Massaker von Srebrenica
Das Massaker von Srebrenica war ein Kriegsverbrechen während des Bosnienkriegs, bei dem in der Gegend von Srebrenica im Juli 1995 bis zu 8.000 bosnische Muslime – vor allem Männer – getötet wurden. Verübt wurde es unter der Führung von Ratko Mladić von der Armee der Republika Srpska, der Polizei und serbischen Paramilitärs. Die Gräueltaten zogen sich über mehrere Tage hin und verteilten sich auf eine Vielzahl von Tatorten in der Nähe von Srebrenica. Die Täter verscharrten Tausende Leichen in Massengräbern. Mehrfache Umbettungen in den darauf folgenden Wochen sollten die Taten verschleiern.
Seit Ende des Bosnienkrieges wurden die Überreste von mehr als 5.000 Opfern exhumiert. Unter diesen befinden sich rund 70 Prozent nicht identifizierte Opfer. Ca. 1600 Leichen konnte bislang identifiziert werden. Auf den Tag genau neun Jahre später wurden 338 muslimische Opfer in der Gedenkstätte Potočari erneut beigesetzt.
Es gilt als sicher, dass das Massaker von langer Hand vorbereitet war. Der 2004 festgenommene Ljubiša Beara wird als Cheflogistiker der Morde vermutet.[1] Anfang Oktober 2005 legte eine Sonderarbeitsgruppe der bosnisch-serbischen Regierung dem Kriegsverbrechertribunal eine Liste von etwa 19.500 Personen vor, die sich am Mord auf irgendeine Art und Weise direkt beteiligt haben sollen.
Die Ereignisse vom Juli 1995 gelten als das schlimmste Massaker in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Das Gerichtsurteil gegen Radislav Krstić bezeichnet dieses Verbrechen als Völkermord. [2][3][4]
Vorgeschichte
Militärische Auseinandersetzungen bis April 1993
Im Bosnienkrieg fanden in der Region Ostbosnien, zu der auch die Stadt Srebrenica gehört, militärische Auseinandersetzungen zwischen den bewaffneten Einheiten der bosnischen Serben und der Bosniaken statt.
Zusammen mit Paramilitärs gelang es dem bosnisch-serbischen Militär im Frühjahr 1992 erstmals, die Kontrolle über Srebrenica zu gewinnen, deren Bevölkerung sich zu fast drei Vierteln aus Bosniaken zusammensetzte. Die Herrschaft der bosnischen Serben dauerte nur einige Wochen. Bosniakische Militäreinheiten unter der Führung von Naser Orić eroberten die Stadt Anfang Mai 1992 zurück.
Die umliegenden Regionen blieben in der Hand der bosnischen Serben, die Srebrenica erneut belagerten. Die bosniakischen Einheiten starteten aus der Stadt heraus Gegenoffensiven und Überfälle auf umliegende serbische Dörfer, die als Stützpunkte der Belagerer dienten. Es gelang den Bosniaken hierbei bis Januar 1993, das bosniakisch kontrollierte Gebiet um Srebrenica herum auf ein Maximum von ca. 900 Quadratkilometern auszudehnen. Die Belagerung konnten sie dadurch jedoch nicht durchbrechen.
Insbesondere Truppen unter Naser Orić werden mit Bezug auf die Überfälle und Gegenoffensiven für Kriegsgräuel gegen bosnische Serben verantwortlich gemacht. Die Angaben über die Opferzahlen von 1992 bis 1995 schwanken dabei. In den letzten Jahren wurde in serbischen Medien von 1.000 bis 3.000 Opfer gesprochen. Die Dokumentation des niederländischen Instituts für Kriegsdokumentation geht von mindestens 1.000 serbischen Zivilisten aus. Das Research and Documentation Center in Sarajevo nennt eine Zahl von 424 bzw. 446 serbischen Soldaten und 119 serbischen Zivilisten.[5]
Im Frühjahr 1993 reorganisierte sich das bosnisch-serbische Militär. Seine erfolgreichen Offensiven reduzierten den Einflussbereich der Bosniaken bis März 1993 wieder auf ca. 150 Quadratkilometer. Bosniaken aus der Region um Srebrenica flüchteten im Zuge dieser Kampfhandlungen in die Stadt, deren Einwohnerzahl dadurch auf 50.000 bis 60.000 anstieg.
