Tagebuch der Anne Frank
Das Tagebuch der Anne Frank ist ein ungewöhnliches Werk der Weltliteratur. Das jüdische Mädchen Anne Frank verfasste die Aufzeichnungen, während sie sich mit ihrer Familie während des Zweiten Weltkriegs in einem Hinterhaus in Amsterdam versteckt hielt, um dem Völkermord der Nationalsozialisten zu entgehen. Nach Annes Tod im KZ Bergen-Belsen veröffentlichte ihr Vater Otto Frank das Tagebuch, das in viele Sprachen übersetzt wurde und die Autorin zu einem der bekanntesten und am meisten diskutierten Opfer des Holocaust werden ließ.
Entstehung
Zu ihrem 13. Geburtstag erhielt Anne Frank am 12. Juni 1942 ein kleines Notizbuch, das sie ihrem Vater einige Tage zuvor in einem Schaufenster gezeigt hatte. Obwohl das in rot-weißen Stoff eingebundene und mit einem kleinen Schloss an der Vorderseite versehene Buch eigentlich als Poesiealbum gedacht war, nutzte Anne es als Tagebuch. Nach einer kurzen Einleitung am 12. Juni begann sie zwei Tage nach ihrem Geburtstag mit den ersten Einträgen, in denen sie sich selbst, ihre Familie und Freunde, ihren Schulalltag im Lyzeum und bevorzugte Plätze in der Nachbarschaft beschrieb. Neben diesen Bemerkungen über ihr privates Leben äußerte sie sich – mehr oder weniger nebensächlich – auch zu den Veränderungen, die den Juden im niederländischen Exil das Leben zunehmend erschwerten. Sie schrieb über den Judenstern, den sie in der Öffentlichkeit tragen mussten, und nannte einige der Restriktionen, denen sie während der deutschen Besetzung unterworfen waren.
Besondere Bedeutung erlangte das Tagebuch ab dem 6. Juli 1942, dem Tag, an dem sich die Familie Frank in das Hinterhaus in der Prinsengracht 263 zurückzog. Je länger der Aufenthalt im Versteck dauerte, desto angespannter wurde die Situation. Die Langeweile des Alltags und die Einschränkungen sorgten für immer intensivere Konflikte zwischen den Juden. Da Anne nun keinen Kontakt zu ihren eigentlichen Freunden haben durfte, entwickelte sich das Tagebuch zu ihrer wichtigsten Begleiterin und Freundin während der schweren Zeit. Ab Ende September schrieb sie ihre Einträge in Briefform. Sie adressierte ihre Gedanken an verschiedene Mädchennamen (Kitty, Conny, Emmy, Pop und Marianne), die sie aus dem beliebten Fortsetzungsroman Joop ter Heul von Cissy van Marxveldt kannte. Die Heldin dieser Geschichten, die eigenwillige Joop, verfasst auch ein Tagebuch und erzählt ihren Freundinnen von ihren Sorgen und Liebesbeziehungen. Zunächst schrieb Anne über diverse Erlebnisse in ihrem ungewöhnlichen Alltag – die Enge des Verstecks, schöne Überraschungen wie beim Chanukka-Fest und die Konflikte mit den Mitbewohnern (v.a. Fritz Pfeffer) und mit ihrer Mutter. Anne fühlte sich oft missverstanden, wenn die anderen sie als vorlaut und unbescheiden kritisierten. Das Tagebuch wurde für das heranwachsende Mädchen zum Mittelpunkt des Lebens. In der überarbeiteten Einleitung brachte sie ihren Wunsch nach einem wahren Freund zum Ausdruck, einer Person, der sie ihre intimsten Gedanken und Gefühle anvertrauen könnte. Sie stellte fest, dass sie mehrere „Freunde“ und ebenso viele Verehrer habe, aber (nach ihrer eigenen Definition) keinen echten Freund. Jacqueline van Maarsen konnte diesen Anspruch nur teilweise erfüllen. „Hello“ Silberberg hätte vielleicht solch ein Freund werden können, auch wenn sie eine Liebesbeziehung zu ihm leugnete. So blieb ihr Tagebuch der engste Freund. In den Einträgen kann man nachvollziehen, wie Anne ihre eigene Sexualität entdeckt und aufkeimende Gefühle der Liebe zu Peter van Pels beschreibt; der zuvor kritisierten Mitbewohner enttäuschte sie jedoch. Während der 25 Monate im Versteck vertraute sie dem Tagebuch alle Ängste und Hoffnungen an. Es wird deutlich, wie das Mädchen, das sich manchmal in ihren Träumen verlor, zu innerer Festigkeit heranreifte.
