Al-Chiraqī
Abū l-Qāsim ʿUmar b. Ḥusayn b. ʿAbdallāh al-Khiraqī (arabisch ابو القاسم عمر بن حسین بن عبد الله الخرقی; geboren vor oder um 911 in Bagdad; gestorben 945 oder 946 in Damaskus) war ein sunnitischer Jurist der hanbalitischen Rechtschule.
Frühe Jahre und Werdegang
Über den Werdegang al-Khiraqīs ist wenig bekannt, jedoch erhielt er seine erste Ausbildung wahrscheinlich von seinem Vater. In Bagdad war er auch Schüler der Söhne des Begründers der Schule Ahmad ibn Hanbals, welche die Verbreitung der Schriften ihres Vaters besorgten.[1] Zu seinen bekannten Schülern zählen Personen wie Ibn Baṭṭa al-ʿUkbarī (gestorben 387/997[2]), Abū l-Ḥasan al-Tamīmī (gestorben 371/982) und andere. Ibn Baṭṭa war der bekannteste Überlieferer nach al-Khiraqī, denn noch Ibn Hadschar al-ʿAsqalānī, (gestorben 1449 in Kairo) erhielt das Werk mit einer lückenlosen Überlieferungslinie von Ibn Baṭṭa.[3] Über seinen Weggang aus Bagdad ranken sich widersprüchliche Berichte; es wurde vermutet, dass er nach Damaskus umsiedelte, da die Schiʿiten damit anfingen, die Gefährten des Propheten öffentlich zu beleidigen. Angesichts der Tatsache jedoch, dass diese Praxis bereits länger innerhalb der Partei ʿAlīs im Irak existierte, darf der Wahrheitsgehalt dieser Annahme bezweifelt werden, ebenso wie die Annahme, dass er durch körperliche Gewalt ums Leben gekommen sei. In der Fachliteratur finden sich jedoch Hinweise darauf, dass al-Khiraqi mit der Ankunft der schiʿitischen Buyiden von Baghdad nach Damaskus geflohen sei. Bei seiner Ankuft dort sei die hanbalitische Rechtsschule dort bereits Fuß gefasst. Šams-ud Dīn al-Nābulūsi erwähnt in einem seiner Werke, bezugnehmend auf eine ältere Quelle, dass Al-Khiraqī deshalb ermordet worden sei, weil er eine nicht näher spezifizierte Praxis öffentlich als munkarkritisierte; hierfür sei er ausgepeitscht worden und erlag den dadurch erlittenen Verletzungen. Diese Überlieferung ist jedoch bei keinem anderen Biographen zu finden, weshalb ihr Wahrheitsgehalt zweifelhaft ist.[4]
Solche Erzählungen entstanden jedoch erst lange nach dem Ableben al-Khiraqīs.[5] Der Biograph adh-Dhahabī, (gestorben 1348 in Damaskus) weiß noch zu berichten, dass al-Khiraqīs Grab in der Nähe vom „kleinen Stadttor“ in Damaskus sichtbar und als Besuchsort („yuzāru“) bekannt war. Auch al-Chatīb al-Baghdādī (gestorben 1071) suchte das Grab auf.[6] Ibn ʿAsākir, der berühmte Stadtchronist von Damaskus, widmet ihm in seinem siebzig Bände umfassenden Werk nur eine Seite und benutzt dabei überwiegend Quellen irakischen Ursprungs.[7]
Werke
Das Werk al-Mukhtaṣar fī l-fiqh (Grundriss der Rechtswissenschaft), auch bekannt als Mukhtaṣar al-Khiraqī, gilt als das erste Lehrbuch und Abhandlung über die Rechtsnormen in der hanbalitischen Rechtsschule überhaupt. Dieses Werk wird auf das Jahr 930 datiert, da Khiraqī darin empfiehlt[8], die Pilger sollen den Schwarzen Stein besuchen, falls dieser vorhanden wäre. Diese Bemerkung deutet auf ein geschichtliches Ereignis dieser Zeit hin, bei dem der genannte schwarze Stein von den Qarmaten, einer radikalen schiʿitischen Sekte entwendet wurde. Dieser wurde jedoch erst wieder im Jahr 950 an seinen Platz zurückgebracht; dies war das Jahr, in dem al-Khiraqī starb.