General Philippe Morillon, Kommandant der UNPROFOR in Bosnien, besuchte die von Flüchtlingen überfüllte Stadt vom 11. bis 13. März 1993. Die Lebensbedingungen in Srebrenica waren zu diesem Zeitpunkt kritisch: Die Trinkwasser- und Stromversorgung war weitgehend zusammengebrochen, Vorräte an Nahrung und Medikamenten waren sehr knapp, genauso wie Wohnraum. Vor seiner Abreise versprach Morillon den Einwohnern öffentlich, Srebrenica werde unter den Schutz der Vereinten Nationen gestellt; die UNO werde Srebrenica und seine Einwohner nicht im Stich lassen.
Im März und April 1993 wurden unter der Aufsicht des UNHCR Tausende Bosniaken aus Srebrenica evakuiert. Die bosnische Regierung in Sarajevo protestierte gegen diese Evakuierungen, weil diese Maßnahmen aus ihrer Sicht die Politik der ethnischen Säuberungen in Ostbosnien begünstigte.
Am 13. April 1993 teilten die bosnisch-serbischen Militärs Vertretern des UNHCR mit, sie würden Srebrenica angreifen, falls sich die Bosniaken nicht innerhalb von zwei Tagen ergeben würden.
Einrichtung der Schutzzone
Als Reaktion auf diese Bedrohungslage verabschiedete der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen am 16. April 1993 die Resolution 819. Sie forderte von allen Parteien, Srebrenica und die umliegende Region als safe area, als Schutzzone zu betrachten. Jeder Angriff auf Srebrenica und jeder andere „unfreundliche Akt“ gegenüber dieser Schutzzone müsse unterbleiben. Am 18. April rückten die ersten UNPROFOR-Einheiten in Srebrenica ein. Der Sicherheitsrat unterstrich den Status Srebrenicas als Sicherheitszone am 6. Mai 1993 durch Resolution 824 und am 4. Juni 1993 durch Resolution 836. Resolution 836 gestattete dabei die Anwendung von Waffengewalt durch UNPROFOR-Soldaten für Zwecke der Selbstverteidigung.
Nach Blauhelm-Angaben gelang die geforderte Demilitarisierung der bosniakischen Einheiten innerhalb der Schutzzone weitgehend, aber nicht vollständig. Während schweres Militärgerät bis auf einige Hubschrauber und wenige Minenwerfer abgeliefert wurde, weigerten viele Bosniaken sich, leichte Waffen herauszugeben. Die umliegenden, gut ausgerüsteten bosnisch-serbischen Einheiten verweigerten die Umsetzung der Demilitarisierungsbestimmungen vollständig und attackierten Srebrenica weiterhin.
Im Frühjahr 1995 verschlechterte sich die prekäre Lage für die Flüchtlinge und die Blauhelmsoldaten erneut deutlich. Immer mehr Hilfskonvois für Srebrenica wurden durch bosnisch-serbische Verbände blockiert. Davon waren sowohl die eingeschlossenen Flüchtlinge als auch die UN-Soldaten betroffen, deren Vorräte sich ebenfalls stark reduzierten. Wenn Angehörige der Blauhelm-Truppe die Schutzzone Srebrenica verließen, um Material- und Lebensmittelnachschub für die UNPROFOR zu organisieren, wurde ihnen anschließend die Rückkehr in die Schutzzone durch bosnisch-serbische Einheiten verweigert. Auf diese Weise sank die Zahl der niederländischen Blauhelme in der Schutzzone von anfänglich 600 auf ca. 450 bis 400.
Radovan Karadžić erließ Anfang März 1995 an die bosnisch-serbische Armee die „Direktive 7“. In ihr forderte der Präsident der Republika Srpska durch gut geplante und durchdachte Militäroperationen eine unerträgliche Lage völliger Unsicherheit herbeizuführen. Den Eingeschlossenen sollte keine Hoffnung auf Überleben oder Leben in der Schutzzone Srebrenica gelassen werden.