Anne zeigte schon immer ein ausgeprägtes Interesse am Lesen und Schreiben, das auch von ihrem Vater gefördert wurde. Während des Aufenthalts im Hinterhaus konsumierte sie zahlreiche Bücher, wodurch sie ihre literarischen Kenntnisse und ihre schriftstellerischen Fertigkeiten stetig verbesserte. Mit der Zeit wurden ihre Tagebuch-Einträge komplexer und sie äußerte sich auch zu abstrakten und schwierigen Themen wie z.B. den Glauben an Gott. Sie sprach von ihren Bestrebungen, einmal als Schriftstellerin berühmt zu werden. Neben ihrem Tagebuch begann sie, andere literarische Werke zu schreiben und offenbarte dabei Qualitäten, die angesichts ihres jungen Alters als überdurchschnittlich einzuschätzen sind.
Anne begann ihr Tagebuch als privaten Ausdruck ihrer Gedanken und Gefühle, die keiner lesen durfte, wie sie mehrmals betonte. Am 29. März 1944 änderte sie ihren Plan jedoch. Im Radio hörte sie, wie Gerrit Bolkenstein, der Minister für Bildung, Kunst und Wissenschaft bei der niederländischen Exilregierung, davon sprach, dass er nach Ende des Krieges eine öffentliche Dokumentation über die Unterdrückung der Niederländer unter deutscher Besatzung produzieren wolle. Zu diesem Zweck sollte möglichst viel alltägliches Material - Briefe, Tagebücher etc. - beitragen. Anne gefiel diese Idee und sie bereitete ihr Tagebuch für eine Veröffentlichung vor. Im Mai begann sie, ihre Einträge zu überarbeiten. Sie entfernte und veränderte einige Abschnitte, die ihrer Meinung nach uninteressant oder zu intim für die Öffentlichkeit waren. Außerdem adressierte sie nun alle Einträge einheitlich an ihre imaginäre Freundin Kitty, die seit den Einträgen des zweiten Teils, also seit November 1942 ihre Ansprechpartnerin war.
Bezüglich der Identität dieser Kitty gab es viele Mutmaßungen. 1986 schrieb der Kritiker Sietse van der Hoech, dass der Name sich auf Kitty Egyedi, eine Freundin der Franks aus Vorkriegszeiten, beziehe. Er könnte seine Informationen aus der 1970 von der Anne Frank Foundation veröffentlichten Schrift A Tribute to Anne Frank haben, in deren Vorwort der damalige Vorsitzende Henri van Praag ein reales Vorbild für diesen Charakter vermutete und dies durch ein Gruppenfoto untermauerte, auf dem Anne mit Sanne Ledermann, Hanneli Goslar und Kitty Egyedi zu sehen war. Anne erwähnte diese Kitty jedoch nie in ihren Aufzeichnungen (Das einzige Mädchen aus der auf diesem oft abgedruckten Foto gezeigten Gruppe, das im Tagebuch erwähnt wird, ist Mary Bos, von deren Zeichnungen Anne 1944 träumte.) und der einzige vergleichbare Fall von nicht aufgegeben Briefen, die Anne an eine wirkliche Freundin schrieb, waren zwei Abschiedsbriefe an Jacqueline van Maarsen vom September 1942. Theodore Holman antwortete Sietse van der Hoech, dass der Tagebuch-Eintrag vom 28. September 1942 den fiktionalen Ursprung des Charakters beweise. Jacqueline van Maarsen stimmte zu, aber Otto Frank war der Meinung, seine Tochter habe an ihre reale Bekannte gedacht, als sie an jemanden von gleichem Namen schrieb. Kitty Egyedi sagte in einem Interview, sie fühle sich durch die Annahme geschmeichelt, bezweifle aber, dass das Tagebuch an sie adressiert sei: „Kitty wurde so idealisiert und führte ihr eigenes Leben im Tagebuch, dass es letztlich egal ist, wer mit Kitty gemeint ist. Der Name […] bezieht sich nicht auf mich.“
Um die Anonymität der Beteiligten zu wahren, dachte sich Anne für alle Bewohner des Hinterhauses Pseudonyme aus. So wurde aus der Familie van Pels die Familie van Daan und Fritz Pfeffer nannte sie – aus Ärger über die Störung ihrer Privatsphäre durch den Zahnarzt – Albert Dussel. Für ihre eigene Familie plante sie die Pseudonyme van Aulis oder Robin, die jedoch später keine Verwendung fanden.
