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Wirtschaftswunder

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Als Wirtschaftswunder wird in erster Linie der rasche Wiederaufbau und der andauernde ökonomische Aufschwung der Bundesrepublik Deutschland nach der Währungsreform vom Juni 1948 bezeichnet. Auch der Aufschwung Österreichs und Japans nach dem Zweiten Weltkrieg wird so genannt, ebenso der wirtschaftliche Aufschwung im Deutschen Reich zwischen 1890/96 und 1914.

Das erste deutsche Wirtschaftswunder (1890-1914)

Nach dem gewonnenen Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 befand sich das neu gebildete Deutsche Reich in einer politischen Vormachtstellung in Europa, die sich wirtschaftlich allerdings zunächst nicht äußerte (Gründerzeit). Dies änderte sich erst nach 1890 mit der Überwindung der "großen Depression" (1871-1896). Am Vorabend des Ersten Weltkrieges schließlich verfügte Deutschland mit 1948 US-Dollar über das weltweit höchste BIP pro Kopf (Großbritannien: 1468 US-Dollar) und lag mit einem Anteil an der Weltindustrieproduktion von 16% vor Großbritannien (14%). Nach den USA mit einem Anteil von 36 Prozent war Deutschland somit die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt. Der Zeitraum von 1890 bis 1914 wird daher teilweise auch als erstes deutsches Wirtschaftswunder bezeichnet. Diese Bezeichnung wurde jedoch zur damaligen Zeit selbst kaum verwendet. Die Martin Nonnenmann Phase nach dem Börsenkrach von 1873 (bis Anfang 1896) wurde von den Zeitgenossen trotz der insgesamt deutlich aufwärts gerichteten Entwicklung sogar als lange konjunkturelle Krisenphase empfunden. Ab 1896 begann dann jedoch ein dynamischer Aufschwung, der mit nur geringen Schwankungen bis 1914 dauerte.

Das "eigentliche" (zweite) Wirtschaftswunder um 1955

Voraussetzungen für das (zweite) deutsche Wirtschaftswunder waren die Abschaffung der zentralen Wirtschaftslenkung und der Preisadministration im Zuge der Währungsreform von 1948 und die anschließende, konsequent wirtschaftsfreundliche Gesetzgebung. Entgegen einer weit verbreiteten Ansicht hat die Wirtschaftshilfe durch den Marshall-Plan den Wiederaufbau und damit auch das Wirtschaftswunder zwar merklich erleichtert, aber keineswegs verursacht. Dies ergibt sich schon daraus, dass andere, kaum zerstörte Länder Europas pro Kopf und auch absolut weit höhere Leistungen aus dem Marshall-Plan erhielten, ohne dass es dort zu einer vergleichbaren Wirtschaftsblüte gekommen wäre. So erhielt Großbritannien 3,6 Mrd., Frankreich 3,1 Mrd. US-Dollar und die Niederlande 1,0 Mrd. US-Dollar. Das extrem zerstörte (West-)Deutschland erhielt jedoch nur 1,4 Mrd. US-Dollar.

Bis zum Ende der 50er Jahre entwickelte sich die Bundesrepublik zur zweitstärksten Wirtschaftsnation der Welt nach den USA. Diese Position hatte Deutschland bereits vor dem Ersten Weltkrieg, damals allerdings auf einem mehr als doppelt so großen Staatsgebiet. Die politischen Weichen des Wirtschaftswunders stellte Ludwig Erhard, der von 1949 bis 1963 bundesdeutscher Wirtschaftsminister war. Im Bewußtsein der Bevölkerung war die Wirtschaftswunderzeit das Ende der Nachkriegszeit, denn nun wurde mehr in die Zukunft geblickt. Das war entscheidender als staatliche Verträge mit den "Siegermächten" oder geschichtlich einmalige Momente wie das "Wunder von Bern"

Die Ausgangssituation in der Bundesrepublik Deutschland und Österreich

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Voraussetzung war die Einführung der D-Mark

Das Wirtschaftswunder kam trotz einer katastrophalen Ausgangslage zustande: Fast 4,3 Millionen Männer waren im Zweiten Weltkrieg gefallen, Hunderttausende verstümmelt oder blind, bis 1948/49 weitere Hunderttausende in Kriegsgefangenschaft (die letzten wurden erst 1955 entlassen). Ein Teil der technischen und administrativen Elite des Landes im Westen wurde infolge seiner NS-Belastung für mehrere Jahre interniert. Millionen junge Männer hatten infolge von Krieg und Gefangenschaft keine oder nur eine rudimentäre Berufsausbildung erhalten.

