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Theorievergleich

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Ein Theorievergleich ist der mehr oder weniger systematische Vergleich von Theorien, mit dem Ziel, eine strengere Prüfung der Theorien zu erreichen und den wissenschaftlichen Fortschritt zu beschleunigen. Dabei werden Theorien v.a. hinsichtlich ihrer Beschreibungs- und Erklärungskraft beurteilt.


Ziele

Von WissenschaftlerInnen, die den Theorievergleich als Methode schätzen, werden diverse Probleme der Wissenschaften festgestellt, die den Erkenntnisfortschritt bremsen, und auf die ein Theorievergleich positiv wirke. Vor allem in den Sozialwissenschaften gebe es

  • eine Kluft zwischen theoretischer Arbeit und empirischen Analysen: "wirklichkeitsfernes Theoretisieren" und "theorielose Forschung" seien noch relativ verbreitet. Problematisch sei dies, weil es den Kernmechanismus von Wissenschaft auseinander reiße, das Ineinandergreifen der empirischen Prüfung von Theorien und der theoretischen Aufarbeitung empirischer Erkenntnisse. Isoliert vorgenommen, haben beide Vorgehensweisen Qualitätsmängel: mangelnde Erklärungskraft. Theorievergleiche dientem beidem: sie können sowohl eine logische als auch eine empirische Prüfung von Theorien enthalten (s.u.).
  • implizite Theorien: auch zunächst theorielos wirkende empirische Forschung arbeite unvermeidlich mit Erwartungen über die Wirklichkeit ("Hintergrundwissen"), also mit Hypothesen bzw. Theorien, die dem Alltagswissen entnommen sind. Problematisch sei dies, weil implizite Theorien dieser Art sehr erfahrungsresistent seien, sie liessen sich nur schwer durch Beobachtungen korrigieren. Systematische Theorievergleiche begünstigen es, Theorien explizit zu formulieren, was sie einer empirischen Überprüfung leichter zugänglich macht.
  • eine zersplitterte Theorie-Landschaft: die Vielfalt an konkurrierenden Theorien trägt dazu bei, daß bei wissenschaftlichen Untersuchungen häufig nicht alle relevanten Theorien herangezogen würden. Theorievergleiche fördern demgegenüber die Nutzung verfügbaren Wissens und "verringern die Chance, daß in der Forschung dieselben Einsichten immwer wieder neu entdeckt werden und daß ein Erkenntnisfortschritt ausbleibt". [1]
  • isolierte Theorieprüfung: häufig wird nur eine einzelne Theorie (logisch und/ oder empirisch) überprüft. Theorievergleiche sind wirkungsvoller, da sie Theorien miteinander konfrontieren; da so Alternativen vorhanden sind, vergrößert das die Möglichkeit, daß Theorien kritischer geprüft werden.

Ein Theorievergleich kann also dazu führen, Theorien

  • zu verwerfen oder anzunehmen,
  • zu präzisieren,
  • zu verändern,
  • zu kombinieren zu neuen, komplexeren Theorien.

Methoden

Theorievergleiche können in unterschiedlichem Ausmaß systematisch (d.h. von einheitlich angewandten Regeln geleitet) vorgenommen werden. In einfacher Form sind sie Teil des Alltagsgeschäfts von WissenschaftlerInnen. Je systematischer sie vorgenommen werden, desto strenger ist die Prüfung, die sie ermöglichen.

Maßstab

Bei einem Vergleich werden Theorien beschrieben, beurteilt und evtl. erklärt. Die Beschreibung zeigt die verschiedenen Bestandteile der Theorie und die darin getroffenen Aussagen auf. Die Beurteilung benennt die Stärken und Schwächen der verglichenen Theorien; dabei wird vor allem die relative Beschreibungs- und Erklärungskraft von Theorien beurteilt. In Theorievergleichen wird manchmal auch versucht, die Entstehung der untersuchten Theorien zu erklären; hierfür wird häufig auf die Wissenssoziologie bzw. die Wissenschaftssoziologie zurückgegriffen.

Bei all diesen Schritten muss die vergleichende Person zwangsläufig von einem Maßstab ausgehen. Theorievergleiche können nicht von einer „neutralen“ Position aus vorgenommen werden, sondern stützen sich unvermeidlich auf einen bestimmten wissenschaftstheoretischen Standpunkt, der offengelegt werden muss.