Veröffentlichung
Im Gegensatz zur Autorin überlebte Annes Tagebuch den Krieg. Ihr letzter Eintrag stammt vom 1. August 1944, drei Tage vor ihrer Verhaftung. Als der SD-Beamte Karl Josef Silberbauer ins Hinterhaus kam, um die verratenen Juden festzunehmen, verstreute er die Blätter mit Annes Aufzeichnungen achtlos auf dem Boden, ohne zu ahnen, worum es sich dabei handelt. Miep Gies, die den Versteckten immer geholfen hatte und im Gegensatz zu den Firmen-Mitarbeitern Kugler und Kleimann nicht von den Nationalsozialisten verhaftet wurde, fand die Blätter nach ihrer Rückkehr in die Prinsengracht und verstaute sie in einer Schublade, um sie nach dem Krieg an Anne oder ihre Familie zurückzugeben.
Otto Frank überlebte als einziger der Hinterhaus-Bewohner und kehrte nach Amsterdam zurück, wo er erfuhr, dass seine Frau Edith gestorben sei und dass man seine Töchter ins KZ Bergen-Belsen deportiert habe. Er hoffte, dass Anne und Margot überlebt hätten, aber im Juli 1945 bestätigte das Rote Kreuz den Tod der beiden Mädchen. Dann erst übergab Miep Gies ihm das Tagebuch. Otto las es und sagte später, ihm sei nicht bewusst gewesen, dass Anne eine derart akkurate und gut geschriebene Aufzeichnung ihrer gemeinsamen Zeit bewahrt habe. Als man ihn Jahre später nach seiner ersten Reaktion fragte, sagte er: „Ich wusste gar nicht, dass meine kleine Anne so tief war.“ Bewegt durch den Wunsch seiner Tochter, Schriftstellerin zu sein, begann er, eine Veröffentlichung zu planen.
Otto Frank benutzte für die erste veröffentlichte Ausgabe Annes ursprüngliches Tagebuch, das man heute als Version A bezeichnet, und ihre auf 324 Einzelblättern überarbeitete Fassung (Version B). Das Manuskript umfasst drei Bände. Der erste Teil reicht vom 12. Juni 1942 bis zum 5. Dezember 1942. Da der zweite Teil jedoch erst über ein Jahr später beginnt und bis zum 17. April 1944 reicht, ist zu vermuten, dass die Aufzeichnungen von Dezember 1942 bis Dezember 1943 verloren gegangen sind. Allerdings wird die fehlende Periode durch die von Anne überarbeitete Version abgedeckt. Die fehlenden Originale könnten in der Unruhe bei der Verhaftung verschwunden sein oder wurden vielleicht von Anne nach der Überarbeitung verbrannt. Der letzte Teil enthält die Einträge vom 17. April bis zum 1. August 1944.
Otto Frank entfernte einige Passagen, in denen Anne kritisch über ihre Mutter sprach, und Abschnitte, die sich auf Annes Sexualität bezogen. Er übernahm die meisten der von Anne erdachten Pseudonyme, stellte aber die Identitäten der eigenen Familie wieder her. Das Material umfasste neben Annes erstem Notizbuch, das sie zum Geburtstag bekommen hatte, weitere Hefte und zahlreiche lose Blätter. Die Tagebucheinträge wiesen anfänglich nicht die chronologische Reihenfolge von Daten auf, der wir in den gedruckten Fassungen begegnen. Heutige Auflagen umfassen auch jene Einträge, die der Vater aus privat-familiären Gründen nicht publizierte.