Das genannte Werk erfreute sich bei den Hanbaliten auch über viele Generationen hinaus großer Beliebtheit, Abū Isḥāq al-Barmakī merkte an, dass in dem Werk über 2400 Rechtsfragen abgehandelt worden wären. Weniger als 100 dieser fatāwā wurden zum Gegenstand eines Ichtilāf innerhalb der Rechtsschule, wobei führende Persönlichkeiten wie Ibn Ḥāmid, al-Ḥasan b. Ḥāmid b.ʿAlī b. Marwān aus Bagdad[9] Al-Khiraqī vor der Behauptung in Schutz nahmen, er habe sich in der Darstellung der Rechtsfragen geirrt. Das Werk al-Mukhtaṣar fī l-fiqh erlangte dennoch seinen Status als Standardwerk für Studenten des Fiqh, welches vor allem als Einführung in die Grundlagen der hanbalitischen Rechtsschule verwendet wurde.
Die erste Generation, die das Werk – zu dem zahlreiche Kommentare verfasst wurden – studierte, waren die Anhänger von al-Khiraqī selbst und gaben dessen Lehren entsprechend weiter. Seit dem Wirken des madhhab-Gründers Ahmad ibn Hanbal ist al-Khiraqīs Werk eine der Grundlagen der Rechtsschule. Der hanbalitische Rechtsgelehrte Ibn Qudāma sowie andere Gelehrte kannten das genannte Werk auswendig. Außerdem wurden Werke verfasst, die auf den Ansichten und Lehren von al-Khiraqī basierten. Eines davon ist das enzyklopädische Werk al-Mughnī von Ibn Qudāma, das jedoch kaum biographische Daten zu al-Khiraqī enthält.[10]
Andere Werke soll al-Khiraqī laut Ibn Abī Yaʿlā bei seiner Flucht aus Bagdad bei einem Freund hinterlegt haben, diese fielen später einem Feuer zum Opfer. Keines dieser Werke ist heute noch erhalten.[11][4]
Ibn Qudāma fasst die Vita von al-Khiraqī in der Einleitung seines oben genannten Hauptwerkes al-Muġnī kurz zusammen und hebt die Bedeutung von dessen al-Mukhtaṣar lobend hervor, der auf insgesamt 248 Druckseiten[12] entsprechend den in den islamischen Rechtswissenschaften (Fiqh) anerkannten Kapiteln und in Übereinstimmung mit der Lehre der Hanbaliten kurzgefaßt darstellt. In derselben Anordnung zitiert Ibn Qudāma in seinem oben erwähnten 17 Bände umfassenden Werk[13] zunächst das Grundwerk von al-Khiraqī mit seiner anschließenden und sehr detaillierten Erörterung der darin vorgestellten Grundsätze. In der Einleitung lobt er das Buch von al-Khiraqī als ein gesegnetes, nützliches und zusammenfassendes Werk, „wodurch wir Segen erlangen“ („fa-natabarraku bi-kitābihi“). An dieser Stelle greift allerdings der Herausgeber in seiner Fußnote ein: „das ist eine Übertreibung von ihm,(d.i. Ibn Qudāma) Gott habe ihn selig. Denn es gibt kein Buch, an dessen Segen man glauben kann außer am Buch des allmächtigen Gottes. Denn Er sagt: ‚Und es‘ (d. h. die koranische Offenbarung) ‚ist eine von uns hinabgesandte, gesegnete Schrift‘ (Sur. 6, Vers 92.). Somit ist Er unfehlbar. Andere Bücher sind jedoch Fehlern unterworfen. Gott ist allwissend.“ [14]
Ansichten über al-Khiraqī
Führende Gelehrte des Islam, darunter auch Ibn Kathir lobten Al-Khiraī als einen herausragenden Gelehrten der hanbalitischen Rechtsschule und Diener Gottes; er sei, so Ibn Kathir, Er sei ein Mann mit exzellenten Qualitäten und außerordentlicher religiöser Hingabe gewesen. In seiner Dissertation weist Amir Khalid auf die ausgezeichneten Eigenschaften al-Khiraqis, nicht nur als Rechtsgelehrten, sondern auch als Autor hin. Al-Khiraqī sei nicht nur auf Rechtsthemen verschiedener Natur eingegangen, sondern er habe zunächst eine Definition der abzuhandelnden Rechtsfragen gegeben, außer in den Fällen, in denen er es nicht für notwendig hielt. Eine der herausragende Charaktereigenschaft al-Khiraqīs sei es gewesen, so schreibt Khalid weiter, dass er Rechtsfragen in einer klaren und verständlichen Form wiedergeben konnte. Eine weitere Eigenschaft seiner Abhandlungen war die Tatsache, das er in seinem Werk nicht nur Rechtsfragen eröterte und abhandelte, sondern im Anschluss diese noch diskutierte; er tat dies auf eine Art und Weise, mit der er die Aufmerksamkeit des Lesers gleich auf das nächste Rechtsthema lenkte, das er abzuhandeln gedachte.