Untersuchungsgegenstand

Ein Theorievergleich trifft metatheoretische Aussagen, d.h. sein Untersuchungsgegenstand sind Theorien. Theorien bestehen aus verschiedenen Bestandteilen, und Theorievergleiche können diese unterschiedlich umfassend einbeziehen.

Im weitesten Fall werden alle Teile von Theorien verglichen, im engeren nur einige Teile:

  • Grundannahmen: Dies sind Aussagen über die Grundstruktur der Realität und darüber, wie man sie untersuchen solle. Sie liegen allen Kernaussagen zugrunde. Darunter können fallen metaphysische Annahmen (etwa transzendentale Aussagen über die Existenz und die Rolle von Gott, Göttern, Geistern etc.), kosmologische und biologische Annahmen (Aussagen über die Struktur der unbelebten und belebten Natur), anthropologische Annahmen (Aussagen darüber, was Menschen seien) und erkenntnistheoretische und pragmatische Annahmen und Vorgaben (etwa darüber, wie im jeweiligen Gegenstandsbereich Wissen erzielbar ist, wie Wissenschaftler arbeiten sollten). Die Gesamtheit dieser Grundannahmen macht einen wichtigen Aspekt dessen aus, was in Anknüpfung an Kuhn manchmal Paradigma genannt wird, sowie des Lakatos'schen Begriffs des „Forschungsprogramms“.
  • Grundbegriffe: Diese sind die „Bausteine“ der Theorie (dies können theoretische Terme wie etwa physikalische Größen und Entitäten sein).
  • Theoriekern: Dieser besteht in den beschreibenden und erklärenden Aussagen. Die erklärenden Aussagen werden auch Hypothesen genannt, diese sind häufig als Wenn-Dann-Aussagen formuliert oder noch stärker formalisiert. Daneben können prognostische und empfehlende Aussagen Teil einer Theorie sein.
  • Messkonzepte: Hypothesen werden mit Indikatoren messbar gemacht (operationalisiert), um empirisch überprüft zu werden, z. B. kann dies durch eine Frage in einem Fragebogen geschehen.
  • Empirische Belege: Beobachtungen, die eine Theorie bestätigen oder widerlegen sollen.
  • Normative Aussagen: Bewertende Aussagen ziehen sich unvermeidlich durch die gesamte Theorie.

Schritte

1. Auswahl der Theorien: für eine strenge Prüfung werden teilweise sehr verschiedene Theorien verglichen, um ein großes Spektrum an wissenschaftstheoretischen und inhaltlichen Aussagen einzubeziehen. Aus forschungspraktischen, pragmatischen Gründen beziehen WissenschaftlerInnen oft Theorien ein, die ihnen nahestehen oder solche, die sie widerlegen möchten.

2. Auswahl der Autoren: häufig werden aus forschungspraktischen Gründen bestimmte Autoren ausgewählt, die eine Strömung bzw. einen Theorietyp gut repräsentieren.

3. Auswahl der Quellen: Grundsätzlich sollte Primärliteratur herangezogen werden, in Sekundärliteratur können sich Ungenauigkeiten oder Fehler einschleichen.

4. Explizite Formulierung: Häufig sind (sozialwissenschaftliche) Theorien bzw. einzelne ihrer Bestandteile nicht präzise genug formuliert. Dann wird die Wissenschaftlerin, die den Vergleich durchführt, die Quellen nach verstreuten Aussagen „durchforsten“ und notfalls bestimmte wichtige Aussagen interpretierend ausformulieren. Dies sollte jedoch ausdrücklich als Interpretation kenntlich gemacht werden.

5. Formalisierung: Je nach der Art der verglichenen Aussagen und der Weise ihrer Prüfung werde z.B. Hypothesen stärker formalisiert dargestellt. Dies kann etwa mathematischen Gleichungen ähneln und/ oder Visualisierungen mit Pfaddiagrammen enthalten.

6. Logische Prüfung: Vergleich der Theorien z.B. auf

  • die logische Beziehung ihrer Untersuchungsgegenstände: diese können sich decken, sich überschneiden (Schnittmengen, Teilmengen) oder verschieden sein (im letzteren Fall ist die Prüfung in Frage zu stellen)
  • den relativen Informationsgehalt der Theorien
  • Widerspruchsfreiheit: widersprechen sich die Aussagen einer Theorie?