Mehrere drängende Appelle der Eingeschlossenen, einen Korridor für Hilfslieferungen zu öffnen, blieben erfolglos. Anfang Juli starben Einwohner Srebrenicas an Hunger und Entkräftung. Bereits seit März 1995 beobachteten Blauhelme Vorbereitungen der bosnisch-serbischen Armee für Angriffe auf UN-Beobachtungsposten am Rand der Schutzzone.
Einmarsch der bosnisch-serbischen Einheiten in die Schutzzone
Der Einmarsch der bosnisch-serbischen Armee und Paramilitärs in die Schutzzone erfolgte im Juli 1995 aus südlicher Richtung. Am 9. Juli waren sie nur noch einen Kilometer von der Stadtgrenze entfernt. Widerstand von bosniakischen Truppen oder UNPROFOR-Einheiten blieb fast völlig aus. Das ermunterte Karadžić, den bosnisch-serbischen Verbänden die Erlaubnis zur Einnahme der Stadt zu erteilen.
In Anbetracht dieser Eskalation forderte der Kommandant der Blauhelme, Thomas Karremans mehrfach NATO-Luftunterstützung an. Umfassende Luftunterstützung blieb jedoch aus. Zwei Flugzeuge der NATO bombardierten einen Panzer der bosnischen Serben und setzten diesen außer Gefecht. Sofort darauf drohten die bosnischen Serben, bei Fortsetzung von NATO-Luftangriffen würden sie die UNPROFOR-Soldaten, die sie bereits interniert hatten, ermorden. Ferner würden sie die zusammengedrängten Flüchtlingsmassen gezielt unter Beschuss nehmen. Daraufhin wurden alle Bemühungen, die eindringenden bosnisch-serbischen Truppen durch NATO-Luftangriffe zu stoppen, eingestellt.
Das Massaker
Flucht der Bosniaken nach Potočari
Nachdem die bosnisch-serbischen Einheiten die Kontrolle in Srebrenica übernommen hatten, flohen Tausende der bosniakischen Einwohner nach Potočari, einen nördlichen Nachbarort noch innerhalb der Schutzzone, um dort auf dem Gelände der Blauhelme Schutz zu suchen. Am Abend des 11. Juli 1995 befanden sich in Potočari ca. 20.000 bis 25.000 bosniakische Flüchtlinge. Mehrere Tausend drängten sich auf dem Blauhelm-Gelände, während der Rest sich auf benachbarte Fabriken und umliegende Felder verteilte. Obwohl die überwältigende Mehrheit Frauen, Kinder, Behinderte oder ältere Personen waren, schätzten Augenzeugen im Prozess gegen Krstić, dass auch ca. 300 Männer auf dem UN-Gelände und ca. 600 bis 900 weitere Männer in seiner unmittelbaren Nachbarschaft Schutz suchten.[6]
Die humanitäre Krise in Potočari (11. bis 13. Juli 2005)
Die Bedingungen in Potočari waren chaotisch. Am 12. Juli herrschte eine stickige Juli-Hitze. Nahrung und Wasser waren kaum vorhanden. Bosnisch-serbische Einheiten schossen auf Häuser in Sicht- und Hörweite der Flüchtlinge, sie feuerten ebenfalls gezielt auf die Menschenmenge in Potočari. Unter den Flüchtlingen breitete sich Angst, Entsetzen und Panik aus. In der Dämmerung spitzte sich diese Lage zu, weil bosnisch-serbische Soldaten Häuser und Felder in Brand setzten.
Bereits am Nachmittag hatten sich einzelne bosnisch-serbische Soldaten unter die Flüchtlinge gemischt, um diese mit massiven Drohungen und Gewalt unter Druck zu setzen. Zeugen im Verfahren gegen Krstić berichteten von vereinzelten Morden, die bereits am 12. Juli verübt wurden.