Mehrere Millionen Wohnungen waren durch die anglo-amerikanischen Flächenbombardements total zerstört oder beschädigt, ebenso die Verkehrsinfrastruktur und die Energieversorgung. Ein Viertel des Landes - die für die Ernährung und Kohleversorgung wichtigen Ostgebiete - war durch Vertreibung verloren, der am meisten industrialisierte mitteldeutsche Raum war als Teil der SBZ/DDR vom Wiederaufbau praktisch ausgeschlossen, das Saarland stand bis 1957 unter französischer Verwaltung. Deutschland hatte sämtliche Patente und Schutzrechte verloren, ebenso sämtliches öffentliches und einen großen Teil des privaten Auslandsvermögens. Ein Teil der erhalten gebliebenen Industrien wurden demontiert, vor allem in der SBZ, aber auch in den Westzonen. Das zerstörte Westdeutschland - auf das sich ab 1948 das Wirtschaftswunder beschränkte, weil das Wirtschaftssystem der DDR einen Aufschwung nicht zuließ - musste zwischen 1945 und 1948 rund 9 Millionen Vertriebene aufnehmen.

Hinzu kam eine Besatzungspolitik der Westmächte, die bis mindestens 1947 keineswegs die rasche wirtschaftliche Erholung Deutschlands zum Ziele hatte. So blieb der Personenverkehr zwischen den drei Westzonen bis 1948 beschränkt, auch die von Wirtschaftsexperten wie Ludwig Erhard bereits seit Sommer 1945 angemahnte Währungsreform wurde zunächst verweigert.

Es ist diese desaströse Ausgangslage, die das Wirtschaftswunder - auch und gerade in der Wahrnehmung der Zeitgenossen im In- und Ausland - mirakulös erscheinen ließ.

Da die Reichsmark nach dem Krieg weitgehend entwertet war, wurde diese am 21. Juni 1948 durch die Deutsche Mark, in den drei westlichen Besatzungszonen, abgelöst. Diese Währungsreform schaffte die Voraussetzung für eine wirtschaftliche Konsolidierung und ebnete den Weg für den Beitritt zum ERP, auch bekannt unter dem Namen „Marshall-Plan“. Wenige Tage später fand die Übergabe der „Frankfurter Dokumente“ statt. Das 1. Dokument enthielt die Ermächtigung der Regierungschefs, eine Versammlung der elf Landtage einzuberufen, damit eine angemessene Zentralgewalt und Grundrechte ausgearbeitet werden können, um so die deutsche Einheit wieder herzustellen. Das 2. Dokument enthielt die Aufforderung, Änderungen der Ländergrenzen innerhalb der Westzonen vorzuschlagen, und das 3. Dokument enthielt die Forderung, Grundzüge eines künftigen Besatzungsstatus festzulegen. Diese Frankfurter Dokumente stellten die „Geburtsurkunde" der dann 1949 förmlich gegründeten Bundesrepublik Deutschland dar. Somit folgte anschließend eine schrittweise Wiederherstellung der Wirtschafts- und Sozialordnung. 1949 wurde Ludwig Erhard Bundesminister für Wirtschaft und brachte das Konzept der sozialen Marktwirtschaft in die Regierung ein.

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Österreichische Schilling, für viele Inbegriff des Neubeginns und Wirtschaftsaufschwungs

In Österreich verlief die Entwicklung insgesamt ähnlich wie in Deutschland. Nachdem die Reichsmark ziemlich wertlos geworden war, wurde schon 1945 der Österreichische Schilling wieder eingeführt und eine Hartwährungspolitik betrieben. So qualifizierte sich Österreich 1947 für den Marshall-Plan und konnte angeschlagene Industrien mit US-Hilfe schneller wiederaufbauen und modernisieren. Im Jahre 1952 wurde Reinhard Kamitz Finanzminister; er verfolgte zusammen mit Bundeskanzler Julius Raab eine Politik der sozialen Marktwirtschaft (Raab-Kamitz-Kurs).