Nachdem er eine Abschrift an seine Verwandten in der Schweiz geschickt hatte, übergab Otto Frank das Tagebuch an die Historikerin Anne Romein, die erfolglos versuchte, es zu veröffentlichen. Sie reichte es an ihren Gatten Jan Romein weiter. Dieser verfasste einen Bericht über das Tagebuch, der am 3. April 1946 unter der Überschrift Kinderstem (Kinderstimme) in der Zeitung Het Parool erschien. Er schrieb: „Dieses scheinbar inkonsequente Tagebuch eines Kindes, dieses in einer Kinderstimme gestotterte de profundis, verkörpert die Grässlichkeit des Faschismus besser als alle Beweise von Nürnberg zusammen.“ [1] Der Bericht weckte das Interesse der Verleger von Contact Publishing in Amsterdam, die das Tagebuch 1947 (und in einer zweiten Auflage 1950) unter dem Titel Het Achterhuis: Dagboekbrieven van 12 Juni 1942 – 1 Augustus 1944 (Das Hinterhaus) veröffentlichten, nachdem sie Otto Frank nahe gelegt hatten, einige Passage über Annes Sexualität wegen zu erwartender Proteste aus konservativen Kreisen zu streichen. Diese Ausgabe bezeichnet man heute als Version C. Das Buch, das später in Deutschland als Das Tagebuch der Anne Frank und 1952 in der von Barbara Mooyaart-Doubleday übersetzten englischsprachigen Ausgabe als The Diary of a Young Girl erschien, wurde zu einem Bestseller und lieferte die Grundlage für zahlreiche Filme, Theateraufführungen u.ä.
Da das Tagebuch mit der Verhaftung im Anfang August 1944 abbricht, spielt Annes überlebender Vater in den literarischen Ausarbeitungen späterer Künstler eine Erzählerrolle, obwohl Anne selbst bereits begonnen hatte, ihr Tagebuch für eine spätere Dokumentation etwas umzuschreiben. Einige Veröffentlichungen von Begleitumständen und mit Deutungen stammen von Miep Gies, von anderen Freunden wie Hannah Goslar und Jacqueline van Maarsen bzw. von Schriftstellern.
1986 veröffentlichte das Niederländische Institut für Kriegsdokumentation (Nederlands Instituut voor Oorlogsdocumentatie, NIOD), dem Otto Frank die Rechte vermacht hatte, eine kritische Ausgabe des Tagebuchs. Diese Ausgabe präsentiert alle bekannten Versionen, ob editiert oder nicht, im Vergleich. Sie beinhaltet außerdem eine Diskussion über die Authentizität des Werkes und zusätzliche historische Informationen über die Familie und das Tagebuch.
1999 verkündete Cornelis Suijk, ein ehemaliger Direktor der Anne Frank Foundation und Präsident des U.S. Center for Holocaust Education Foundation, dass er im Besitz von fünf Seiten sei, die Otto Frank vor der Veröffentlichung aus dem Tagebuch entfernt habe. Suijk behauptete, dass Otto Frank ihm diese Seiten kurz vor seinem Tod 1980 gegeben habe. Die fehlenden Tagebuch-Einträge enthielten kritische Bemerkungen von Anne über die Ehe ihrer Eltern und zeigen ihr angespanntes Verhältnis zur Mutter. [2] Als Suijk die Veröffentlichungsrechte für diese fünf Seiten beanspruchte und ankündigte, sie verkaufen zu wollen, um Geld für seine U.S. Foundation zu erwerben, kam es zum Konflikt. Das NIOD verlangte als formeller Eigentümer des Manuskripts die Übergabe der Seiten. Im Jahr 2000 erklärte sich das niederländische Ministerium für Bildung, Kultur und Wissenschaft bereit, 300.000 $ an Suijks Stiftung zu spenden, und 2001 wurden die Seiten zurückgegeben. Seitdem erscheinen sie in neueren Ausgaben des Tagebuchs.