In der Dämmerung und in der Nacht intensivierte sich der Terror. Schüsse, Schreie und unheimliche Geräusche machten Schlaf unmöglich. Eine Reihe von Frauen und Mädchen wurde vergewaltigt. Bosnische Serben griffen einzelne Flüchtlinge aus der Menge heraus und führten sie ab. Manche kamen zurück, manche nicht. Einige Flüchtlinge begingen angesichts dieser Situation Selbstmord. In der Nacht vom 12. auf den 13. Juli sowie am nächsten Morgen breiteten sich die Schreckensnachrichten über Vergewaltigungen und Morde in der Menge der Flüchtlinge aus.
Abtransport der Frauen, Kinder und Alten
Am 12. und 13. Juli wurden die Frauen, Kinder und Alten in zum Teil völlig überfüllten und überhitzten Bussen, die von bosnisch-serbischen Soldaten kontrolliert wurden, von Potočari auf bosniakisch kontrolliertes Gebiet in der Nähe von Kladanj verbracht. Obwohl viele nicht wussten, wohin die Busse fuhren, waren sie froh, den Zuständen in Potočari entkommen zu können. Nach dem Ende der Busfahrt waren die Flüchtlinge gezwungen, zu Fuß noch einige Kilometer durch das Niemandsland zwischen den Linien zu überwinden, bis sie Kladanj schließlich erreichten.
Die niederländischen Blauhelm-Soldaten versuchen die Busse zu eskortieren, was ihnen nur beim ersten Konvoi gelang. Bosnisch-serbischen Einheiten hinderten sie bei den nachfolgenden Konvois daran. Die Fahrzeuge wurden den UN-Soldaten mit Waffengewalt abgenommen.
Am Abend des 13. Juli befand sich kein bosnischer Muslim mehr in Potočari. Am 14. Juli entdeckten die UN-Soldaten auf ihren Erkundungsgängen in der Stadt Srebrenica nicht einen lebenden Bosniaken.
Aussonderung der männlichen Bosniaken
Seit den Morgenstunden des 12. Juli begannen die bosnisch-serbischen Kräfte damit, Männer aus der Masse der Flüchtlinge auszusondern und an separaten Plätzen – eine Zink-Fabrik und ein Gebäude mit dem Namen „Weißes Haus“ – festzuhalten. Später wurden diese Männer mit Lastwagen und gesonderten Bussen von dort abtransportiert. Bosnisch-serbische Soldaten verwehrten männlichen Flüchtlingen im wehrfähigen Alter, gelegentlich auch Jüngeren und Älteren, das Besteigen der Busse. Die Art und Weise, wie die Selektionen durchgeführt wurden, war für die betroffenen Familien traumatisch, wie Zeugen im Krstić-Prozess in Den Haag berichteten. Die Busse, die die Frauen, Kinder und Älteren nach Kladanj transportierten, wurden auf dem Weg dorthin von bosnisch-serbischem Militär gestoppt und nach Männern durchsucht. Wurden dabei welche entdeckt, wurden diese abgeführt.
Am 12. und 13. Juli wurden UN-Soldaten in Potočari Zeugen von Morden an Bosniaken. Diese Morde verübten bosnische Serben in und hinter dem „Weißen Haus“.
Die Marschkolonne
Bereits angesichts der Flüchtlingskrise in Potočari vom Abend des 11. Juli kamen unter den Bosniaken Überlegungen auf, einen gemeinsamen Fluchtversuch zu unternehmen. Dazu sollten sich die körperlich geeigneten Männer sammeln und zusammen mit Mitgliedern der 28. Division der Armee Bosnien-Herzegowinas (ABiH) eine Kolonne formen. Diese sollte versuchen, nordwestlich durch die Wälder in Richtung Tuzla bzw. muslimisch kontrolliertes Gebiet durchzubrechen. Insbesondere die jüngeren Männer fürchteten ihre Ermordung, würden sie den serbisch-bosnischen Kräften in Potočari in die Hände fallen.
Die Marschkolonne formierte sich in der Nähe der Ortschaften Jaglici und Šušnjari. Zeugen schätzten ihre Größe auf 10.000 bis 15.000 Mann. Rund ein Drittel der Kolonne bestand aus Mitgliedern der 28. Division. Nicht alle dieser Mitglieder waren bewaffnet. Waffen, militärische Disziplin und militärisches Training dieser Division waren armselig.[7] Einheiten der 28. Division bildeten die Spitze der Kolonne. Daran schlossen sich Zivilisten an, durchmischt mit Soldaten. Den Schluss bildete das Unabhängige Bataillon der 28. Division.