Soziale Marktwirtschaft

Die Soziale Marktwirtschaft wurde zu Beginn der 50er Jahre zur wirtschafts- und sozialpolitischen Leitidee der Bundesrepublik Deutschland. Wissenschaftler wie Alfred Müller-Armack und Walter Eucken hatten diese Konzeption bereits vor 1945 ausgearbeitet, Ludwig Erhard hat sie mit geprägt, vor allem aber politisch durchgesetzt – gegen massive Widerstände nicht nur der SPD, sondern auch der CDU (vgl. Ahlener Programm)

Die soziale Marktwirtschaft ist ein Mischsystem. Sie ergänzt die freie Marktwirtschaft um Elemente der Staatswirtschaft, dies insbesondere im staatlichen Wettbewerbsschutz sowie in der Umverteilung der erarbeiteten Güter durch das Steuer- und Abgabensystem. Hinzu kamen bereits seit den 1960er Jahren Gesetze und wirtschaftliche Anreize zum Umweltschutz bzw. zu umweltgerechtem Verhalten. Dagegen enthält die soziale Marktwirtschaft kaum Elemente einer Zentralverwaltungswirtschaft. Sie ist vielmehr eine teilweise staatlich gelenkte, sozialen Zielen verpflichtete Marktwirtschaft. Grundprinzip ist die Sicherung der Gewerbe-, Wettbewerbs- und Exportfreiheit auf dem Markt in Verbindung mit sozialem Ausgleich.

Der Staat hat in der sozialen Marktwirtschaft eine starke Stellung, er greift im Interesse der Allgemeinheit und auf der Grundlage von Gesetzen in das Wirtschaftsgeschehen ein und ist ein Akteur der Wirtschaftspolitik. Grundlagen dieses Systems sind das (sozialpflichtige) private Eigentum, die Vertragsfreiheit und die Eigenverantwortung. Zur Verhinderung der Monopolbildung dient, anders als in rein kapitalistischen Systemen, nicht nur der Marktwettbewerb, sondern auch der staatliche Wettbewerbsschutz. Die geistige Grundlage der sozialen Marktwirtschaft ist der Personalismus. Hier wird der Mensch nicht nur als Individuum gesehen, sondern auch als Sozialwesen, und trägt damit Verantwortung für sich und andere. Der Staat hilft nur, wenn man sich selbst nicht mehr helfen kann (Subsidiaritätsprinzip). Die letzte geistige Grundlage der sozialen Marktwirtschaft ist der christliche Glaube und sein Menschenbild.

In Österreich beruht die soziale Marktwirtschaft vor allem auf den Ideen von Julius Raab und Reinhard Kamitz. Einen wichtigen Beitrag leistete die österreichische Sozialpartnerschaft. Sie beruht auf dem Grundkonsens, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer gleichberechtigte Partner sind, und so wurden soziale Konflikte nicht mehr auf der Straße, sondern am Verhandlungstisch ausgetragen. Auf dieser Grundlage beschloss der Nationalrat 1955 das Allgemeine Sozialversicherungsgesetz (ASVG), das für alle unselbstständig Erwerbstätigen galt. 1965 folgte das Bauern-Krankenversicherungsgesetz, 1966 jenes für Gewerblich-Selbständige. 1957 wurde der Mutterschutz und der Karenzurlaub eingeführt. Durch einen Generalkollektivvertrag wurde 1959 die 45-Stunden-Woche vereinbart und 1964 einen dreiwöchiger Mindesturlaub festgelegt.

Der Verlauf des deutschen Wirtschaftswunders

Ein Exportschlager der Nachkriegswirtschaft war der VW-Käfer

1949 begann im Westen Deutschlands ein dynamischer wirtschaftlicher Aufschwung, der ununterbrochen bis 1966 anhielt. Trotz der oben beschriebenen fast verzweifelten Ausgangslage nach dem Kriege waren im Gebiet der späteren Bundesrepublik ca. 80-85 Prozent der Produktionskapazitäten unzerstört geblieben. Auch das Straßen- und Schienennetz war nicht komplett zerstört. Durch zahlreiche Zerstörungen von Brücken und Knotenpunkten war das Verkehrssystem bei Kriegsende jedoch auf einen Bruchteil seiner Kapazität reduziert. Ähnliches galt für die Schifffahrtswege, die durch zerstörte Brücken zunächst vielfach nicht befahrbar waren. Hier kam der Wiederaufbau schon vor der Währungsreform von 1948 gut voran, auch die Enttrümmerung der Städte machte schon bis 1948 schnelle Fortschritte.