7. Empirische Prüfung: Hierbei werden zunächst die von den Theorien selbst angebotenen empirischen Belege auf Übereinstimmung mit ihren Aussagen geprüft (z.B. mit statistischen Tests). Darüber hinaus können weitere empirische Belege aus anderen Quellen herangezogen und/ oder zusätzliche empirische Daten gewonnen werden, um Hypothesen zu bestätigen oder zu widerlegen.

8. Schlussfolgerungen: Das Ergebnis der Prüfungen kann sein, manche Theorien zu verwerfen und andere anzunehmen. Wenn die logische und empirische Prüfung ergibt, dass verschiedene Theorien sich zumindest teilweise auf das gleiche Phänomen beziehen, auf vergleichbare Weise operationalisiert wurden und jeweils einen belegbaren Beitrag zur Erklärung ihres Gegenstands leisten, dann ist zu prüfen, ob sie kombiniert werden sollten, um zu einer leistungsfähigeren (erklärungskräftigeren) Theorie zu gelangen.

Auswahl von Theorien

Da aus praktischen Gründen oft nur wenige Theorien verglichen werden können, muß über die Auswahl entschieden werden. Diese Entscheidung ist wichtig, da die Theorien, die nicht ausgewählt werden, tendenziell von der weiteren Diskussion und damit aus dem Wettbewerb mit anderen Theorien ausgeschlossen werden. Diese Entscheidung kann in verschiedene Teilentscheidungen unterteilt werden:

  • Auswahl einer bestehenden oder Formulierung einer neuen Theorie? Normalerweise wird es als ausreichend angesehen, bereits bestehende Theorien zu vergleichen. Ein Einzelfällen wird es auch neue Einfälle geben, die in die Überprüfung einbezogen werden.
  • Fachspezifische oder problemspezifische Theorie? In den Sozialwissenschaften würden oft nur Theorien des eigenen Fachs herangezogen. Eine problemorientierte Herangehensweise dagegen hält die Fächergrenzen für irrelevant und sucht nach Theorien, die ein Erklärungsproblem lösen können.

Logischer und empirischer Vergleich

Theorien können grundsätzlich auf zwei Arten verglichen und geprüft werden:

  • Logische Prüfung: Beim logischen Vergleich von Theorien werden Aussagen u.a. auf Widerspruchsfreiheit geprüft.
  • Empirische Prüfung: Der empirische Vergleich von Theorien bezieht darüber hinaus empirische Daten ein und prüft, welche Theorie besser mit den empirischen Daten übereinstimmt.

Impliziter und expliziter Vergleich

Der implizite Theorievergleich vergleicht Theorien

  • ohne dass ihre Bestandteile ausdrücklich („explizit“) formuliert gegenübergestellt werden
  • ohne dass die Regeln und Verfahrensweisen des Vergleichs ausdrücklich angegeben werden

Damit ist er die einfache Variante, die in der wissenschaftlichen Alltagsarbeit oft vorkommt.

Der explizite Theorievergleich

  • vergleicht Theorien, deren Bestandteile ausdrücklich formuliert wurden (ggf. durch die vergleichende Person interpretiert)
  • vergleicht anhand bestimmter, ausdrücklich offengelegter Regeln

Diese wesentlich aufwändigere Variante kommt deutlich seltener vor.


Literatur

  • Haller, Max (2006): Soziologische Theorie im systematisch-kritischen Vergleich. 2., überarbeitete Auflage. (Nachdruck). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. – ISBN 3810034681
  • Opp, Karl-Dieter/ Wippler, Reinhard (Hg.) (1990): Empirischer Theorievergleich. Erklärungen sozialen Verhaltens in Problemsituationen. Opladen: Westdeutscher Verlag. – ISBN 3531121251
  • Herrmann, Johannes/ Schmidt, Peter (2004): Theorienvergleich. Politikon-Lerneinheit. Version 1. (Zugriff 26. Februar 2006)
  • Seipel, Christian (1999): Strategien und Probleme des empirischen Theorienvergleichs in den Sozialwissenschaften. Rational Choice Theorie oder Persönlichkeitstheorie? Opladen: Leske + Budrich. – ISBN 3810024864
  • Müller, Roland Walter (2006), Ziele und Methoden von Theorienvergleich, [1]
  1. Opp, Karl-Dieter/ Wippler, Reinhard (Hg.)(1990): Empirischer Theorievergleich. Erlärungen sozialen Verhaltens in Problemsituationen. Opladen: Westdeutscher Verlag. S. ...