Wenige Frauen, Kinder und Alte gehörten ebenfalls zur Kolonne. Wenn sie später von bosnisch-serbischen Kräften gefangen wurden, wurden sie ebenfalls den Bussen zugeführt, die von Potočari in Richtung Kladanj unterwegs waren.
In der Nacht vom 11. auf den 12. Juli, gegen Mitternacht, setzte sich die Kolonne in Marsch. Am 12. Juli starteten bosnisch-serbische Militäreinheiten einen schweren Artillerie-Angriff auf die Kolonne, als diese versuchte, eine Asphaltstraße in der Nähe von Nova Kasaba zu überqueren. Die Kolonne wurde dadurch gespalten. Nur ca. einem Drittel gelang die Querung. Während des ganzen Tages und in der Nacht nahmen bosnisch-serbische Einheiten den blockierten Teil der Kolonne unter Feuer. Überlebende aus diesem hinteren Teil der Kolonne bezeichneten diese Attacken als „Menschenjagd“.
Am Nachmittag und Frühabend des 12. Juli machten die bosnisch-serbischen Einheiten eine große Anzahl von Gefangenen unter denjenigen, die zum hinteren Teil der Kolonne gehörten. Dazu nutzten sie unterschiedliche Taktiken. Zum Teil errichteten sie Hinterhalte. In anderen Fällen riefen sie in den Wald und drängten die Bosniaken zur Kapitulation; als Gefangene würden diese gemäß der Genfer Konventionen behandelt werden. Oft feuerten die bosnisch-serbischen Einheiten mit Luftabwehr-Waffen und anderem schwerem Gerät in die Wälder. Auch wurden gestohlene UNPROFOR-Materialien und -Gerätschaften (Fahrzeuge, Helme, Westen etc.) verwendet, um den Bosniaken zu suggerieren, UN-Soldaten oder das Rote Kreuz seien vor Ort, um die adäquate Behandlung von Gefangenen zu überwachen. Tatsächlich stahlen die bosnischen Serben die persönlichen Habseligkeiten ihrer bosniakischen Gefangenen, in einigen Fällen wurden Gefangene an Ort und Stelle exekutiert.
Die meisten Gefangenen machten die bosnisch-serbischen Einheiten am 13. Juli. Mehrere Tausend wurden auf einem Feld in der Nähe von Sandici sowie auf dem Fußballplatz von Nova Kasaba festgehalten.
Die Spitze der Kolonne, die die Straße überqueren konnte, wartete zunächst, was mit dem Rest der Kolonne passieren würde. Der schwere Beschuss der blockierten zweiten Gruppe dauerte am 12. Juli bis in die Nacht an, so dass in der Kolonnenspitze die Hoffnung sank, der Rest könne aufschließen. Am 13. Juli setzte die Spitze der Kolonne ihren Marsch in nordwestlicher Richtung fort. Auch sie geriet dabei in Hinterhalte und erlitt schwere Verluste. Am 15. Juli scheiterte der erste Versuch, auf muslimisch kontrolliertes Gebiet durchzubrechen. Dies gelang erst am darauf folgenden Tag und mit Unterstützung von Einheiten der ABiH, die aus Richtung Tuzla herangeführt wurden, um einen Korridor für die auftauchende Kolonne freizukämpfen.
Exekutionen
Die bosniakischen Männer, die in Potočari von den Frauen, Kindern und Älteren getrennt worden waren, wurden nach Bratunac transportiert. Später kamen zu dieser Gruppe auch Männer, die mit der Kolonne den kollektiven Fluchversuch durch die Wälder unternommen hatten, von den bosnischen Serben jedoch gefangen genommen wurden. Bei der Internierung in Bratunac gab es keine Versuche, diese beiden Personengruppen voneinander getrennt zu halten.