ine weitere Eigenschaft seiner Abhandlungen waren seine hervorragenden Kenntnisse der Rechtsquellen, die er zur Beantwortung der Rechtsfragen verwendete. Wenn er sich auf andere Gelehrte bezog (er tat dies insbesondere bei Ahmad ibn Hanbal, so tat er dies in einer standardisierten Form und verwendete hierfür dessen Kuya. Al-Khiraī war sehr bedacht, was die Präsentation der von ihm dargelegten Informationen betraf. Ernvermochte es, eine große Bandbreite von Fakten mit nur wenigen Worten zusammenzufassen. Diese Eigenschaft manifestiert sich beispielsweise in seiner Erzählung über den bereits erwähnten Diebstahll des Schwarzen Steins.
Die Wichtigkeit al-Khiraqīs wird auch von anderen Rechtsgelehrten betont, die ihre Werke auf al-Mukhtasar aufbauten, wie zum Beispiel Yahya bin Muhammad al-Sarsari, der in 2770 metrischen Versen abhandelte, wobei er sich hauptsächlich auf das genannte Werk stützte.
Trotz der Wichtigkeit der Person und seiner Werke, gab es trotzdem auch Kritik an dessen ansichten, so beispielsweise von G̲h̲ulām al-K̲h̲allāl (gestorben 974), der al-Khiraqī nicht nur in neun Rechtsfragen wisdersprach, außerdem noch in achtundneunzig anderen Punkten, sondern dessen Interpretationen der Lehren Ahmad b. Hanbals gänzlich ablehnte. In seiner Dissertation erwähnt Khalid, dass die tatsächliche Anzahl an Streitpunkten wahrscheinlich sogar noch höher lag und das er selbst bei einer Zählung auf einhundert und neun solcher Differenzen gestoßen sei. [15]
Kommentare
Einer der frühen Kommentare zum Mukhtaṣar al-Khiraqī stammt von Abu-Ḥussayn al-Samʿun (gestorben 997), ein anderes von Ḥasan bin Ḥamid bin ʿAli bin Marwan Abu ʿAbd-Allāh al-Baġdādī (gestorben 1011), einem großen Imam und Mufti seiner Zeit. Letzteres Werk ist nicht erhalten. Der Kommentar von Ibn al-Farrā' (gestorben 1066) ist teilweise erhalten, eine Abschrift befindet sich in der Al-Zahiriyah-Bibliothek (jetzt: Maktabat al-Asad) in Damaskus. Als einer der bedeutendsten Kommentare gilt der von Ibn Qudāma al-Maqdisī (gestorben 1223 in Damaskus). Dieser wurde in zwölf Bänden von Rashid Rida in Kairo herausgegeben (1922–1930) sowie von Maktabat al-Qahirah in zehn Bänden im Jahr 1968. In der Chester Beatty Library in Dublin befindet sich ein weiterer Kommentar, der jedoch bisher (Stand 2023) nicht herausgegeben wurde und von Abu Talib ʿAbd ar-Raḥman bin ʿUmar bin Abuʾl-Qāsim al-Basri stammt.
Zwei Kommentare, ein vollständiger sowie ein Unvollständiger stammen von ʿAbd Allāh al-Zarkaši al-Miṣrī. Der unvollendete Kommentar wurde später von einem Gelehrten der hanbalitischen Rechtsschule vervollständigt. Manche Kommentare wurden nicht nur prosaisch, sondern bisweilen auch in metrischer Form veröffentlicht.[15]
Übersetzungen
Basierend auf der 3. Ausgabe des Werks Mukhtaṣar al-Khiraqī wurden auch Übersetzungen in die englische Sprache unter Berücksichtigung des Kommentars von Ibn al-Farrā' angefertigt, eine davon im Jahr 1968 in Kairo. Dabei wurde auch auf fehlende Passagen in der ein oder anderen Ausgabe eingegangen, Fachbegriffe wurden übersetzt und erörtert.[15]
Literatur
- Ibn Abī Yaʿlā, Ṭabaqāt al-Ḥanābila, ed. ʿAbd al-Raḥmān al-ʿUthaymīn (Riyadh 1998), Band 3, S. 147–210
- Ibn ʿAsākir: Taʾrīkh madīnat Dimashq. Ed. ʿUmar b. Ġarāma al-ʿAmrawī. Bd. 43, S. 562–563. Dār al-Fikr. Beirut, 1995–1998.