Die Währungs- und Wirtschaftsreform machte dem bis dahin verbreiteten Tauschhandel und der höchst ineffizienten Schwarzmarktwirtschaft über Nacht ein Ende. Für eine breite Investitionstätigkeit fehlte es den Unternehmen jedoch zunächst noch an Kapital. Dies änderte sich in den Folgejahren zunächst zögernd, dann durchgreifend. Grundlage war die gute Gewinnentwicklung, der sich anschließende Investitionsboom war zu einem großen Teil selbstfinanziert (= eigen- und innenfinanziert). Damit verbesserte sich auch die bis Anfang der 1950er Jahre überaus prekäre Finanzlage sehr vieler Betriebe.

Trotz äußerst niedriger Löhne und geradezu verzweifelt niedriger Sätze bei Arbeitslosengeld lag die Arbeitslosigkeit Anfang der 1950er Jahre noch bei über 2 Millionen. Sie wurde ab ca. 1952 rasch abgebaut und war schon ab 1955 so niedrig, dass in diesem Jahr erstmals Gastarbeiter angeworben wurden. Parallel mit dem Abbau der Arbeitslosigkeit sank auch die zunächst hohe Auswanderung aus Deutschland. Auch die Renten waren bis zur Rentenreform von 1957 äußerst niedrig, was den Wiederaufbau erleichterte, weil es die Produktionskosten niedrig hielt. Sozialhilfe gab es in den 1950er Jahren übrigens noch nicht.

Deutschland besaß eine große Reserve an Arbeitskräften, darunter Vertriebene aus dem deutschen Osten und Flüchtlinge aus der DDR. Letztere, die so genannten Übersiedler, waren für das Wirtschaftswunder von besonderer Bedeutung, denn sie waren weit überdurchschnittlich qualifiziert: Seit der Gründung der DDR 1949 bis zum Mauerbau von 1961 verließen rund 2,7 Millionen Menschen die DDR, darunter fast die gesamte (alte) Oberschicht und ein großer Teil der oberen Mittelschicht. Mit diesem brain-drain verließen Hunderttausende Akademiker, Unternehmer, Freiberufler und Selbständige die DDR. Obwohl sie ihr Eigentum zurücklassen mussten, machten sie durch ihre Tüchtigkeit den Osten ärmer und den Westen reicher; die Nachwirkungen dauern bis heute an.

Der Marshall-Plan stellte ab Ende 1947 gewisse Finanzmittel zur Verfügung, die jedoch überwiegend als Kredite und nur zu einem kleinen Teil als Zuschüsse gewährt wurden. Ein wichtiger Faktor war der Anstieg des Exports, verursacht durch sehr geringe Produktionskosten in Deutschland und zeitweilig verstärkt durch den Korea-Boom in den USA (1950/51).

Es entwickelte sich ein dynamisches und stetiges Exportwachstum. 1960 war der deutsche Export bereits 4,5-mal (!) so hoch wie 1950, das Bruttosozialprodukt hatte sich verdoppelt. Das Kapital der Unternehmen mehrte sich, die Investitionen wuchsen. Der deutsche Anteil an Weltexporten war von sechs auf zehn Prozent gestiegen.

Die deutsche Industrie behielt auch nach dem Korea-Boom gegenüber dem Ausland einen Kosten- und damit Preisvorsprung. Deutschland nutzte eine europäische "Dollarlücke" und die Vorteile der Europäischen Zahlungsunion. Außerdem konnte die deutsche Industrie rasch wieder moderne Investitions- und Gebrauchsgüter aus dem Maschinen- und Fahrzeugbau sowie der Elektroindustrie liefern.

Diese Ergiebigkeit der Faktoren Kapital und Arbeit mehrten sich. Die Investitionen stiegen von 1952 bis 1960 um 120 Prozent und das Bruttosozialprodukt nahm um 80 Prozent zu. Die 1952 beginnende Wiedergutmachung an den Staat Israel und das jüdische Volk (von Adenauer maßgeblich betrieben und gegen den Widerstand der FDP durchgesetzt) wurde mit ihren Milliardenzahlungen zunächst zu einer Belastung des Aufschwungs. Allerdings ebnete die Wiedergutmachung nicht nur den Weg für die Rückkehr Deutschlands in die Völkergemeinschaft, sondern sie ermöglichte auch das von dem Bankier Hermann Josef Abs ausgehandelte Londoner Schuldenabkommen von 1953. Mit seiner für Deutschland relativ großzügigen Regelung der Altschulden, die annähernd halbiert wurden, wurde es zu einer wichtigen Grundlage für den weiteren Aufstieg. Bereits im Jahre 1954 erreichte der Wohnungsbestand in der Bundesrepublik wieder den Umfang des Bestands des letzten Friedensjahres 1938 im gleichen Gebiet. Dieses Tempo des Wiederaufbaus übertraf bei weitem die kühnsten Erwartungen, nach Kriegsende hatten Experten den Zeitbedarf für den Wiederaufbau der Städte noch auf 40 bis 50 Jahre geschätzt.