Die bosnisch-serbischen Sicherheitskräfte nutzten für die Internierung verschiedene Gebäude, zum Beispiel ein verlassenes Warenhaus und eine alte Schule, aber auch die Busse und Lastwagen, mit denen sie die Gefangenen nach Bratunac beförderten. In der Nacht wurden einzelne Gefangene heraus gerufen. Zeugen hörten Schmerzensschreie und Gewehrfeuer. Nach einem Zwischenaufenthalt in Bratunac von ein bis drei Tagen wurden die Bosniaken an andere Orte verbracht, sobald die Busse zur Verfügung standen, mit denen zuvor die Frauen, Kinder und Alten in Richtung des muslimisch kontrollierten Gebiets gefahren worden waren.
Fast ausnahmslos wurden alle bosniakischen Gefangenen hingerichtet. Manche wurden einzeln ermordet, andere in kleinen Gruppen bei ihrer Gefangennahme, und wieder andere wurden an den Orten ihrer Internierung umgebracht. Die meisten wurden allerdings in sorgfältig geplanten und durchgeführten Massenexekutionen getötet, die am 13. Juli in der Region nördlich von Srebrenica begannen. Gefangene, die am 13. Juli nicht getötet wurden, wurden an Exekutionsstätten nördlich von Bratunac transportiert. Die umfangreichen Massenexekutionen im Norden fanden zwischen dem 14. und 17. Juli statt.
Die meisten Massenexekutionen folgten einem einheitlichen Muster. Zunächst wurden die Opfer in leer stehenden Schulen oder Warenhäusern interniert. Nach einigen Stunden fuhren Busse oder Lastwagen vor und beförderten die Gefangenen an einen zur Exekution bestimmten Platz, der üblicherweise an einem abgelegenen Ort lag. Die Gefangenen waren stets unbewaffnet. In einigen Fällen wurden zusätzlich Maßnahmen ergriffen, um mögliche Widerstände zu minimieren. Dazu gehörte das Verbinden der Augen oder das Fesseln der Handgelenke hinter dem Rücken. Wenn die Busse oder Lastwagen an den Exekutionsstätten ankamen, mussten die Gefangenen sich aufreihen und wurden erschossen. Diejenigen, die die Salven überlebten, wurden weiteren Schüssen getötet. Schweres Erdräumgerät zum Verscharren der Leichen fuhr sofort im Anschluss an die Exekutionen auf, manchmal sogar schon während der Erschießungen. Die Massengräber wurden entweder direkt dort ausgehoben, wo die Erschossenen lagen, oder aber in unmittelbarer Nähe.
Primäre und sekundäre Massengräber
Bis 2001 identifizierten forensische Experten insgesamt 21 Massengräber, in denen sich nachweislich Opfer des Massakers von Srebrenica befanden. 14 von diesen Massengräbern sind so genannte primäre Massengräber, in denen die Getöteten direkt nach der Exekution verscharrt wurden. Von diesen 14 wurden acht später zerstört. Die Leichen wurden dabei entfernt und an anderer Stelle erneut verscharrt. Oft lagen diese so genannten sekundären Massengräber – bis 2001 wurden sieben entdeckt – in weiter entfernten Gegenden. Die Umbettungen erfolgten, weil die bosnisch-serbischen Täter die Massenmorde vertuschen wollten. Im Urteil gegen Krstić werden 18 weitere Massengräber erwähnt, die mit dem Massaker in Verbindung stehen, bis zum Ende des Prozesses gegen Krstić jedoch noch nicht untersucht werden konnten.
Die Rolle der Blauhelm-Soldaten
Die damals in der bosnischen UN-Schutzzone stationierten niederländischen UN-Blauhelmsoldaten unter dem Kommando des französischen UNO-Generals Bernard Janvier und des Oberkommandierenden der niederländischen Truppen in Bosnien, Hans Couzy, schützten die Einwohner nicht vor den bosnisch-serbischen Truppen. Der damalige Truppenchef der Kompanie, Thomas Karremans, stieß nach der Eroberung der Stadt durch die bosnisch-serbischen Truppen mit Ratko Mladić auf dessen Sieg an.