Literarisches Werk des Holocaust und Charakterstudie
In ihrer Einleitung zur ersten amerikanischen Ausgabe des Tagebuchs beschrieb Eleanor Roosevelt es als „einen der weisesten und bewegendsten Kommentare zum Krieg und seinen Auswirkungen auf die Menschen, den ich jemals gelesen habe“. Der sowjetische Autor Ilja Grigorjewitsch Ehrenburg sagte später: „Eine Stimme spricht für sechs Millionen – nicht die Stimme eines Weisen oder eines Poeten, sondern die eines gewöhnlichen kleinen Mädchens.“ [3] Als Anne Franks Ansehen als Schriftstellerin und Humanistin stieg, wurde sie vor allem als Symbol des Holocaust oder allgemeiner als Verfolgte diskutiert. Hillary Clinton las 1994 bei ihrer Laudatio für den Elie Wiesel Huminatarian Award aus dem Tagebuch und sagte, dass Anne Frank „unsere Augen öffnet für die Torheit der Gleichgültigkeit und den schrecklichen Tribut, den sie von unserer Jugend fordert“, was Clinton mit aktuellen Ereignissen in Sarajevo, Somalia und Ruanda verband. [4]. Nachdem er 1994 eine humanitäre Auszeichnung von der Anne Frank Foundation erhalten hatte, sprach Nelson Mandela zum Volk in Johannesburg und sagte, er habe Anne Franks Tagebuch während seines Gefängnisaufenthalts auf Robben Island gelesen und „daraus viel Mut gewonnen“. Er verglich ihren Kampf gegen den Nationalsozialismus mit seinem Kampf gegen die Apartheid und zog eine Parallele zwischen den beiden Philosophien, indem er kommentierte: „Weil diese Ansichten offenkundig falsch sind und weil sie von Leuten wie Anne Frank herausgefordert wurden und immer werden, müssen sie zwangsläufig scheitern.“ [5]
Das Tagebuch wurde auch für seine literarische Qualität gelobt. Bezüglich Anne Franks Schreibstil lobte der Dramaturg Meyer Levin, der mit Otto Frank kurz nach der Veröffentlichung an einer dramaturgischen Umsetzung des Tagebuchs arbeitete [6], dass das Tagebuch „die Spannung eines gut konstruierten Romans erhält“ [7]. Der Dichter John Berryman schrieb, es sei eine einzigartige Beschreibung nicht nur des Erwachsenwerdens, sondern „des mysteriösen, fundamentalen Prozesses, bei dem ein Kind zum Erwachsenen wird, wie es wirklich passiert“. [8] Die Biographin Melissa Müller sagte, Anne schreibe „in einem präzisen, sicheren, ökonomischen Stil, dessen Ehrlichkeit verblüfft“. Annes Aufzeichnungen sind größtenteils Charakterstudien und sie untersucht jede Person in ihrem Umfeld mit einem scharfsinnigen, kompromisslosen Blick. Sie erscheint gelegentlich grausam und oft vorurteilsbehaftet, v.a. bei ihren Beschreibungen von Fritz Pfeffer und ihrer eigenen Mutter, und Müller erklärt, dass sie die „normalen Gemütsschwankungen der Jugend“ in ihrem Schreiben kanalisiere. Ihre Studie ihrer selbst und ihrer Umgebung führt sie über einen langen Zeitraum in einer introspektiven, analytischen und sehr selbstkritischen Art und in Momenten der Frustration spricht sie vom inneren Kampf zwischen der „guten Anne“, die sie sein will, und der „schlechten Anne“, für die sie sich selbst hält. Otto Frank erinnerte sich, wie sein Verleger auf die Frage, warum das Tagebuch von so vielen Menschen gelesen würde, antwortete: „Das Tagebuch umfasst so viele Bereiche des Lebens, dass jeder Leser etwas finden kann, das ihn persönlich bewegt.“
Zweifel an der Echtheit
Es gibt seit der Veröffentlichung Stimmen, die mit Zweifeln an der Echtheit das Tagebuch diskreditieren wollen und dafür teils dubiose Gründe anführen.
Seit Mitte der 1970er Jahre behauptete David Irving, das Tagebuch sei nicht echt. Wiederholte öffentliche Statements von solchen Holocaustleugnern veranlassten Teresien da Silva im Namen des Anne-Frank-Hauses 1999 zu der Feststellung: „Für viele Rechtsextremisten erweist sich [Anne] als Hindernis. Ihr persönliches Zeugnis der Judenverfolgung und ihr Tod im Konzentrationslager verhindern eine Rehabilitation des Nationalsozialismus.“
Seit den 1950er Jahren gilt die Holocaustleugnung in mehreren europäischen Staaten, darunter Deutschland, als Verbrechen und Aktivitäten von Neonazis werden gesetzlich verhindert. 1959 zog Otto Frank in Lübeck gegen Lothar Stielau vor Gericht, der als Schullehrer und ehemaliges Mitglied der Hitler-Jugend ein Schreiben veröffentlichte, in dem er das Tagebuch als Fälschung beschrieb. Das Gericht untersuchte das Tagebuch und erklärte es 1960 für echt. Stielau widerrief seine frühere Aussage und Otto Frank verfolgte die Angelegenheit nicht weiter.
