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Arbeitnehmerfreizügigkeit

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Arbeitnehmerfreizügigkeit (Artikel 39 EGV)

Art. 39 EGV soll den abhängig Beschäftigten die Möglichkeit der Wahl ihres Arbeitsplatzes im gesamten Gemeinschaftsgebiet ermöglichen. Sie ist unmittelbar anwendbar und gewährt das Recht auf Aufnahme einer Erwerbstätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat und in diesem Zusammenhang zugleich ein Einreise- und Aufenthaltsrecht. Im Übrigen wurde die Freizügigkeit der Arbeitnehmer durch Sekundärrecht ausgestaltet. Grundlegend sind die VO 1612/68 des Rates über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft und VO 1408/71 des Rates über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit der Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörigen, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern.


I. Anwendungsbereich

1. persönlich

Staatsangehörige der Mitgliedstaaten; Drittstaatsangehörige können durch Abkommen ähnlich geschützt sein, oder als Familienangehörige Rechte von EU-Bürgern ableiten.

2. sachlich

- Arbeitnehmer ist ein Begriff des Gemeinschaftsrechts, der weit auszulegen ist: Arbeitnehmer ist jeder, der während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung wirtschaftliche Leistungen gegen Entgelt erbringt (Synallagma); - Bereichsausnahme Art. 39 Abs. 4: keine Anwendung auf die Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung. Dies ist ein gemeinschaftsrechtlicher Begriff, der eng auszulegen ist. Funktionelle Betrachtungsweise: Ausübung hoheitlicher Befugnisse und Wahrnehmung solcher Aufgaben, die auf die Wahrung der allgemeinen Belange des Staates gerichtet sind und deshalb ein Verhältnis besonderer Verbundenheit des jeweiligen Stelleninhabers voraussetzen.

II. Gewährleistungsinhalt

- freier Zugang zu einer Beschäftigung: Einreise- und Aufenthaltsrecht und das Recht auf Gleichbehandlung bei der Stellenbewerbung; - Verbleiberecht nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses, - Grenzüberschreitender Sachverhalt: Schutz sowohl vor Maßnahmen eines fremden Mitgliedstaates wie auch des eigenen Heimatstaates, der seinerseits die grenzüberschreitende Betätigung nicht behindern darf.

1. Diskriminierungsverbot

Wortlaut des Art. 39 verbietet direkte Diskriminierungen (Differenzierungskriterium Staatsangehörigkeit) und indirekte Diskriminierungen (neutrales Differenzierungskriterium, welches sich als Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit auswirkt wie zum Beispiel Sprachkenntnisse)

2. Beschränkungsverbot

Die Rechtsprechung hat die AN-Freizügigkeit zu einem umfassenden Beschränkungsverbot ausgebaut (Bosman-Entscheidung (C-415/93), Graf (C-190/98)); es ist jede nationale Regelung verboten, die geeignet ist, die Freizügigkeit der Arbeitnehmer zu beeinträchtigen, auch wenn sie unabhängig von der Staatsangehörigkeit der betroffenen Arbeitnehmer anwendbar ist (Parallele zur Dassonville-Rechtsprechung bei der Warenverkehrsfreiheit, Argument: Strukturgleichheit der Grundfreiheiten). - immanente Schranken des Tatbestands bei Beschränkungen (Graf): nur Maßnahmen, die den Zugang zum Beruf behindern, gelten als Beschränkung; Vorschriften, die den rechtlichen Rahmen für die Ausübung der Tätigkeit im Aufnahmemitgliedstaat festlegen, sind nicht am Beschränkungsverbot zu messen (Parallele zur Keck-Rechtsprechung bei der Warenverkehrsfreiheit)

III. Normadressaten

1. Mitgliedstaaten und Gemeinschaft als Normadressaten

2. Private als Normadressaten

a) kollektive Regelungen durch Verbände (Bosman-Entscheidung (C-415/93))

- bei diskriminierenden und beschränkenden Regelungen; kollektive Regelungen können tendenziell die gleiche, einen Markt für Dritte verschließende Wirkung entfalten wie staatliche Maßnahmen; Grundsatz der einheitlichen Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts wäre verletzt, wenn die gleichen Vorschriften in den Mitgliedstaaten unterschiedlich geprüft werden, je nach dem, ob sie staatlichen oder privaten Ursprungs sind.

b) Private (Angonese-Urteil (C-281/98))

- bei diskriminierenden Regelungen (z.B. Nachweis über Sprachkenntnisse); Begründung des EuGH: Wortlaut des Art. 39; Gleichlauf mit Art. 12 EG und Art. 141 EG; „Effet utile“ und einheitliche Anwendbarkeit der Gemeinschaftsrechts; Ablehnung in der Literatur: Grundfreiheiten richten sich an die Mitgliedstaaten; Rechtfertigungsgründe sind auf Hoheitsträger zugeschnitten und passen nicht auf Private (s.u.); Ziel lässt sich auch über mittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten erreichen (denn aus Art. 10 EGV folgt eine Schutzpflicht des Staates, d.h. der Staat ist verpflichtet, sein Privatrecht so auszugestalten, dass Beschränkungen von Grundfreiheiten nicht mehr möglich sind).

IV. Rechtfertigung von Eingriffen

1. kodifizierte Rechtfertigungsgründe: Art. 39 Abs. 3

- Beschränkungen aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit. Die Vorschrift ist eng auszulegen.

2. von der Rechtsprechung entwickelte Rechtfertigungsgründe

Rechtfertigung aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses bei beschränkenden Regelungen (Parallele zur Cassis de Dijon-Rechtsprechung bei der Warenverkehrsfreiheit); umstritten ist, ob auch diskriminierende Maßnahmen aus solchen Gründen gerechtfertigt werden können (überwiegende Meinung: auch mittelbare Diskriminierungen, weil legitime Ziele der Grund sein können) Rechtfertigung für Private: Rechtfertigungsgründe sind auf Hoheitsträger zugeschnitten und passen nicht auf Private; privates Handeln dient der Verwirklichung von Individualinteressen, die typischerweise wirtschaftlich geprägt sind; rechtfertigen lässt sich ein Eingriff jedoch nur aus im Allgemeininteresse liegenden Gründen nichtwirtschaftlicher Art. Fraglich ist, ob hinter dem Privatinteresse auch ein Allgemeininteresse stehen muss.

V. Schranken

1. Grundsatz der Verhältnismäßigkeit

Die Maßnahme muss geeignet, erforderlich und angemessen sein.

2. Gemeinschaftsgrundrechte

In ständiger Rechtsprechung sieht der EuGH die Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte gebunden, wenn sie im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts tätig sind, u.a. sich auf Ausnahmebestimmungen zu den Grundfreiheiten berufen (umstritten); diese weite Anwendung wird durch Art. 51 Abs. 1 der Grundrechtecharta (künftig Art. 111 Abs. 1 Europäische Verfassung) eingeschränkt. Die Mitgliedstaaten sind nur noch bei Durchführung des Gemeinschaftsrecht an die Gemeinschaftsgrundrechte gebunden.