Der niederländische Verteidigungsminister Joris Voorhoeve hatte 1996 versucht, das Debakel als "fouten en foutjes" (Fehler und Fehlerchen) zu verharmlosen. Er konnte aber nicht glaubhaft widerlegen, dass die Blauhelmsoldaten sich ohne Gegenwehr von bosnisch-serbischen Soldaten Waffen und Fahrzeuge wegnehmen ließen.
Reaktionen
Aus Protest gegen die Aufgabe der Schutzzonen Srebrenica und Zepa trat der UN-Menschrechtsbeauftragte Tadeusz Mazowiecki am 27. Juli 1995 zurück.
Am 22. Januar 1996 bestätigte der US-Staatssekretär für Menschenrechtsfragen, John Shattuck, Berichte über Massengräber bei Srebrenica, in denen mehr als 2.000 vermisste Bosnier (Bosniaken und Serben) liegen sollen.
Aufgrund der Ergebnisse einer Untersuchung zum Verhalten der UN-Soldaten trat am 16. April 2002 die niederländische Regierung unter Wim Kok zurück.
Im Juni 2004 räumten Vertreter der Republika Srpska die Verantwortung bosnisch-serbischer Sicherheitskräfte an dem Mord von Srebrenica offiziell ein.
Das UN-Tribunal in Den Haag hat 14 Verdächtige angeklagt; davon wurden vier verurteilt.
Filmaufnahmen
Ende Mai 2005 tauchten im Internet Filmaufnahmen einer Sondereinheit der bosnisch-serbischen Polizei auf und lenkten so erneut große Aufmerksamkeit auf das Verbrechen. Laut dem serbischen Innenminister Dragan Jocic trug sich die aufgezeichnete Erschießung der sechs Einwohner von Srebrenica am 16. oder 17. Juli 1995 aber unweit des Dorfes Trnovo am Berg Jahorina zu (zirka 150 Kilometer südöstlich von Srebrenica in der Nähe von Sarajevo).
Zweifel, Relativierung und Leugnung
Lange Zeit wurde in den serbischen Medien das Massaker von Srebrenica geleugnet. Auch in westlichen Print- oder Onlinepublikationen wurde gelegentlich die Behauptung aufgestellt, die Ereignisse hätten nicht stattgefunden. Meist gehören die Autoren entsprechender Veröffentlichungen dem linksextremen, vereinzelt auch dem rechtsextremen politischen Spektrum an.
In Deutschland stellt beispielsweise die im Verfassungsschutzbericht des Bundes 2004 als "bedeutendes Printmedium im linksextremistischen Bereich" bezeichnete Tageszeitung Junge Welt die Ereignisse in Frage. Die ebenfalls der radikalen Linken zugehörige Zeitschrift Jungle World veröffentliche wiederholt ähnliche Thesen. Im englischsprachigen Raum werden die Geschehnisse sowohl von einigen Publizisten der radikalen Linken als auch von Autoren aus dem rechtskonservativen Lager relativiert.
Der Terminus Völkermord zur Bezeichnung des Geschehens wird abgelehnt, denn nur männliche Personen seien dem Massaker zum Opfer gefallen, keinesfalls alle bosniakischen Flüchtlinge. Im Gerichtsurteil gegen Radislav Krstić wird allerdings betont, dass die systematischen Morde an der männlichen Bevölkerung einen katastrophalen Einfluss auf die stark patriarchalisch strukturierten Familien der Bosniaken Srebrenicas hatten und damit diese ethnische Gruppe zerstörte.[8]
Häufig wird die Gesamtzahl der ermordeten Bosniaken relativiert. Statt von 7.000 – 8.000 Opfern sei von einer deutlich niedrigeren Zahl auszugehen. Gestützt wird dies unter anderem mit der Behauptung, 1996 seien Wählerverzeichnissen zu Wahlen in Bosnien_und_Herzegowina 3.000 Vermisste und angeblich Tote wieder aufgetaucht.[9] Im Gerichtsverfahren gegen Radislav Krstić wurde festgestellt, dass diese Behauptung nicht den Tatsachen entspricht.[10] Die angebliche Übertreibung der Opferzahlen habe zum Zweck, die serbische Seite zu dämonisieren und von Verbrechen gegen Serben abzulenken, in der Region Srebrenica selbst oder zu anderen Gelegenheiten, wie etwa während der "Operation Sturm" .