- Khalid Anas, The Mukhtasar of al-Khiraqi, Ph.D. diss., New York University 1992.
- adh-Dhahabī: Siyar aʿlām an-nubalāʾ. Ed. Schuʿaib al-Arnaʾūṭ u. a. 2. Auflage, Beirut, 1984.
- Ibn Mufliḥ: al-Maqṣad al-arshad fī dhikr aṣḥāb al-imām Aḥmad, ed. ʿAbd al-Raḥmān al-ʿUthaymīn (Riyadh 1990), Band 2, S. 298
- Nimrod Hurvitz: The Mukhtaṣar of al-Khiraqī and its place in the formation of Ḥanbalī legal doctrine. In: Ron Shaham (ed.), Law, custom, and statute in the Muslim world (Leiden 2007), S. 1–16.
- Henri Laoust: Le hanbalisme sous le califat de Bagdad (241/855 - 656/1258). In: Revue des études islamiques vol. 27 (1959), S. 67–128.
- Ibn Hadschar al-ʿAsqalānī: al-Muʿǧam al-mufahras. Nr. 1851. Ed. Muḥammad Shākir Maḥmūd al-Ḥāǧī. Beirut 1998.
Einzelnachweise
- ↑ Siehe: Fuat Sezgin: Geschichte des arabischen Schrifttums. Band 1, S. 512. Leiden, 1967.
- ↑ Siehe: Fuat Sezgin: Geschichte des arabischen Schrifttums. Band 1, S. 514-514. Leiden, 1967.
- ↑ Ibn Ḥaǧar al-ʿAsqalānī: al-Muʿǧam al-mufahras. Nr. 1851. Ed.Muḥammad Shākir Maḥmūd al-Ḥāǧī. Beirut 1998.
- ↑ a b Encyclopedia of Islam, SECOND EDITION, Band V, Brill:Leiden, 1986 S.9/10)
- ↑ Siehe: Ibn Qudāma al-Maqdisī ad-Dimaschqī: al-Mughnī, (2. Auflage), Band 1, S. 7. Kairo 1992
- ↑ adh-Dhahabī: Siyar aʿlām an-nubalāʾ. Bd. 15. S. 363. Muʾassasat al-risāla. Beirut 1984.
- ↑ Taʾrīkh madīnat Dimaschq. Band 43, S. 562–563.
- ↑ Siehe Mukhtassar, 3. Ausgabe, S.383
- ↑ Fuat Sezgin: Geschichte des arabischen Schrifttums. Band 1. S. 515.
- ↑ Siraj Hussain, Dilnawaz Siddiqui, Mumtaz F. Jafari, M. Hashim Kamali, Peter O'Brien in American Journal of Islamic Social Sciences, 10:3, S. 441 online auf Google Books
- ↑ al-Sarhan, Saud, “al-Khiraqī”, in: Encyclopaedia of Islam, THREE, Edited by: Kate Fleet, Gudrun Krämer, Denis Matringe, John Nawas, Everett Rowson. Abgerufen am 8. Dezember 2022
- ↑ Herausgegeben von Muḥammad Zuhair asch-Schāwisch. Erste Auflage Kairo, 1958
- ↑ Herausgegeben von ʿAbd al-Fattāḥ Muḥammad al-Ḥilw. 2. Auflage, Kairo 1992.
- ↑ al-Mughnī, Bd. 1, S. 5, Fußnote 16.
- ↑ a b c Anas Khalid: The Mukhtasar of Al-Khiraqi: A Tenth Century Work On Islamic Jurisprudenc, Mukhtasar of Al-Khiraqi: A Tenth Century Work On Islamic Jurisprudence. (Diss.), New York University Oktober, 1992
Personendaten | |
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NAME | Khiraqi, al- |
ALTERNATIVNAMEN | Abū l-Qāsim ʿUmar b. al-Ḥusayn b. ʿAbdallāh al-Khiraqī |
KURZBESCHREIBUNG | sunnitischer Jurist der hanbalitischen Rechtschule |
GEBURTSDATUM | um 911 |
GEBURTSORT | Bagdad |
STERBEDATUM | 945 oder 946 |
STERBEORT | Damaskus |