Ab 1953 standen Kapazitätserweiterungen im Vordergrund der Investitionen, zuvor mussten Kriegsschäden behoben und Investitionsrückstände aus den Kriegsjahren aufgeholt werden. Auch die Umstellung auf zivile Produktionen band zunächst erhebliche Teile der extrem knappen Investitionsmittel. Trotz dieser Defizite im Kapitalstock der bundesdeutschen Volkswirtschaft gelang bald die Aneignung modernster Technologien, und der Aufbau einer international wettbewerbsfähigen industriellen Forschung und Entwicklung. Dass die umfangreichen Zerstörungen die Modernisierung des Kapitalstocks begünstigt hätten, gehört hingegen zu den Legenden des Wiederaufbaus.

Das Jahr 1955 wurde zum wirtschaftlich erfolgreichsten Jahr der deutschen Geschichte. Die Wirtschaft wuchs real um 10,5 Prozent, die Reallöhne stiegen ebenfalls um 10 Prozent, der Kfz-Bestand vergrößerte sich in diesem einen Jahr um 19 Prozent. Noch 1948 tuckerten Automobile mit Holzvergaser über die leeren Autobahnen, jetzt bildeten sich in der Urlaubszeit die ersten Staus. Der bis dahin nur vereinzelt verwendete Begriff "Wirtschaftswunder" wurde 1955 zum geflügelten Wort. Es war zugleich das Jahr in dem die Bundesrepublik ihre Souveränität weitestgehend zurückerhielt - am 5. Mai 1955, bewusst auf den Tag genau 10 Jahre nach der Teilkapitulation der deutschen Wehrmacht gegenüber den Westalliierten.

Der Westen Deutschlands näherte sich im Laufe der 1950er Jahre dem US-Standard. Die deutsche Fahrzeugindustrie beispielsweise konnte ihre Produktion zwischen 1950 und 1960 verfünffachen. Industrie und Dienstleister konnten innerhalb weniger Jahre zwei Millionen Arbeitslose absorbieren. 2,7 Millionen Menschen, die aus der DDR zuwanderten, bekamen ebenfalls Arbeit. Seit den späten 50er Jahren herrschte Vollbeschäftigung, die Arbeitslosenquote lag unter zwei Prozent. Nach heutigem Verständnis war mit einer Quote von ca. 4-5 Prozent sogar schon 1955/56 Vollbeschäftigung erreicht. In der zweiten Hälfte der 50er Jahre konnte die Bundesrepublik die wirtschaftlichen Lasten der Wiederbewaffnung bereits ziemlich problemlos schultern. In dieser Zeit begann die Deutsche Bundesbank wegen anhaltender Exportüberschüsse hohe Devisenreserven anzuhäufen und die Goldbestände aufzubauen, die sie noch heute besitzt. Auslandsverbindlichkeiten wurden vorfristig getilgt, die D-Mark mehrfach aufgewertet. Der Bundeshaushalt war zwischen 1949 und 1968 fast völlig ausgeglichen, die Staatsverschuldung nahm - gemessen am Sozialprodukt - rapide ab.

Ab Anfang der 1960er Jahre näherte sich der Investitionsboom langsam seinem Ende. Die Kapazitäten konnten die Nachfrage befriedigen, der technische Rückstand war aufgeholt. Die Wirtschaft wuchs jedoch bis einschließlich 1973 weiterhin sehr dynamisch, nur unterbrochen von der leichten Rezession des Jahres 1967.