Einige der zweifelnden Autoren streiten vereinzelte Massaker nicht ab, betonen jedoch, dass diese nicht gezielt und systematisch vorgenommen worden seien. Die Taten seien allein „von marodierenden serbischen Einheiten zu verantworten. Viele der Soldaten kamen aus der Region um Srebrenica und wollten den Tod von Angehörigen rächen, die zuvor bei moslemischen Überfällen getötet worden waren.“[11] Die Beweise für die systematische Planung und Durchführung des Verbrechens sind jedoch in den Prozessen vor dem UN-Kriegsverbrechertribunal aktenkundig.
Zweifel an der etablierten Darstellung der Ereignisse werden auch vorgebracht, weil seit Juli 1995 Tausende von Leichen nicht gefunden bzw. exhumiert wurden. Von den Exhumierten wiederum ist bislang nur eine Minderheit identifiziert. Entgegen gehalten werden muss solchen Zweifeln die bewusste Vertuschung der Tat durch mehrfache Umbettungen von Leichen. Die forensischen Untersuchungen sind dadurch komplex und zeitraubend.[12]
In vielen Fällen gehen Zweifel, Relativierung und Leugnung des Massakers von Srebrenica mit Annahmen über eine groß angelegte politische und mediale Verschwörung gegen Serben einher.
Quellen
- ↑ Bericht von TRAIL über Ljubiša Beara
- ↑ Bericht von TRAIL über das Verfahren gegen Krstić
- ↑ Erstinstanzliches Urteil gegen Krstić
- ↑ Urteil im Berufungsverfahren gegen Krstić
- ↑ Reasearch and Documentation Center Sarajevo zu den Opferzahlen unter den Serben in der Region Bratunac/Srebrenica zwischen April 1992 and Dezember 1995
- ↑ Zum Ablauf des Massakers siehe: Erstinstanzliches Urteil gegen Krstić, S. 12-27
- ↑ UNO-Bericht zum Fall der Schutzzone und zum Massaker von Srebrenica, Abschnit 476
- ↑ Erstinstanzliches Urteil gegen Krstić, Seite 29-31.
- ↑ Zweifelnder Bericht der US-amerikanischen International Strategic Studies Association
- ↑ Aussage von Helge Brunborg über die Anzahl der nach dem Massaker von Srebrenica vermissten Personen und über Wählerlisten
- ↑ Jürgen Elsässer, Mladics letzter Kampf. Falsche Vorwürfe wegen der Eroberung Srebrenicas 1995, in junge welt, 23.02.2006
- ↑ „Die Welt“, 11.07.2005 über die Schwierigkeiten forensischer Untersuchungen in Bosnien-Herzegowina
Literatur
- Julija Bogoeva, Caroline Fetscher: „Srebrenica. Dokumente aus dem Verfahren gegen General Radislav Krstić vor dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag“, Suhrkamp, ISBN 3-7718-1075-2
- David Rohde: „Die letzten Tage von Srebrenica. Was geschah und wie es möglich wurde.“ Rowohlt, ISBN 3-499-22122
- Jan Willem Honig, Norbert Both: „Srebrenica: der größte Massenmord in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg“, Lichtenberg, ISBN 3-7852-8409-8
Weblinks
- Dokumentation des "Nederlands Instituut voor Oorlogsdocumentatie" (Niederländisches Institut für Kriegsdokumentation), englisch
- ICTY Anklage gegen Karadžić und Mladić
- UNO-Bericht zum Fall der Schutzzone und zum Massaker von Srebrenica, in fünf Sprachen zur Auswahl
- Zusammenfassung der forensischen Untersuchungen über Exekutionsstätten und Massengräber zum Massaker von Srebrenica („Mannig Report“)
- Analysen einer amerikanischen Expertenkommission (Srebrenica Research Group)
- umfangreiches Dossier der "Zeit"
- Arbeiterfotografie: Kritische Auseinandersetzung mit den Vorgängen von Srebrenica und der Berichterstattung in den Medien
- Srebrenica Genocide Blog - Facts vs. Genocide Denial