1958 sah sich Simon Wiesenthal bei einer Aufführung von The Diary of Anne Frank in Wien einer Gruppe von Demonstranten ausgesetzt, die behaupteten, Anne Frank habe nie existiert, und ihn aufforderten, den Mann zu finden, der sie verhaftet hatte. Wiesenthal fand Karl Josef Silberbauer 1963. Der ehemalige SD-Beamte bekannte sich auf Nachfrage zu seiner Rolle und identifizierte Anne Frank auf einem Foto als eine der verhafteten Personen. Er lieferte einen vollständigen Bericht über die Ereignisse und erinnerte sich daran, eine Tasche voller Papier auf dem Boden ausgeleert zu haben. Seine Aussagen untermauerten die Darstellungen von Zeugen wie Otto Frank.
1976 zog Otto Frank gegen Heinz Roth aus Frankfurt am Main vor Gericht, der das Tagebuch in Pamphleten als Fälschung bezeichnete. Der Richter untersagte die weitere Verbreitung solcher Aussagen bei Androhung einer Strafe von 500.000 DM und sechs Monaten Haft. Deutsche Gerichte wiesen 1978 und 1979 zwei Klagen mit Bezug auf die Meinungsfreiheit zurück, da es keine Anzeige eines Betroffenen gab. Sollte diese erfolgen, könne es zu einem Verfahren wegen übler Nachrede kommen. Die Kontroverse erreichte ihren Höhepunkt mit der Verhaftung und Verurteilung der Neonazis Ernst Römer und Edgar Geiss wegen Produktion und Distribution von Literatur, die das Tagebuch als Fälschung denunzierte, nach einer Beschwerde von Otto Frank. Ein Team von Historikern untersuchte die Dokumente mit der Hilfe von Annes Vater und stellte ihre Echtheit fest.
1978 wurde das Bundeskriminalamt aufgefordert, das Papier und die für das Manuskript des Tagebuchs verwendete Tinte zu untersuchen. Die Ermittlungen ergaben, dass alle verwendeten Papiersorten und Tintenarten aller für die Tagebücher 1-3 verwendeten Bände und losen Blätter vor 1950 hergestellt worden waren und zwischen 1941 und 1944 verwendet werden konnten. Nur für einige Einzelblätter bemerkte das vierseitige Gutachten:
- Die auf den losen Blättern nachträglich angebrachten Korrekturschriften sind [...] zum Teíl auch mittels schwarzer, grüner und blauer Kugelschreiberfarbpaste niedergeschrieben worden. Kugelschreiberfarbpasten in der vorliegenden Art sind aber erst seit dem Jahre 1951 auf dem Markt erschienen.
Auch das Schreibinstrument, der Kugelschreiber, kam auch erst nach 1945 auf den Markt. Obwohl diese Bemerkung sich nur auf ganz wenige Stellen bezog und die Echtheit der Tagebücher nicht berührte, fassten deren Leugner sie als Bestätigung ihrer Zweifel auf. Dazu trug ein Artikel des Magazins Der Spiegel - Nr. 41 vom 6. Oktober 1980 - bei, in dem es hieß:
- Ein Gutachten des Bundeskriminlaamtes belegt: Im 'Tagebuch der Anne Frank' ist nachträglich redigiert worden. Die Echtheit des Dokuments wurde dadurch weiter in Zweifel gezogen.
Der Autor sprach nicht von Korrekturen wie das BKA, sondern von „ins Original geschriebenen Einfügungen, die bislang stets als schriftgleich mit dem übrigen Text galten.“ Wann, wo und wozu diese eingefügt worden sein sollten und ob sie überhaupt in die veröffentlichten Ausgaben der Tagebücher aufgenommen worden waren, überprüfte der Artikelautor nicht.
Das Gerechtelijk Laboratorium (staatliches forensisches Labor) in Rijswijk untersuchte daraufhin die vorliegenden Originaldokumente in einer aufwändigen technischen Überprüfung. Dabei stellte sich heraus, dass das BKA keine Tagebuchseite mit der angeblichen Kugelschreibertinte anführen konnte. Das Labor fand selbst nur zwei auch mit Kugelschreiber beschriebene Blätter, die in Anne Franks Manuskript mit losen Blättern eingefügt waren. Es handelte sich um insgesamt 26 Korrekturen von nachweislich derselben Hand, die typografische und grammatische Fehler im Original, meist einzelne Buchstaben oder Worte, berichtigten. Sieben Fälle korrigierten die falsche Satzstellung eines Wortes. Weitere bezogen sich auf falsche Seitenzahlen.