Der Verlauf des kleinen österreichischen Wirtschaftswunders

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Das Linz-Donawitz-Verfahren, Symbol des österreichischen Wirtschaftswunders

In Österreich waren Industrie und Infrastruktur im Zweiten Weltkrieg weit weniger in Mitleidenschaft gezogen worden als in Deutschland. Von 1945 bis 1950 wurden die Leitbetriebe (Austria Metall AG, Voestalpine, Steyr-Puch) verstaatlicht und auch mit Hilfe von Steuergeldern und US-amerikanischer Investitionen wieder aufgebaut.

Steyr-Puch Haflinger, österreichischer Exportschlager

Ein hohes Maß an sozialem Frieden förderte die weiteren Investitionen in österreichischen Unternehmen; deutsche Unternehmen bauten eine Vielzahl von Tochterfirmen in Österreich auf, was die Arbeitslosenrate wie in Deutschland auf unter 3 Prozent drückte. Millardenprojekte, wie den Aufbau des Speicherkraftwerkes Kaprun oder der Ausbau der Westautobahn (Salzburg-Wien) wurden in Angriff genommen und schufen wiederum Arbeitsplätze. 1954 erfanden Ingenieure der Voestalpine das sogenannte Linz-Donawitz-Verfahren, das weltweit die Stahlproduktion revolutionierte. In Steyr-Puch wurden 1959 und 1965 neue Geländefahrzeuge konstruiert, der so genannten Haflinger und der Pinzgauer, die ein Exportschlager wurden. Erst Mitte der 1960er Jahre kam die hohe Dynamik langsam zum erliegen, erste Krisen der verstaatlichten Unternehmen und ein Nachlassen im Zuwachs der Kaufkraft setzen ein.

Ursachen des Wirtschaftswunders

Mit dem 1948 aufgelegten European Recovery Program setzte in vielen Ländern Europas wirtschaftliches Wachstum ein, was zu einem bis dato unerreichten Wohlstand breiter Bevölkerungsschichten führte. Erheblich wichtiger als die monetäre Summe, die im Rahmen des sogenannten Marshallplanes letzten Endes nach Deutschland floss, war die Neuordnung der Wirtschaftsbeziehungen der Europäischen Staaten untereinander und zu den USA.

Eine unterstützende, wenn auch nicht ausschlaggebende Rolle spielte der Kapitalzufluss durch ausländische Rohstoff-, Halbwaren- und Nahrungsmittelproduzenten. Dadurch konnte der technische Rückstand in wichtigen Branchen schneller aufgeholt werden.

Ein weiterer wichtiger Faktor war die Preisstabilität in Deutschland und Österreich in dem gesamten Zeitraum. Dies lag in erster Linie an der Geldpolitik der deutschen Bundesbank und der Oesterreichischen Nationalbank. Hinzu kamen die große Haushaltsdisziplin der öffentlichen Hand und die moderaten Tarifabschlüsse. Letztere ermöglichten den raschen Abbau der Arbeitslosigkeit. Im Rückblick war die Lohnpolitik der Gewerkschaften ab etwa Mitte/Ende der fünfziger Jahre in Deutschland jedoch zu zurückhaltend. Die Folge war ein verlangsamter Produktivitätsanstieg, eine gemessen am Stand der Technik zu arbeitsintensive Produktion und letztlich anhaltender Arbeitskräftemangel. Auf diese Überbeschäftigung wurde merkwüdigerweise nicht mit Lohnerhöhungen, sondern - vor allem ab Mitte der 1960er Jahre - mit zunehmender Ausländerbeschäftigung reagiert. Erst die massiven Lohnerhöhungen der Jahre 1969 bis 1973 führten ab dem Jahre 1974 zum dauerhaften Ende der Überbeschäftigung in Deutschland.

Die hohe Qualität deutscher und österreichischer Güter bei kurzen Lieferfristen führten zu großen Exporterfolgen. Die umfangreiche Exportnachfrage führte zur weiteren Modernisierung von Produktionsverfahren und zum weiteren Ausbau der Kapazitäten. Ein weiterer Grund des Wirtschaftswunders war die stark wettbewerbliche Wirtschaftsordnung in beiden Ländern. Durch die konsequente Marktwirtschaft und die damit verbundenen Eigenverantwortlichkeit der Bevölkerung wurde deren Eigeninitiative gefördert und angesichts sehr niedriger Sozialleistungen geradezu erzwungen.

Zu nennen ist schließlich das österreichische Modell der Sozialpartnerschaft, das den sozialen Frieden fördete und zusätzliches Vertrauen brachte. Ähnliches wurde ab den späten 1960er Jahren auch in Deutschland eingeführt ("konzertierte Aktion"). Eine Ankurbelung der Kaufkraft war damit jedoch in beiden Ländern nicht verbunden.

