Manuel Bewarder und Florian Flade: Mutmaßlicher Spion: Die Maulwurfjagd im BND. In: tagesschau.de. 28. Dezember 2022, abgerufen am 28. Dezember 2022.
- ↑ a b Dirk Banse: Desaster für den Geheimdienst. In: Welt am Sonntag. Nr. 2, 8. Januar 2023, S. 6.
- ↑ a b c d e f g h i j k l Maik Baumgärtner, Jan Friedmann, Matthias Gebauer, Christo Grozev, Roman Höfner, Roman Lehberger, Fidelius Schmid und Wolf Wiedmann-Schmidt: Deutschrusse packt über Moskauverbindungen aus – und belastet BND-Agenten. In: Der Spiegel. 1. Februar 2023, abgerufen am 3. Februar 2023.
- ↑ Zugang zu sensiblen Informationen: Mutmaßlicher Russen-Spion beim BND arbeitete als Top-Analytiker. In: Focus Online. 23. Dezember 2022, abgerufen am 23. Dezember 2022.
- ↑ Mutmaßlicher russischer Spion hatte Zugang zu weltweiten Abhörergebnissen. In: welt.de. 23. Dezember 2022, abgerufen am 23. Dezember 2022.
- ↑ Manuel Bewarder, Florian Flade: Nach Skandal um Mitarbeiter: Wie sicher ist der BND? In: tagesschau.de. 12. Januar 2023, abgerufen am 12. Januar 2023.
- ↑ Manuel Bewarder, Florian Flade: Beförderung vor der Festnahme. 13. Januar 2023, abgerufen am 13. Januar 2023.
- ↑ Hat Putin einen Spion aus Oberbayern? In: merkur.de. 5. Januar 2023, abgerufen am 5. Januar 2023.
- ↑ a b Manuel Bewarder, Florian Flade, Jörg Schmitt: Ermittler suchen Motiv des BND-Spions. In: Süddeutsche Zeitung. Band 78, 29. Dezember 2022, S. 1.
- ↑ a b c Michael Götschenberg: Mutmaßlicher Mittäter in U-Haft: Der Kurier des BND-Maulwurfs. In: tagesschau.de. 26. Januar 2023, abgerufen am 26. Januar 2023.
- ↑ Maik Baumgärtner et al.: Der Verräter. In: Der Spiegel. Nr. 1, 2023, S. 28 (spiegel.de).
- ↑ Festnahme wegen mutmaßlichen Landesverrats. In: generalbundesanwalt.de. 26. Januar 2023, abgerufen am 26. Januar 2023.
- ↑ На «КАМАЗе» побывала делегация из Сьерра-Леоне. In: vestikamaza.ru. 25. Mai 2022, abgerufen am 3. Februar 2023 (russisch).
- ↑ Делегация Сьерра-Леоне на «КАМАЗе». In: riatauto.ru. 25. Mai 2022, abgerufen am 3. Februar 2023 (russisch).
- ↑ Делегации из Сьерра-Леоне показали, как на «КАМАЗе» собирают машины. In: chelny-biz.ru. 25. Mai 2022, abgerufen am 3. Februar 2023 (russisch).
- ↑ Bernhard Junginger: Berlin, die ewige Stadt der Spione. In: Augsburger Allgemeine. 8. Januar 2023, abgerufen am 9. Januar 2023.
- ↑ Can Merey: Vereitelte Terrorpläne: „Wir sind da sehr, sehr abhängig“ von Amerikanern. In: /presse-augsburg.de. 7. Januar 2023, abgerufen am 20. Januar 2023.