H.J.J. Hardy fasste das Untersuchungsergebnis in einem Bericht für eine 2003 publizierte neue kritische Ausgabe des Tagebuchs (The Revised Critical Edition of the Diary of Anne Frank) wie folgt zusammen:
- Die einzigen Spuren von Kugelschreiber-Schriften fand man auf zwei losen Blätter zwischen den losen Seiten. Die Grafiken VI-I-I und 3 zeigen, wie diese Blätter in die dazugehörigen Plastikhüllen gesteckt wurden. In Bezug auf den tatsächlichen Inhalt des Tagebuchs haben diese Spuren überhaupt keine Bedeutung. Die Handschrift auf den Blättern weicht deutlich von der im Tagebuch ab. (Seite 167)
Eine Fußnote auf der gleichen Seite fügt hinzu:
- Der Hamburger Psychologe und vom Gericht bestellte Experte für Handschriften Hans Ockelmann bemerkte in einem Brief an den Anne-Frank-Fonds mit Datum vom 27. September 1987, dass seine Mutter, Frau Dorothea Ockelmann, die fraglichen Texte mit Kugelschreiber geschrieben habe, als sie zusammen mit Frau Minna Becker an einer Untersuchung der Tagebücher arbeitete.
Bereits die kritische Ausgabe von 1988 wies ihre Leser auf die Fälschungsvorwürfe hin und stellte sie der wissenschaftlichen Widerlegung des niederländischen Instituts gegenüber.
Nach Otto Franks Tod 1980 wurde das originale Tagebuch inklusive Briefen und losen Blättern an das NIOD vermacht. Das Institut veranlasste 1986 eine forensische Untersuchung des Tagebuchs durch das niederländische Justizministerium. Sie verglichen die Handschrift mit bekannten Exemplaren und stellten eine Übereinstimmung fest. Außerdem ermittelten sie, dass Papier, Kleber und Tinte zur Entstehungszeit des Tagebuchs verfügbar waren. Somit bestätigten sie die Echtheit des Tagebuchs. Am 23. März 1990 wurde diese Einschätzung vom Hamburger Landgericht nochmals bestätigt.
Dennoch blieben Holocaustleugner bei ihrer Behauptung, das Tagebuch sei eine Fälschung. 1991 gaben Robert Faurisson und Siegfried Verbeke ein Heft mit dem Titel The Diary of Anne Frank: A Critical Approach heraus. Sie behaupteten darin, Otto Frank habe das Tagebuch geschrieben und begründeten ihre Aussage damit, dass es einige Widersprüche gebe, dass das Versteck im Achterhuis unmöglich gewesen sei und dass der Stil und die Handschrift von Anne Frank nicht die eines Teenagers seien.
Im Dezember 1993 beantragten das Anne-Frank-Haus in Amsterdam und der Anne-Frank-Fonds in Basel, die weitere Verbreitung des denunzierenden Heftes in den Niederlanden zu verbieten. Am 9. Dezember 1998 entschied das Amsterdamer Bezirksgericht im Sinne der Kläger, verbot die weitere Leugnung der Echtheit des Tagesbuchs sowie entsprechende Publikationen und setzte eine Geldstrafe in Höhe von 25.000 Gulden pro Zuwiderhandlung fest.[1]
Im Sommer 2006 sorgte die Verbrennung des Tagebuchs durch rechtsradikale Jugendliche in Pretzien (Sachsen-Anhalt) für Unruhe.[2]
Ausgaben
- Anne Frank Tagebuch. Fassung von Otto H. Frank und Mirjam Pressler. Aus dem Niederländischen von Mirjam Pressler. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuchverlag 1992 (einzig autorisierte und ergänzte Fassung; Fischer Taschenbuch 11377); ergänzte Ausgabe 2001 (Fischer Taschenbuch 15277)
- Das Tagebuch der Anne Frank. Fischer Verlag, Frankfurt Am Main 1950, angeblich ungekürzte Ausgabe, Übertragung aus dem Niederländischen von Anneliese Schütz
- De Dagboeken van Anne Frank. Staatsuitgeverij, Amsterdam 1986, erste vollständige, textkritische und kommentierte Ausgabe.
- Die Tagebücher der Anne Frank. Vollständige Kritische Ausgabe. Einführung v. H. Paape, G. van der Stroom u. D. Barnouw. Aus dem Niederländischen v. Mirjam Pressler. Frankfurt a. M.: Fischer 1988. ISBN 3100767101 (Übertragung der Ausgabe von 1986)