Probleme und Kritik

Das Wirtschaftswunder führte, wie fast jeder dynamische wirtschaftliche Aufstieg der Geschichte, zu einem explosionsartigen Wertzuwachs von Immobilien und anderen Sachwerten, insbesondere Aktien und anderen Unternehmensbeteiligungen. Die Folge war eine wenig ausgeglichene Vermögensverteilung, wobei diese Schieflage zwischen den späten 1950er Jahren und etwa 1970 besonders groß war (der Höhepunkt des Börsenbooms in Deutschland war 1961, die Immobilienwerte stiegen fast kontinuierlich weiter).

Zwar stieg gemäß dem legendären Motto Ludwig Erhards "Wohlstand für alle" auch der Wohlstand der breiten Schichten deutlich auf nie zuvor gekannte Höhen. Die Vermögenden profitierten jedoch durch den Wertzuwachs ihres Eigentums noch stärker, was nach Lage der Dinge die einheimische westdeutsche Bevölkerung gegenüber den Menschen in und aus der DDR und erst recht gegenüber den Vertriebenen erheblich begünstigte. Diese Schieflage wurde durch den so genannten Lastenausgleich, einer gewissen Umverteilung zugunsten der Vertriebenen, Ausgebombten und Flüchtlinge aus der DDR, zwar gemildert, aber keineswegs ausgeglichen.

Begleitet war der massive Wertzuwachs der Sachvermögen von hohen Realzinsen. Gegenüber dem "säkularen" (nach Ansatz mancher Ökonomen fast naturgesetzlichen) Durchschnittswert von ca. 4 Prozent betrug der Realzinssatz über lange Phasen des Wirtschaftswunders rund 6 Prozent. Hinter dieser vermeintlich geringen Differenz verbergen sich - gemessen an den Arbeitseinkünften - enorm hohe Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen sowie die erwähnte Explosion der Immobilienpreise. (Die Preiseentwicklung sicherer Vermögenswerte, namentlich von Immobilien, Aktien und Rohstoffen, korreliert langfristig eng positiv mit dem Realzinssatz, denn die Möglichkeit des Wechsels der Anlageform führt zu einer Angleichung der Wertentwicklung von Sach- und Finanzanlageobjekten.)

Jenseits der Veteilungsproblematik führte der breite Aufschwung außerdem zu einer Materialisierung und Ökonomisierung des Denkens und zu einer Art Technokratisierung, die die junge Generation der 68er später kritisierte.

Außerdem wurden ökologische Anliegen in der Zeit des Wirtschaftswunders grob vernachlässigt. Bis weit in die sechziger Jahre hinein, als die materielle Not längst überwunden war, wurde Abwasser ungeklärt in Seen und Flüsse eingeleitet, Haus- und Industriemüll auf wilde Müllkippen gebracht und industrielle Abgase nicht einmal entstaubt, geschweige denn entschwefelt und entstickt. Die dazu erforderlichen Technologien waren teilweise seit Jahren vorhanden, oder sie hätten bei entsprechendem Willen rasch entwickelt werden können.


Literatur

  • Ludger Lindlar: Das mißverstandene Wirtschaftswunder. Westdeutschland und die westeuropäische Nachkriegsprosperität. Schriften zur angewandten Wirtschaftsforschung 77. Mohr-Siebeck-Verlag Tübingen 1985. ISBN 3-16-146693-4
  • Manfred Julius Müller: Das neue Wirtschaftswunder. Die Entmachtung des globalen Dumpingsystems, 2005, ISBN 3833436492
  • Schleiter, Ludwig Wilhelm; Von der Vitalität der Nationen. Ein Manifest für Freiheit und Demokratie; LP-Verlag 2004. ISBN 3-00-015133-8
  • Alexander Jung: Plötzlich waren die Regale voll. Der Spiegel 52/2005, S. 48 - 53 (2005), ISSN 0038-7452
  • Rudolf Großkopff: Unsere 50er Jahre. Wie wir wurden, was wir sind - Eichborn Verlag, 2005. ISBN 3-8218-5620-3
  • Reinhard Kamitz: Wegbereiter des Wohlstand. Von Fritz Diwok und Hildegard Koller, Verlag Fritz Molden, 1977.